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6 Die Sigurdsbude
ОглавлениеIn einer gewissen Zeit nach dem Tod meiner Mutter hatte ich mein Leben aus dem Griff verloren. Damit Ordnung und Fleiß wieder hergestellt werden konnten, mussten vorübergehend andere das Steuer übernehmen. Das kommt in den besten Familien vor. Das Dasein wächst einem über den Kopf. Man endet im Chaos.
Es ist dieser Zustand böser Anarchie, an den ich jetzt denke, als ich die Tür der Sigurdsbude öffne. Hinter mir: der herbstliche Garten mit dem melancholischen Zwitschern von Meise und Zeisig und dem Gurgeln in den Dachrinnen des Hauses. Vorn: ein Raum, der stark an meinen eigenen Kleiderschrank in der erwähnten Periode erinnert. Eine massive Wand aus Gegenständen. Eine Art Installation einer gequälten Yoko Ono. In dem kompakten Chaos kann ich ganze Möbel, Teile von Möbeln und Möbeltrümmer sehen, Ordner und Papiere, Stapel von Zeitungen und Zeitschriften, Pappkartons und Schuhkartons, Vorhänge und Teppiche, alte Farbeimer, geöffnete Zementsäcke. Bücher. Spielzeug. Werkzeug. Das alles und unendlich viel mehr. Wie gesagt: eine Wand. Wo die Hohlräume, die entstanden sind, wenn größere Gegenstände aufeinandergestapelt wurden, nach und nach von anderen und kleineren gefüllt worden sind. Im Winkelraum zwischen einer zerbrochenen Lampe und dem Türrahmen: kleine Medizinflaschen, hineingeschoben, bis kein Platz mehr war. Zwischen den Fächern eines zerbrochenen Regals: Konservendosen voller Schrauben, Nägel und Maschinenteile, mit peinlicher Genauigkeit nach Höhe und Breite gestapelt. Und überall, in allen kleineren Ritzen und Hohlräumen: Papierservietten in allen Regenbogenfarben, zusammengefaltet und hineingeschoben, ein Flickenteppich des Wahnsinns aus diesem und jenem und dem Teufel und seiner Großmutter, so etwas habe ich noch nie gesehen, aber das habe ich eben doch. In meinem eigenen Schlafzimmer, in der guten alten Blockwohnung, in der Mutter und ich in Alltag und Kampf zusammengelebt haben.
Wo es dann mit mir ein böses Ende nahm.
Ist es wirklich erst eine Stunde her, seit ich beschlossen habe, dass der Gang zum Briefkasten das Projekt für diesen Tag sein sollte? Vorbei an Frau Frimann-Clausens Küchenfenster?
Und jetzt das. Plötzlich wirkt alles so fremd. Wie etwas Gigantisches aus einer Parallelwirklichkeit. Ich fische das Mobiltelefon aus der Tasche und weiche zurück, bis die Türöffnung der Sigurdsbude das gesamte Display füllt. Knipse. Einmal, zweimal, dreimal, vielmal. Doch. Das hier ist Kunst. Das hier ist kranke Kunst. Das kann ich vergrößern und zur Herbstausstellung schicken.
Aber dann schicke ich es lieber an Annelore Frimann-Clausen.
Mit dem Text: Alles wegwerfen? Nur das Werkzeug behalten?
Ich brauche eine Bestätigung. Am liebsten schriftlich, per SMS.
Ich habe mir schon eine azurblaue Vase und eine Ukulele ohne Saiten ausgesucht.
Ich gehe ein bisschen in den Garten. Es ist so ein schöner Herbsttag, mit hohem Himmel und Laub in allen Farben. Säuerlicher Geruch von feuchtem Gras und Fallobst. Wann habe ich zuletzt so auf einen Anruf gewartet? Oder eine SMS? Ich kann mich nicht erinnern. Es muss Jahre her sein. Es muss in einem anderen Leben gewesen sein. Ich lasse die Tür zu meiner Wohnung sperrangelweit offenstehen. Schon liebe ich diese Tür. Es ist eine Tür von der Sorte, die ich bisher nur im Film und in Wohnzeitschriften gesehen habe. Die Glastür, die direkt in den Garten hinausführt. Ich fülle einen großen Becher mit Tee aus der Thermoskanne und nehme ihn mit hinaus. Ich bin König und Kaiser und Herr des Gartens! Ich nippe an dem würzigen Getränk, während ich das Telefon in der linken Hand halte.
Es klingelt, als ich mir eine einzelne Johannisbeere von einem fast geplünderten Strauch unten am Zaun sichere.
Sie ist es.
»Hach, das ist mir jetzt aber wirklich peinlich.«
Ich: »Peinlich?«
»Ja, mir war gar nicht klar … ich wusste nicht, dass es so weit gekommen ist. Ich hätte natürlich nachsehen müssen, ehe du gekommen bist.«
Hier schalte ich mich mit ruhiger Stimme ein und versichere ihr, dass es hier im Fiolvei 5 rein gar nichts gibt, das ihr peinlich sein müsste. (Abgesehen von dem Schimmelpilz, der im Schlafzimmer und im Bad auf dem Vormarsch ist, aber den behalte ich bis auf Weiteres für mich.) »Ich habe mich jetzt nur gemeldet, weil ich wissen wollte, ob ich wirklich alles wegwerfen soll, das nicht …«
»Ja. Sigurds Werkzeug will ich behalten. Und die Hobelbank. Den Rest kannst du entsorgen. Aber ich hab das wirklich nicht so gemeint, dass du dich jetzt gleich darüber hermachen solltest. Wenn ich gewusst hätte, wie es da unten aussieht … Ja, das ist eine lange Geschichte. Das verstehst du sicher. Es hat mit deinem Vormieter zu tun. Aber ich will dich damit jetzt nicht belästigen. Wie gesagt. Es tut mir leid.«
Wir machen ab, dass ich eine Grobsortierung vornehmen soll. Dann wird sie jemanden »auf den Schuppen ansetzen«, was wohl bedeutet, dass jemand aus Polen die größten Teile holen wird, wenn ich meinen Teil der Arbeit erledigt habe.
Sie will mir einen Tausender geben.
Ich lehne höflich ab.
Sie besteht darauf.
Ich lehne noch einmal ab, aber dann bedanke ich mich ganz schnell, damit ihr die Sache nicht noch peinlicher wird.
Wir beenden das Gespräch.
Ich renne auf der Stelle und klatsche in die Hände, aber nur ganz kurz, weil ich über die Nachbarschaft hier oben weniger als nichts weiß.
Phantasien. Freier Flug von Spiel und internen Scherzen, ein unschätzbarer Trost im Alltag, das ist meine Stärke, meine geheime Waffe. Die glatte intellektuelle Fassade zu bewahren, das nachsichtige Lächeln, die gehobene Augenbraue – und zugleich die jungenhaften Einfälle im tiefsten Herzen zu pflegen, der Umwelt verborgen. Auf diese Weise wird ein schnelles Mittagessen in dem zubereitet, was jetzt als Bistro der Sockelwohnung erscheint; spielend leicht von einem Koch aus Kroatien, es gibt eine feingehackte rote Zwiebel und eine reife Avocado, es gibt winzige Würfel aus mittelaltem Gouda, vier Kapern und ein Eigelb, alles angerichtet auf einem gebratenen Stück Brot, in einem Bett aus zerlassener Margarine. Und in dem Moment, in dem der kroatische Koch den Teller auf die Platte des blauen Tisches schiebt – da lässt man sich selbst am Tisch nieder und bedankt sich für die Einladung. Hebt Messer und Gabel und nickt dem Abgesandten der Fernsehnachrichten wohlwollend zu. Doch, so ist es. In Grefsen in Oslo wurde ein historischer Fund gemacht, und der Unterzeichnete hat alles ausgegraben, das trug sich heute Vormittag zu, und natürlich ist das Kulturministerium bereits informiert worden. Nein. Bis auf Weiteres ist die Fundstätte markiert und abgesperrt. Jeglicher Verkehr in der Umgebung ist streng verboten. Was? Ja, auch das trifft zu. Es handelt sich um eine komprimierte Masse von Objekten unterschiedlicher Art, Konsistenz, Farbe und Funktion.
Es hat mit deinem Vormieter zu tun.
Ach ja? Ich habe ja schon angenommen, dass es sich um ein männliches Wesen handelt. Jetzt verstehe ich auch, dass hier offenbar eine Art Geisteskrankheit vorliegt. Eine andere Möglichkeit, die sich durchaus nicht ganz ausschließen lässt, ist, dass Annelore ihm die Schuld zuschiebt. Wozu sie ja andererseits auch sehr gute Gründe haben kann.
Mir kann das ja egal sein, als ich mir nun ihren leuchtenden Tausender vor mein inneres Auge rufe. Tausend Kronen, um eine überfüllte Bude auszuräumen! Das ist phantastisch. Vor allem, da ich schon feststellen konnte, dass sich einige dieser Gegenstände problemlos verkaufen lassen. Die azurblaue Mingvase, zum Beispiel. Die wird nicht für einen oder zwei Zehner verschleudert. Ein Bonuspunkt an dieser ohnehin schon positiv geladenen Situation ist natürlich, dass mir der verheißene Tausender wichtige Informationen über meine neue Vorgesetzte hier im Hause vermittelt. Sie hat ein lockeres Verhältnis zum Geld. Ist absolut kein Geizkragen. Diese Gewissheit gibt mir ein großes und feines Gefühl von Freiheit. Ich runde die Mahlzeit mit einem Glas eiskalter Milch ab und kehre zum Tatort zurück. Fotografiere jetzt nicht nur die Türöffnung, sondern auch die gesamte Sigurdsbude. Sowie den unteren Teil des Gartens. Dann Selfies unterschiedlicher Art mit unterschiedlicher Miene. Es ist deutlich zu sehen, dass es ein schöner, klarer Tag ist. Dass das Leben lächelt – und ich lächele zurück.
Strategie? Einen Gegenstand nach dem anderen. Bewerten. Sortieren. Fast kann ich hören, wie mein Gehirn sich von Poet und Alltagsphilosoph zu einer Mischung aus Ermittler, Archäologe und Handelsreisendem umprogrammiert. Auch dies Rollen, für die ich geboren bin. Die mir in den Genen liegen.
»Polen« wird unten am Zaun zum Nachbargrundstück angelegt, über das ich bis auf Weiteres nichts weiß. Ein grau gestrichener Zaun, na gut. Hier rolle ich eine Viertelrolle Teerpappe aus, dann folgen der von Feuchtigkeit zerstörte Zementsack, die Eimer mit vertrocknetem Lack und Farbe sowie Badezimmerfliesen mit Sprüngen, zerbrochene Pinsel und Malerrollen und zum Schluss: eine harsch nach Katzenpisse stinkende Decke. Alles, was keinen Wert hat und was nicht verbrannt werden kann. Denn das sehe ich ja. Dass ein Teil dieser Wrackstücke zu Futter und Nahrung der Flammen werden kann. Es gibt keinen Grund, den Polen irgendetwas zu missgönnen, auch nicht litauischen oder rumänischen Tagelöhnern, aber es hat wirklich keinen Sinn, das, was hier vor Ort verbrannt werden kann, zu einem Feuer an irgendeinem anderen Ort zu schaffen. So sehen ich und Frederic Hauge das jedenfalls. Ein Feuer, genauer gesagt, das Material zu einem Feuer, wird jetzt auf der Nordseite der Sigurdsbude aufgeschichtet. Hier werden zerbrochene Möbel gelagert (ein Tisch, und ein Sessel, es ist leicht, die heftige Wut zu erahnen, der diese Möbel ausgesetzt waren, und ich bekomme eine leichte Gänsehaut bei der Vorstellung, dass ich jetzt in dem Bett schlafe, das einmal das Seine war.)
Ganz bewusst gehe ich langsam vor. Es soll keine zweite Bewertungsrunde geben. Ich werde mich auch nicht fragen, ob etwas weggeworfen oder verbrannt worden ist, von dem ich oder andere noch irgendeinen Nutzen haben könnten.
Es geht um das Hier und Jetzt. Es geht um mich und die Objekte.
Papier ist eine Sache für sich. Es liegt in meiner Natur, einen schützenden Ring um jegliches Papier zu schlagen, das bedruckt oder beschrieben, gezeichnet oder bemalt ist. Bücher sind heilig. Ich finde Kartons und Tüten mit alten Zeitungen und Illustrierten, ich kann jetzt beobachtet werden (von Amsel und Star, vielleicht sogar vom Nachbarn), wie ich zwischen Bude und Sockelwohnung hin- und herlaufe, alles muss ins Haus, um danach sorgfältig durchgesehen zu werden, jubelnd verheiße ich mir einen herrlichen Abend und eine glorreiche Nacht, denn es ist doch klar, dass sich in Kies Gold verstecken kann. Und die Zeitungen? Von welchen Jahrgängen ist hier die Rede? Der Archivar in mir zittert vor Spannung und Freude.
Ziemlich bald sehe ich auch Gegenstände, die mich stutzen und an den geistigen Fähigkeiten meiner Vermieterin zweifeln lassen. Wieder und wieder höre ich in Gedanken ihre Stimme. Alles muss weggeworfen werden, alles muss weggeschafft werden, absolut alles, was nicht zu Sigurds heiligen Gerätschaften gezählt werden kann. Die ich zwar ebenfalls finde, aber nicht in besonders großer Menge. Zwei alte (altmodische) Hobel, vermutlich Erbstücke. Eine abgenutzte Bogensäge. Eine verrostete Stichsäge. Einige Hämmer, ein Holzklotz und eine Axt. Kaum genug Werkzeug, um diesen Schuppen zu bauen. Dann hat er sich vielleicht den Rest geliehen, denke ich. Oder er hat Bohrer und Winkelsäge mit ins Grab genommen.
Aber was ist mit dem alten Bambino-Plattenspieler und dem Karton mit den Platten? Polen? Müllhalde? Wie unsensibel ist eigentlich meine Vermieterin? Kann sie sich nicht einmal an die gemütlichen Stunden mit dem Bambino erinnern? Haben die ihr nichts bedeutet? Und hat sie vergessen, dass ganz hinten an der Wand mehrere Meter guter alter IKEA-Regale stehen? Litauen? Flammenfutter?
Nie im Leben! Die nehme ich natürlich in meine Obhut, zusammen mit Vasen (schönen und hässlichen), zwei Gemälden von Fjord und Fels sowie einem einer busenschönen Sennerin (beide signiert von Onkel Ole, dem Hüter der Silbertanne).
Und einer Menge anderer Dinge.
(Ist ein Taschenmesser Werkzeug? Ich lege es beiseite und beschließe, es mir anzueignen, falls meine Vermieterin nicht danach fragt).
Das defekte Fahrrad mit den leeren Felgen? Polen.
Der ebenso ramponierte Kinderwagen? Litauen.
Am Ende gibt es in der Sigurdsbude nur noch die alte abgenutzte Hobelbank unter dem Fenster und die kleine Sammlung von verrostetem und ungewarteten Werkzeug; ich verspreche, mir alle Mühe zu geben, um demnächst dann alles instandzusetzen.
Und die ganze Zeit fotografiere und dokumentiere ich alles, was mir unterkommt, ich will natürlich einen eigenen Ordner namens »Sigurdsbude« einrichten, mir steht eine lange Nacht bevor, das habe ich inzwischen ja begriffen.
Abends brate ich zwei Koteletts mit Zwiebeln und verzehre sie mit Brokkolisträußchen sowie drei mehligen Kartoffeln.
Gut!
Draußen ist es noch hell. Noch immer dieser säuerliche Herbstgeruch, nach feuchtem Gras und Fallobst. Annelore Frimann-Clausen ist noch nicht nach Hause gekommen, oder sie liegt dort oben im Dunkeln auf der Lauer. Ich laufe zwischen den unterschiedlichen Pyramiden von ausgegrabenem Material hin und her. Wiege ein Stuhlbein in der Hand. Fahre mit einem Finger über die Bruchstelle in einer angestoßenen Keramikschüssel. Eine feine Unruhe spielt in meinem Inneren, ja, es kommt mir fast so vor, als ob irgendwo in meiner Seele eine kleine Flamme zittert. Eine Flamme … Ich bleibe stehen und lächele vor mich hin. Die Sache liegt doch eigentlich auf der Hand. Hier haben wir eine ganze Ladung, die ohne Probleme auf der Stelle verbrannt werden kann. Damit ist Geld gespart, zudem wird eine gewisse Ordnung wiederhergestellt. Man kann ja nicht wissen, wann die Polen Zeit haben, um vorbeizuschauen, und hier sollen wir inzwischen leben und uns wohlfühlen, die Vermieterin und ich. Soll ich sie zuerst anrufen? Nein, das soll ich nicht. Ein streng kontrolliertes Feuer im eigenen Garten ist trotz allem so ungefähr das Erznorwegischste, das man sich überhaupt denken kann. Mit einem Stock danebenzustehen und sich davon zu überzeugen, dass alles seine Richtigkeit hat, ist ein Recht, mit dem wir alle geboren worden sind, wir haben es uns im Laufe der Jahrhunderte erkämpft. Wir sind viele. Wir flämmen an den flachen Stränden unten auf Jæren, in den Gärten bei Bergen, Fana, Ulvik in Hardanger, wir stehen mit dem rußigen Stock vor kleinen und großen Höfen in Südnorwegen und Nord-Trøndelag, wir sind auf Posten in Nordland, auf den Lofoten und in Fischerdörfern auf den Inseln vor Finnmark. Überall im Land stehen junge und alte Männer, gekrümmte Frauen und dralle Deerns, wir stehen da mit unserem Stock und kontrollieren und füttern den kleinen Brand, den wir angelegt haben, wir passen auf, dass er sich nicht im Gras verbreitet, dass er keine Macht über das Grundstück gewinnt, das wir hüten sollen. Im Handumdrehen habe ich losgelegt. Auf einer Plattform aus drei mal drei Dachziegeln mit Rissen und Mängeln errichte ich eine Pyramide aus Möbelresten, Pappe und Müll. Hole Streichhölzer aus der Schublade, wo sie zusammen mit Kerzen von Spar liegen. Zaubere eine Flamme hervor, die der Wind sofort mit ins Nichts reißt, zünde eine neue an, noch eine und eine weitere, nun fängt alles Feuer, nun nimmt das Feuer die Holzsplitter in seinen gierigen Mund und verzehrt sie mit einem knisternden Geräusch. Dann stehe ich da an diesem Herbstnachmittag in meinem nagelneuen Leben und flämme. Sehe, wie das Feuer Fragmente aus dem langen Zusammenleben von Annelore und Sigurd verschlingt. Gerade das hier hatten sie sich wohl nicht vorgestellt, damit hatten sie nicht gerechnet, als sie errötend zu Beginn der Schwangerschaft den kleinen Wickeltisch ins Haus trugen. Dass ein Junggeselle und Spielmann ein Menschenalter später hier stehen und dessen Überreste verbrennen würde, während er »Die Brücke am Kwai« pfeift und singt.
Es ist so friedlich. So hypnotisch und harmonisch. Wie lange leben wir schon zusammen, die Flamme und der Mensch? Wir wissen es nicht, aber unsere Gene sind aus denselben Träumen geschmiedet. Denke ich. Ein durch und durch idiotischer Gedanke, aber ich denke ihn trotzdem. Und schiebe einen Teil eines alten Lattenrostes in die wütenden gelben Flammen. Na gut. Der feuchte Pappkarton enthält Reste von Teerpappe. Das sieht man ja. Registriert es. Eine gewisse Rauchentwicklung. Nicht weiter gefährlich. Ein Schlag mit dem Stock, ein Funkenregen, man weicht lachend zurück. Ehe man abermals zwei Schritte vortritt und auf den feuchten Pappkarton schlägt, und das mit demselben Stock, der jetzt von brennendem Asphalt klebrig wird; nun hat man auch noch einen kochenden Tropfen auf den Handrücken bekommen, man brüllt automatisch auf, das ist reine Natur, kein Grund zur Aufregung. Finde ich jedenfalls. Außerdem brennt es ja jetzt besser. Der Asphalt, genauer gesagt der Teer, nährt das Feuer. Es kocht und siedet. Und der Rauch ist wie schwarze Kohle. Eine zerbrochene Weinkiste? Rein damit. Ebenso ein wurmstichiger Läufer. Ein trockener Zweig, der die Anmut des Apfelbaums ruiniert, ich breche ihn ab, ich opfere altes Holz den jungfräulichen Flammen, sie schlecken mit grünen Zungen daran, und ich spüre, wie es in meinem Blut braust. Das hier ist die Rede der Flammen an den Menschenmann. Die Urstimme an sich. Man bekommt Lust, sich die Kleider vom Leibe zu reißen und um diesen unseren eigentlichen, ursprünglichen Gott zu tanzen. Die Nachbarin an der Hand zu nehmen und sich der Natur zu ergeben.
Aber das tut man ja nicht. Man knöpft das Hemd auf und belässt es dabei. Den Rest überlässt man wie üblich der Phantasie. Der Vorstellung, wie es sein könnte, wenn andere als man selbst es wagten, von Zeit zu Zeit ein wenig grenzenlos zu sein. Sich gehenzulassen. Frei zu sein. Wenigstens ein bisschen freier.
Doch nun erreicht mich eine Stimme. Zuerst höre ich sie aus der Ferne, wie im Traum. Drehe mich um. Meine Augen füllen sich mit Rauch. Die Tränen fließen. Es brennt. Ich trete zur Seite, ich stolpere, dann höre ich es wieder. Es ist eine Frau. Kann es eine Obrigkeitsperson sein? So klingt sie. Wie eine Frau, die es gewöhnt ist, eine gewisse Macht auszuüben. Wer da? Ein Schatten am Rand des schwarzen Dämons, der jetzt vom Feuer aufsteigt.
Sie will, nein, sie verlangt, dass ich an den Zaun komme. Ich soll zum Zaun kommen. Sie sollen zum Zaun kommen. Hören Sie. Ja, denke ich, es ist sogar vorstellbar, dass ich so einen Tonfall schon ein- oder zweimal im Leben gehört habe. Komm sofort in mein Büro! Verlasse die Station! Geh in dein Zimmer, und zwar sofort! Gehe nicht über Los! Aber nun also ein Zaun. Man soll sich an einen Zaun begeben, und das sofort. Wohlgemerkt, wenn diese Frau ihren Willen durchsetzen kann. Woran sie sich ja eigentlich schon vor geraumer Zeit gewöhnt hat. So klingt sie. Ich glaube, diese Sorte kenne ich.
An den Zaun werde ich mich, mit anderen Worten, nicht begeben. Da ist es viel besser, mit einer Faust auf jeder Seite mitten auf der Rasenfläche stehenzubleiben. Das Gesicht erfüllt von einem zitternden »Wiebeliebt?«. (WIEBELIEBT?) Sie mit einer Art gelähmten Unbehagens anzustarren. Wer sind Sie? Was sind Sie für ein seltsames …
Und sie wirkt gewissermaßen so obenauf. So unberührt. So frei von allem, was zwischenmenschliche Höflichkeit heißt. Hier soll das Feuer gelöscht werden, und zwar sofort, sie hat noch nie …
Hat sie noch nie? Ich trete näher. Einen Schritt, dann noch einen. Hat sie noch nie …?
Sie weicht zurück in den Johannisbeerstrauch, wo sie teilweise Schutz sucht. Ist sie zu weit gegangen? Hat sie den Feind unterschätzt? Ihre rotgemalte Unterlippe zittert.
Und nun greife ich zu einem alten Trick, den nicht alle und jede so einfach durchschauen können. Ich lege ein demütiges Lächeln auf und rücke ebenso überraschend mit ausgestreckter Hand über den Rasen vor.
Sie nimmt die Hand nicht. Dann nicht. Die Punkte poltern jetzt geradezu auf mein Konto, aber das weiß sie noch nicht. Dass der Mann, der sie gerade noch mit stillschweigender Abscheu und Verachtung überschüttet hat, jetzt offenbar bedingungslose Versöhnung anstrebt, kann sie einfach nicht begreifen. Sie hat eben ihren Hamsun nicht gelesen, denke ich triumphierend. Und stelle mich vor, höflich und wie es sich gehört. Ich handele auf direkten Befehl von Annelore Frimann-Clausen. Der Hausbesitzerin. Ich selbst habe das Glück, im Untergeschoss selbigen Hauses zu logieren, wo ich die Zeit mehr oder weniger damit verbringe, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Wenn sie versteht. Versteht sie, was das bedeutet? Sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern?
Das schreie ich ihr ins Gesicht, ehe ich wieder begütigend lächele, fast ein wenig geheimnisvoll.
Ob sie vielleicht einen Namen hat? Ein winzig kleines Nämchen? Mette Meijer vielleicht? Mit ij? Die Königin der Kiefernhecke? Doch, doch. Man ist im Bilde.
Und als sie endlich glaubt, dass sie mich und meine eigentliche Persönlichkeit erfasst hat, beginne ich, mich lobend über gerade diese Hecke zu verbreiten. Wenn ich eine Kiefernhecke hätte, würde ich sie ebenfalls frei und ohne Zwang wachsen lassen. Als Frimann-Clausens Mieter muss ich mich natürlich mäßigen, aber hier hat sie meine eigentliche Sicht der Dinge. Wie sie sehen kann, bin ich auch nicht mehr der Jüngste, und ich bin mehr als motiviert für ein Dasein im Schatten. Die Kiefernhecke wurde schon am ersten Abend zu meiner Freundin. Ich war sofort glücklich über ihre Existenz.
Ob ich mir vielleicht vorstellen könnte, das Feuer zu löschen?
Ja, aber natürlich.
Dann steht sie da und sieht mich abwartend an. Mitte vierzig, denke ich. Ein verärgerter Zug um einen weichen und etwas feuchten Kussmund. Kann ich diesen Mund dazu bringen, mich anzulächeln? Das ist wirklich schwer zu sagen. Ich glaube indes, dass es eine gewisse Zeit dauern wird. In Gedanken reiße ich ihr schon sämtliche Kleidungsstücke vom Leibe und schleudere sie durch den Garten. Da steht sie. Nackt im Johannisbeerstrauch. Ich bedauere, dass unsere erste Begegnung nicht so ganz glücklich verlaufen ist. Ich bin bereit, meinen Teil der Verantwortung dafür zu übernehmen. Wohlgemerkt, wenn sie die Verantwortung für den Teil übernimmt, der ihrer ist. Der Teil, der ohne Vergleich der größere der beiden ist. Das Feuer wird augenblicklich gelöscht werden, wenn Reste, Abfall und Müll zu Asche geworden sind. Jeder kleinste Rest und Krümel. Ja. Dann wird es gelöscht werden. In selbiger Sekunde.
Habe ich da ein winziges Kräuseln eines Lächelns in ihrem Gesicht geahnt? Nein. Es war ein unfreiwilliges Zucken der Unterlippe. Ein sogenannter Tic.