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4 Ein gesegnet normaler Supermarkt

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Ich träume, ich wäre eingesperrt. Bekäme keine Luft. Im Traum befinde ich mich in einer winzigen Wohnung unter der Erde. Ungeheuer kleine, klaustrophobische Kammern, noch dazu mit Möbeln vollgestopft. Tische, Sofas und Stühle, ich stolpere mit Staub und Schimmel im Mund umher. Ich kann nicht schlucken, ich will um Hilfe rufen, aber das Einzige, was aus mir herauskommt, ist ein fremdes, boshaftes Lachen. Zwischen den kleinen Kammern gibt es ein Netzwerk aus langen engen Gängen, die Wände sind niedrig, ich muss mit einer Art Heroinknick in den Knien gehen, ab und zu muss ich sogar niederknien, jemand ist hinter mir her, ein nach Schweiß stinkender Schatten; etwas haucht mir in den Nacken, ich flehe auf Knien um mein Leben, und darum, nicht ganz und gar den Verstand zu verlieren, oder ist es schon zu spät? Hat die Vernunft mich bereits verlassen? Woher kommt dieses fremde Lachen, das die ganze Zeit durch mich hindurchströmt wie ein Abwässerfluss? Josef Fritzl maskiert als Annelore Frimann-Clausen. Nackt. Verzerrt, mit runzliger Elefantenhaut. Ich selbst gefangen in einem Käfig. Annelore Frimann-Clausen, die aufschließt und die acht Türen zu der Wohnung aufschiebt, in der sie mich gefangen hält, zusammen mit der Tochter Elisabeth, Kellersklavin in vierundzwanzig grauenhaften Jahren, ich ahne die Zeit wie einen kalten Windstoß Revue passieren. Vergewaltigungen. Einsame Geburten. Jetzt hält sie meinen Schwanz in der Hand, und ich merke, dass ich überaus widerwillig wachse und hart werde. Und sie lächelt ohne Zähne, habe ich daran gedacht? Wie gut es ohne Zähne wäre? Nun wecke ich mich selbst, ich vertreibe mich aus diesem Kellerkerker, beschämt und wütend, schweißnass und gehetzt. Und befinde mich auch jetzt in einem fremden Raum unter der Erde, mit einer kräftigen Pilzoffensive oben an der Decke. Ich glaube, den Geruch dieses schwarzen Schleimes wahrzunehmen …

Ich stehe auf und gehe ins Wohnzimmer. Dort wird es besser. Als ich mich umdrehe, sehe ich die beiden winzigen Fenster oben unter der Decke dessen, was mein Schlafzimmer sein soll, was sich aber schon jetzt, in der ersten Nacht, als Fritzl-Zimmer etabliert hat, als Inzestabteilung, denn war dort drinnen nicht auch etwas mit Mutter …

Es ist so ekelhaft. Ich hole mir die Bettdecke und lege mich aufs Sofa. Denke, damit darf ich nicht anfangen, das muss ich in Zukunft einfach vermeiden, denn sonst verliere ich die Hälfte des Platzes in meinem neuen Dasein, ohne dass die Miete deshalb auch nur um eine Krone reduziert wird, aber dann schwebe ich wieder in eine Mischung aus Gedanken und Träumen, jetzt geht es besser, ich laufe über eine Blumenwiese. Auf ein Haus in einem Garten zu, es ist Fiolvei 5, ich weiß das, auch wenn das Haus ganz anders aussieht, jetzt ist Fiolvei 5 eine Art Schloss mit Sälen und Hallen, und in großen Spiegeln an den Wänden sehe ich mich selbst in Gestalt von Annelore Frimann-Clausen, ich bin Annelore, ich besteige einen Thron aus Eis und Kristall, ich fordere die römischen Soldaten auf, umgehend den Gefangenen hereinzuführen, und der bin ich. Elling.

Wache wieder auf. Unruhig. Ach, dieser ganze Unsinn. Warum muss es so sein? Aber im tiefsten Herzen weiß ich das ja. Es ist die Große Veränderung, die irgendwo in mir auf die dicke Trommel schlägt. Ob sie da oben wohl auch wach liegt? Ganz still in der Dunkelheit? Auch für sie war es ein Tag der Umwälzungen. Doch, ja. Alles ist gutgegangen. Der neue Mieter wirkt eigentlich wie ein ordentlicher, ruhiger Mann. Aber das ist es ja gerade. Dass er ein Mann ist. Wäre eine Lehramtsstudentin nicht doch besser gewesen? Was weiß sie eigentlich über Männer in meinem Alter? Ich gehe davon aus, dass sie genug Lebenserfahrung hat, um zu wissen, dass ein Mann von Mitte fünfzig nicht als tot betrachtet werden muss, wenn es um das Sexuelle geht. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass sie in dieser Hinsicht das Handtuch geworfen hat. Ich kann mich irren, aber so sehe ich das. Ich bin überzeugt davon, dass sie nicht dort oben liegt und mich als möglichen Kandidaten für unverbindliche Gemütlichkeit betrachtet. Jedenfalls nicht so. Wanderkamerad, vielleicht. Ein Mieter, den man eventuell mit ins Theater oder auf einen kleinen Ausflug nach Høvikodden locken kann. Aber nicht als Aktivist ins Bett. Andererseits. In unserer Zeit ist kein Ding unmöglich. Das habe ich mit eigenen Augen im Netz gesehen.

Weiß sie übrigens von dem Pilzangriff? Von den biologischen Kriegshandlungen, die sich im Schlafzimmer unter ihr abspielen? Und im Badezimmer? Ich werde kein Wort darüber sagen. Ich werde die Wohnung preisen, wie ich es beschlossen hatte. Vor allem das kleine warme Loch von Schlafzimmer. Was soll man überhaupt mit einem Fenster in einem Zimmer, in dem man nur schlafen wird? Bewusstlos sein? Fort von der Welt?

Ich springe vom Sofa auf, ich stürze ins Badezimmer und reinige den Abfluss in der Dusche mit den Fingern, entferne das widerliche kleine vertrocknete Haarbüschel, werfe es ins Klo, fast ohne es zu merken, es geht so schnell, so schrecklich schnell, ich drehe das heiße Wasser auf und seife mich ein, aber was ist los mit diesen Seifenstücken, die auf den Toiletten in diesem Land herumliegen, in Haus und Hütte, diesen kleinen harten Seifenstücken, die man einfach nicht richtig zum Schäumen bringen kann, jede Menge verfärbter Risse weisen sie außerdem auf, aber vor allem sind sie steinhart und ganz und gar geruchlos, kein Hauch von Duft, und dabei komme ich mir so durch und durch verdreckt vor, nachdem ich diesen elenden Haarstrang angefasst habe, der so voller Bakterien und Dreck war, und ich schrubbe und schrubbe mit dem dysfunktionalen Seifenstück, schleudere es voller Wut weg, sehe vor meinem inneren Auge die halbvolle Zaloflasche beim Spülbecken in der Wohnzimmer-Küchen-Kombination.

Aber am Ende findet sich dann irgendwie doch noch alles. Als ich jedoch die Toilette abziehe, schwimmt das Haarbüschel oben. Zundertrocken natürlich. Ich muss die Zeit arbeiten lassen. Erst richtig Wasser einziehen lassen, ehe ich den nächsten Versuch mache. Denn das ist klar: Jedesmal, wenn ich die Toilette abziehe, schicke ich gleichzeitig ein Signal zu ihr dort oben, dass etwas erledigt ist. Und zum Beispiel jetzt: Dass ich wach und für den Tag bereit bin. Was ich im Grunde nicht bin, da es ja erst halb sechs ist, und da ich gelinde gesagt schlecht geschlafen habe. Als ich abermals unter die Decke auf dem Sofa krieche, höre ich es klar und deutlich. Dass auch ein Stock weiter hoch an einer Schnur gezogen wird. Das gleiche Grummeln in den Rohren wie gestern Abend.

Sie antwortet, denke ich. Dann schlafe ich wieder ein.

Und erwache in einem Meer aus Licht, ja, in der Sonne, die durch frisch geputzte Fenster hereinflutet, sie legt sich über den Boden wie ein goldener Teppich, und das grüne Leuchten des Gartens … Wohin ist die entsetzliche Nacht verschwunden? Die kranken Träume? Die unruhigen Morgenstunden? Der widerliche Strang fremder Schamhaare?

Ich laufe hinüber und ziehe an der Schnur.

Später besteige ich den Thron zum ersten Mal. Hervorragend. Es ist eng hier, man muss sich wegen des Waschbeckens ein wenig zur Seite beugen, aber das macht nichts. Es gibt Schlimmeres auf der Welt, als sich ein wenig zur Seite zu beugen. Das kann ich unterschreiben. Auch diese kleine Eigenheit wird nicht auf irgendeiner Mängelliste zu finden sein, wenn ich in einigen Tagen eine vermutlich ziemlich gute Mahlzeit mit meiner lieben Vermieterin verzehre. Auch die Dusche funktioniert hervorragend, aber es ist klar: Man steht ja dort draußen und fragt sich, wie man sich dem Pilzangriff gegenüber verhalten soll. Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen.

Ich trinke zuerst eine Tasse Tee, während ich die handgezeichnete Karte studiere, die ich bekommen habe. Ich habe offenbar die Wahl zwischen zwei Supermärkten. Der eine, eine Spar-Filiale, liegt gleich die Straße hinunter. Und dann haben wir unten im Sandaker-Center einen Coop. Letzterer wird die erste Wahl sein, wenn der Herr sich zusätzlich zum eigentlichen Einkauf auch einen soliden Spaziergang wünscht.

Aber das wäre heute kaum das Richtige, da leere Schränke und Regalfächer darauf warten, mit Grundnahrungsmitteln gefüllt zu werden. Heute ist der Nah-Spar angesagt, danach ein schneller Rückzug, ein spätes Frühstück und dann trautes Heim.

So sieht der Plan aus.

Aber zuerst einen guten Becher Tee, abermals anonym spendiert, vermutlich von meinem Vormieter oder meiner Vormieterin, vielleicht war diese Person ja auch mit Annelore verwandt, was weiß denn ich. Hier gilt es jedenfalls, die Fenster und die Tür zum Garten geschlossen zu halten, wenn man selbst nicht anwesend ist. Ein Heim auf Bodenniveau ist trotz allem mehr gefährdet als ein etwas weiter oben gelegenes. Andererseits würde schon einiges dazugehören, wenn ein Außenstehender mich hier unten in meinem Eckchen entdeckte. Die Wohnung ist von Straße und Bürgersteig her nicht zu sehen, und sie ist durch den Garten sehr schwer zugänglich, wegen des großen Steinbeetes, das die Witwe am Hang angelegt hat. Der einzig logische Weg in meine Wohnung hier in der Sockeletage ist die Treppe, die ich selbst gestern Abend hinuntergestiegen bin. Dann aber muss man an Annelores Küchenfenster vorbei. Und da der Bereich zwischen Gartentor und Haus von Kies bedeckt ist, würde sie sicher sofort gewarnt sein, selbst, wenn sie sich hingelegt hätte oder vor dem Fernseher säße.

Denke ich.

Streife die Pantoffeln über und öffne die Tür zum Garten.

Schon gefällt mir diese Abkürzung. Direkt in den Garten, aus dem eigenen Heim. Ich verstehe sehr bald, dass das Sonnenfunkeln, zu dem ich erwacht bin, das einzige dieses Tages ist. Hier draußen herrscht eine schöne Dunkelheit. Die massive Kiefernhecke, die den Meijern gehört, steht da wie ein zerzauster Riese. Gut. Dann brauche ich diese Leute nicht zu sehen. Es wäre nicht besonders lustig, ohne diese Hecke hier draußen zu wohnen. Dann hätten sie zu mir hereinschauen können. Und ich zu ihnen. Ich weiß nicht, was schlimmer gewesen wäre. Dass die nämliche Hecke die Sigurdsbude mehr oder weniger verschlungen hat, ist nicht meine Sache.

Ich drehe eine Runde durch das feuchte Gras. Johannisbeersträucher, wie versprochen. Hier und dort hängt noch eine Beere im gelben Blattwerk. An einem Apfelbaum: ein einzelner grüner Apfel. Die anderen Bäume sind nackt.

War da eine Bewegung hinter dem Wohnzimmervorhang oben?

Möglicherweise.

Sicherheitshalber schlendere ich wieder ins Haus. Es steht nicht fest, ob es ihr gefällt, wenn ich Tassen und Teller in den Garten hinausschleppe.

Ab und zu überkommt sie mich. Eine Mutlosigkeit. Im Laufe der Jahre hat sich vieles verändert, aber gerade diese Mutlosigkeit scheint ein Schatten zu sein, der mir bis ans Ende des Weges folgen wird. Da stehe ich so froh und zufrieden und schließe die Tür hinter mir zu, ich genieße das leise Klicken des Schlosses, versuche es einmal, zweimal, dreimal, die Tür ist abgeschlossen, das ist gut, ich nehme die Treppe in Angriff, aber als ich die Hausecke erreiche, ist Schluss.

Ich habe keine Lust, an Annelore Frimann-Clausens Küchenfenster vorbeizugehen.

Ich habe ganz einfach keine Lust.

Warum? Es hat etwas mit … Ich weiß nicht. Doch. Natürlich weiß ich es. Es liegt daran, dass ich weiß, dass sie von der Sorte ist, die im Halbdunkel steht und wartet. Wie gestern Abend. Die Tür ging ungefähr in dem Moment auf, in dem meine Fingerspitze den Klingelknopf berührte. Sie hatte gehört, wie ich das schmiedeeiserne Tor öffnete. Gleich darauf meine Schritte im Kies. Sie war bereit. Sie stand mäuschenstill da und wartete.

Gibt es denn einen Grund, warum sie nicht gehört haben sollte, wie ich die Wohnung unten im Haus verlassen habe? Nein, natürlich nicht. Diese Wohnung hat eine ganze Weile leer gestanden, das weiß ich. Der ehemalige Mieter, wer immer es gewesen sein mag, hat sie in totaler Einsamkeit zurückgelassen. Er (ich gehe davon aus, dass es ein Mann war, denn so wie ich das sehe, würde sich eine Frau preisgegeben fühlen, unsicher in einer Wohnung, wo sich fremde Männer in der Nacht verstecken und einfach hereinschauen können) hatte seine häuslichen Geräusche mitgenommen und sich zu einem anderen Aufenthaltsort weiterbegeben. Und da sitzt sie nun, geblendet von der plötzlichen Leere des Hauses. Nicht der Stille, denn alle Häuser haben ihre Geräusche, da ist der Wind, der die Zweige der Bäume über die Wände streichen lässt, es gibt plötzliches Sickern und Seufzen, es gibt Gurgeln in der Dachrinne. Nein, keine Stille, sondern Leere. Das Fehlen der Geräusche, die von einem anderen Menschen aus Fleisch und Blut stammen. Aber dann vergehen die Tage und die Wochen und die Monate, und sie gewöhnt sich daran. Das ist doch der große Segen des Menschen, jedenfalls ein großer Segen. Dass wir, egal was passiert, uns daran gewöhnen.

Und dann plötzlich, gerade, als sie dieses Fehlen akzeptiert hat, ja, da kommt ein anderer Bursche des Weges. Es ist doch klar, dass es ihr auffällt, wenn er zum allerersten Mal die Tür hinter sich abschließt und sich bereit macht zu einer Einkaufsrunde.

Na und, sagt jetzt vielleicht der Einfühlungslose. Wenn sie am Küchentisch sitzt oder von mir aus auch mitten im Zimmer steht. Kannst du denn nicht einfach am Fenster vorbei und zum Tor hinausgehen? Es ist doch sogar möglich, ihr frisch und fröhlich zuzuwinken?

Tja. Wenn mich das Leben etwas gelehrt hat, dann, solche Fragen lieber nicht zu beantworten. Nicht einmal dann, wenn ich selbst sie gestellt habe.

Es geht ja vorüber. Im einen Augenblick ist man total erschlagen, dann aber zählt man zweimal bis tausend und sagt seinen Namen rückwärts. Und schwupp. Man setzt sich in Bewegung und wirft nicht einen einzigen Blick ins Küchenfenster. Zieht das schmiedeeiserne Tor ordentlich hinter sich zu. Mit der Karte in der Hand, mit der Hand in der Manteltasche. Ein herrlicher Tag. Hier oben auf Straßenniveau scheint die Sonne. Ich beschleunige auf dem Weg in den neuen Tag. Häuser und Gärten flimmern vorbei, Grefsen hat etwas Solides und zugleich Zurückhaltendes. Der Geruch von altem Geld liegt in der Luft, es ist fast ein bisschen seltsam, dass ich zu einer Spar-Filiale unterwegs bin und nicht zu einem Feinkostladen, aber andererseits und zum Glück: Spar passt um einiges besser zu mir.

Und abermals: Wie oft werde ich diesen Laden aufsuchen, ehe meine Zeit auf Erden vorüber ist? Man tritt zum allerersten Mal ein. Es ist natürlich ein Ereignis. Der Einfühlsame kennt sich mit solchen Dingen aus. Dort, wo der oberflächliche Grobklotz nur einen ganz gewöhnlichen Supermarkt sieht, erblickt der Einfühlsame eine heilige Handelsstätte, einen Ort, an dem Geld gegen lebensnotwendige Waren eingetauscht wird. Hier findet sich die eigentliche Grundlage für die alltägliche Nahrungsaufnahme, von der wir allesamt, unabhängig von Geschlecht und Zivilstand, abhängig sind. Hier, hinter den funkelnden, frisch geputzten Glastüren, ist die eigentliche Quelle zu finden, und das noch dazu in der fast unvorstellbaren Vielfalt der modernen Gesellschaft. Denn wir finden hier drinnen nicht nur unsere Kost, und das in allen erdenklichen Varianten, sondern auch Mittel zur Sauberhaltung von Böden, Wänden und Decken, Zähnen und Mundhöhle, Klosett, Fenstern und Kochplatten, Besteck, Geschirr und Gehörgängen. Nach kurzem Überlegen wird das sogar der Oberflächlichste begreifen: dass im Grunde nicht Kirche oder Moschee das Allerheiligste in unserem Alltag repräsentieren, sondern der Supermarkt, in dem wir jeden Tag alles einkaufen, was nötig ist, um das Leben, das Gott oder physische und chemische Zufälle uns zugeteilt haben, zu erhalten und zu pflegen. Ja, eigentlich müsste vor dem Eingang zum Supermarkt ein Gebetsteppich liegen, wo man jeden Tag niederknien und seine vielen Sünden und Verfehlungen bekennen könnte, um dann, geläutert und von Schuld befreit, eintreten und seine Geschäfte tätigen könnte. Nicht mit Priestern und Kardinälen oder Imamen und heiligen Männern, die in Indien Hasch rauchen, sondern mit Männern und Frauen, die nach dem Abitur nicht studiert, ja, die nicht einmal Abitur gemacht haben, sondern die sich Nylonkittel überzogen und geradewegs ins Arbeitsleben eintraten, nicht, um die Karriereleiter hochzusteigen und anderen auf Finger und wehe Zehen zu treten, sondern schlicht und ergreifend, um Regale einzuräumen, um Paletten oder Kartons ins Lager oder aus dem Lager zu tragen, und nicht zuletzt, um die Waren in die Kasse einzugeben, um Geld und Plastikkarten entgegenzunehmen und dafür zu sorgen, dass die Kundschaft, wir anderen, ihr Wechselgeld erhält, oft mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Ich kann mich noch an die Kassiererinnen im Zentrum in der Satellitenstadt erinnern, wo ich aufgewachsen bin. Sie erschienen mir als die Tanten, um die die Wirklichkeit mich betrogen hatte. In allen Jahren begleitete ich meine Mutter auf ihrem festen Samstagseinkauf, als kleiner Junge, der noch kaum gehen konnte, und als erwachsener Mann, der seiner Mutter auf ihren allerletzten Runden beistand; inzwischen hatte ich die Einkaufskarre übernommen und Mutter trottete hinter mir her. In meinen Gedanken und Phantasien waren die Kassiererinnen und die Männer, die die Regale aufräumten, Mitglieder eines verschworenen Clans, einer Sekte, die Supermarkt oder Einkaufszentrum niemals verließen, sondern eine Art geheimnisvolles Campingdasein draußen in den großen Hallen fristeten, die man ab und zu hinter den schweren Plastikportieren für einen Moment sehen konnte, die Räume, in denen nach geheimen Systemen mit Gas betriebene Wagen Butter und Milch und Käse palettenweise hin und her frachteten, und wenn die Nacht sich über sie senkte, zündeten sie Feuer an, während die Tanten und die Aufräumjungen und die Männer, die oft ein wenig seltsam waren, mit langen Hälsen und Ohren, um das Lagerfeuer Ringelreihen tanzten, während andere Gitarre spielten und noch andere ihre Kastagnetten klappern ließen. Bis sich die Sonne über den Horizont erhob und es abermals Zeit wurde, Büchsen mit Makrele in Tomate und Kartoffeleintopf in die Regale zu stapeln. Ja, so vergingen die Tage und so vergingen die Jahre, und hier kauften alle Menschen aus unserem Block ein, und auch alle Menschen aus den anderen Blocks, wir aßen das Gleiche und wuschen mit Zalo ab, und niemand fand das auf irgendeine Weise seltsam, und es ist ja durchaus möglich, dass es auch nicht seltsam war, es kommt darauf an, wie philosophisch man veranlagt ist.

Ich schlendere zwischen Regalen und Kühltresen, und ich bade in einem guten, Geborgenheit schenkenden Gefühl: Es sind die Segnungen der Ketten, die sich jetzt geltend machen. Alles neu, neue Winkel, neue Raumlösungen, und dennoch so wunderbar vertraut für einen wie mich, der schon länger einen Überblick über die Angebote bei Spar hat, über deren Vorzüge und Schwächen; man kann sich einfach klarmachen, dass alles stimmt. Das Angebot an Frischfleisch und -fisch ist zwar etwas bescheiden, aber die Auswahl in Gefriertruhe und -fächern ist mehr als gut genug für jemanden, der normalerweise nicht rund um die Uhr jammert und klagt. Ich registriere zudem ein nicht unwichtiges Detail: Hier herrscht eine ruhige und höfliche Stimmung. Es ist zwar erst halb zehn, aber dennoch. So etwas merkt man. Hier oben auf dem Hügel hat man keine hektischen U-Bahnpendler bei der Kundschaft, hier herrscht aller Wahrscheinlichkeit nach auch während der Arbeitszeit Ruhe. Eine Annahme, die mehr oder weniger bestätigt wird, als ich sehe, mit wem zusammen ich einkaufe. Hausfrauen in verschiedenen Altersstufen. Mit und ohne Kinder. Solche, die das Essen auf den Tisch stellen, wenn der Mann von der Arbeit kommt, so, wie es in meiner Kindheit Sitte und Brauch war, auch wenn wir bei uns zu Hause am Tisch keinen Gatten und Vater vorweisen konnten. In Grefsen ist es noch immer so. Denke ich. Und amüsiere mich bei der Vorstellung, was passieren würde, wenn ich das laut ausspräche, es in die rosa Gehörgänge flüsterte, von denen ich hier umgeben bin.

Ich lege Grundnahrungsmittel in den Wagen. Milch. Margarine. Ein dickes Stück Gouda. Eine Packung Pfeffersalami. Und so weiter.

Auf einen Impuls hin bleibe ich bei einem vertrauenswürdig aussehenden Mann stehen, der auf Knien liegt und Seifenpulverpackungen ins unterste Fach stellt. Er schaut ein wenig verängstigt zu mir hoch, als ich einfach anhalte und keine Anstalten mache, weiterzugehen.

Um die Lage nicht schwierig zu machen, frage ich freundlich, ob er sich vielleicht mit Schimmelpilzen und solchen Dingen auskennt.

»Schimmelpilzen?« Er erhebt sich zögernd.

Ich erkläre, dass ich in eine etwas unangenehme Situation geraten bin. Habe eben gleich hier um die Ecke ein Haus gekauft. Und jetzt stellt es sich heraus, dass die Mieterin in der Sockelwohnung im Badezimmer Pilzbefall entdeckt hat. Ich werde das natürlich dem Makler und dem ehemaligen Besitzer gegenüber zur Sprache bringen müssen. Aber was tun? Die Mieterin ist eine alte Dame. Ich will sie ja nur ungern warten lassen, und man kann doch nicht jedesmal, wenn etwas schiefgeht, Polen anrufen …

Wir wiehern jetzt beide. Das hier ist ein guter Supermarkt.

»Die Frage ist ja, ob Sie zu einem Fachgeschäft müssen«, sagt er zögernd. »Wie sieht das denn aus?« Er zieht sein Smartphone hervor.

Ich beschreibe den Pilz. Schwarze Punkte, die an einzelnen Stellen zu einer kompakten Masse zusammengewachsen sind. Ein bisschen wie Gelee. Glitschig.

»Ach, du meine Güte. Scheint ja echt Mist zu sein. – Und wir haben hier wie gesagt kein Spezialmittel gegen sowas … Mal sehen … Schimmelpilz … Ja. Sieht wirklich aus, als hätten Sie Schimmelpilz erwischt, ja.«

Ich erkläre, dass ich den Schimmelpilz nicht erwischt habe, sondern dass selbiger die ganze Zeit schon da war. Und dass der ehemalige Hausbesitzer ihn mir unterschlagen hat. Verschwiegen. Getarnt.

»Ja, ja. Egal wie. Das müssen Sie in Ordnung bringen. Kann für Atemwege und Augen gleichermaßen schädlich sein. Unnormale Müdigkeit. Kaum das Richtige für eine alte Dame.«

Ich spüre, wie sich meine Kehle zusammenschnürt.

»Aber Moment mal, hier steht, Sie können es mit Chlor versuchen.«

»Mit Chlor? Aber ist das denn nicht gefährlich?«

»Das ist nichts, was man sich so mal kurz hinter die Binde gießt, das nicht, nein. Gummihandschuhe. Führen wir auch. Und dann müssen Sie auf Ihre Augen aufpassen.«

Er wird jetzt dominierend und belehrend. Ich bin schon mein ganzes Leben lang von dieser Sorte von Männern umgeben. Solche, die wissen, wie alles Mögliche in Ordnung gebracht werden kann. Die wissen, wie es auf der Rückseite deines Kühlschrankes aussieht. Willst du dich hier etwa bei mir einschmeicheln, denke ich. Daraus wird aber nichts. Ich interessiere mich nämlich nicht für Pilzbefall, und für Fliesenlegen im Bad auch nicht. Aber das tut dieser Bursche. Das steht fest. Wenn ich diesen Mann frage, ob er Segen der Erde gelesen hat, wird er mich für schwul halten.

»Kaufen Sie immer hier ein?«

Ich: »Warum?«

»Ich kann mich mal für Sie erkundigen, wenn Sie wollen. Aber ich schlage auf jeden Fall vor, dass Sie es zuerst mit Chlor versuchen.«

Auf irgendeine Weise zaubert er eine grüne Plastikflasche hervor und legt sie vorsichtig in meinen Wagen. Als ob es sich um Sprengstoff handelte. Unaufgefordert wirft er eine Packung stählerner Topfschwämme und ein Paar Gummihandschuhe hinterher.

»Und wir passen auf die Augen auf, nicht wahr?«

Pass du lieber selbst auf, denke ich, und lächele gerade so falsch, wie mein Gewissen es mir erlaubt.

Ich darf nicht vergessen, dass ich ihn angesprochen habe. Nicht umgekehrt.

Die Stimme des Psychologen, irgendwo hinter dem Hügelkamm.

Das hier ist ein ziemlich kleiner Spar. So klein, dass zwei Kassen reichen. Bedient von zwei dazugehörenden Kassiererinnen. Mir kommt das wie gerufen. Und ich sehe es ja sofort. Dass hier die Rede ist von zwei erwachsenen, sympathischen Frauen. Nicht von unsicheren Teenagern, die Kaugummi kauen und bis über sämtliche Ohren tätowiert sind, sondern von Mädels von um die fünfzig, die wissen, was sie wollen, und das in jeder Beziehung. Wieder werde ich daran erinnert, wie wichtig es ist, sich an einen festen Supermarkt halten zu können, die vertrauten Waren in den Regalen, dasselbe Personal zwischen Regalen und Truhen, und die vertrauenerweckenden freundlichen Frauen an den Kassen. Wenn ich einkaufen gehe, wähle ich zugleich meine Frau, denke ich mit einem heimlichen Lächeln. Die an Kasse 1, oder die an Kasse 2. Nicht, weil die andere nicht ebenso reizend und nett sein kann wie die eine, sondern ganz einfach, weil die Situation das verlangt. Weil man seine Waren nicht an zwei Kassen zugleich bezahlen kann. Die üppige Rothaarige muss nun der ein wenig Geheimnisvollen mit den rabenschwarzen Haaren weichen, der mit der leicht übertriebenen Schminke. Ein bisschen nach Schlampe sieht sie aus, aber nur ein bisschen. Absolut innerhalb der Grenzen. Und – so tröste ich in Gedanken die Rothaarige – an einem anderen Tag wird die Wahl auf dich fallen. Solche Dinge hängen oft mit der Tagesform zusammen. Gerade jetzt reitet mich eine gewisse Tollkühnheit, nach dem Gespräch hinten bei den Reinigungsmitteln. Eine Prise Adrenalin, die mich zu der mit den schwarzen Haaren und dem grünen Lidschatten treibt. Beim nächsten Mal können Trost und Vertrauen angesagt sein, und dann wird es natürlich der Rotschopf. Die Rote mit der Sahnehaut und den niedlichen Sommersprossen am Hals. Ob die beiden wohl gute Freundinnen sind? Sicher. Wilde Zankereien in Pausenraum oder Umkleidezimmer kommen hier wohl kaum vor. Dennoch habe ich das Gefühl, dass sie in der Freizeit nicht viel miteinander zu tun haben. Vielleicht ab und zu mal ein Kinobesuch, aber mehr bestimmt nicht. Dazu sind sie zu verschieden. Die Schwarzhaarige strahlt etwas aus von »ein bisschen Spaß auf der Dänemarkfähre«, während die Rothaarige eher die Sorte ist, die zu Hause in Trainingshose und Garfield-T-Shirt herumpusselt. Ja, solche Gedanken macht man sich doch, wenn man in der Warteschlange steht. Würde die Rote irgendeine Form von Eifersucht entwickeln, wenn ich mich immer für die Schwarze entschiede (die ich im selben Moment Pikdame taufe)? Kaum. Dazu sind sie zu professionell. Es piept und blinkt rot, während sie mit großer Autorität die Strichcodes über den Scanner ziehen. Ohne dabei den Kontakt zum Kunden zu verlieren. Routiniert. Die ganze Zeit werden Lächeln und freundliche Worte gewechselt, und als Neuankömmling merke ich rasch, dass hier vor allem von Stammkundschaft die Rede ist. Bald werde ich auch dazugehören.

Ja, was wissen die Kassiererinnen wohl alles über den Kunden und das Leben, das er führt? Jahraus jahrein sitzen sie da und geben die gleichen Waren ein. Sie wissen, was jeder Einzelne sich einverleibt, um das Blut durch die Adern kreisen zu lassen. Mit welcher Seife sich die Kundschaft bevorzugt wäscht. Ach ja, da kommt die mit dem extraweichen Toilettenpapier. Ja, ja. Hoffentlich gibt sich das demnächst mal. Schon wieder eine neue Zahnbürste? Will er das nicht mal bald reparieren lassen? Bier an einem normalen Montag? Die Frage ist ja doch, ob du nicht mal mit den Kartoffelchips aufhören solltest, du Tonne.

Aber kein böses Wort. Nur freundliches Lächeln und Smalltalk im Vorübergehen.

Für Zurechtweisungen und solche Dinge sind andere zuständig.

Pikdames eigentlicher Name ist T. Karlsen.

Schlicht und einfach, ohne Übertreibungen.

Echo eines Freundes

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