Читать книгу Echo eines Freundes - Ingvar Ambjørnsen - Страница 6
1 Verspätete Ankunft
ОглавлениеAb Drammen gab es Schienenersatzverkehr. Mit Wartezeit und Umsteigen hatte ich nun mehr als eine Stunde Verspätung. Ich beschloss, sie anzurufen und über die Situation zu informieren. Das kostete, aber ich sah keinen anderen Ausweg. Das endlose Klingeln, ehe sie sich endlich meldete. Mein Herz, das schlug und schlug. Dann endlich, zum allerersten Mal ihre etwas kratzige Stimme im Ohr.
Na gut, meinte sie. Beim lieben Gott und bei der norwegischen Eisenbahn sei eben kein Ding unmöglich. Ein trockenes Lachen an der Grenze zum Husten. Ich sah vor mir das Litermaß voll Wasser, das auf dem Küchentisch stand. Das zweimal pro Tag gefüllt und geleert werden musste, denn sonst …
Und mein eigenes Lachen, das sich mit ihrem mischte. Die Nervosität, die mich plötzlich verließ.
Ich sei jedenfalls willkommen, sagte Annelore Frimann-Clausen. Sie sei keine von der Sorte, die früh schlafen geht.
Dann war sie verschwunden.
Es regnete. Ich musterte mein Spiegelbild in der triefnassen Fensterscheibe. Und in einem inneren Film sah ich sie vor mir, wie sie in der alten Villa in Grefsen umherstapfte. Denn natürlich hatte sie einen Teller mit Schnittchen vorbereitet, das musste bei Frauen ihrer Generation fast als Gesetzmäßigkeit gelten. Nach meinem Anruf bedeckte sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach den Teller mit Plastikfolie, um ihn dann an einen kühlen Ort zu stellen. Oder auf die Hintertreppe, falls es eine solche gab. Eine Variante zeigte sie auch, wie sie den gesamten Teller im Kühlschrank verstaute, ich hoffte aber wirklich, dass das pure Phantasie meinerseits war. Eiskalte Butterbrote sind nichts für uns mit etwas abgewetzten Füllungen und unbehandelten Löchern. Vor allem nicht, wenn sie mit in Scheiben geschnittenem Fischpudding oder Rührei mit Räucherlachs belegt sind. Dann hat man wirklich Probleme.
Ich stellte fest, dass sie mir leidtat. Denn man weiß doch: Egal, wie gelassen eine ältere Dame mit einer Abweichung vom festgelegten Programm umzugehen vorgibt, ja, so sind solche Mitteilungen für sie eine Plage. Vor allem, wenn das Programm etwas mit Essen zu tun hat. Das ist keine Behauptung, sondern eine Tatsache. Ich glaubte nicht, dass sie nach Beendigung unseres Gesprächs in Tränen ausgebrochen war. Oder wütend geworden. Das nicht. Aber ich war überzeugt, dass sie jetzt eine feine kleine Traurigkeit hatte, die sie auskosten konnte. Eine Wehmut darüber, dass Nachmittag und Abend nicht wie geplant verlaufen würden. Einen Gemütszustand von der Sorte, die eine ältere Frau zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her treibt. Die sie den Raum durchqueren und stehen bleiben lässt, um hinaus in den Garten zu blicken, wo sich nun die Dämmerung senkt. Und dem Regen zu lauschen. Vielleicht zwei verwelkte Blätter von der Christrose abknipsen, dem Geschenk eines Neffen zu irgendeinem Anlass, an den sie sich nicht mehr erinnern kann. Na gut. Da kommt er also später. Macht doch nichts. Kaffee schon in der Thermoskanne. Die Brote in Plastik gehüllt, den Teller auf die Kellertreppe gestellt. Alles fix und fertig. Da sollte er einfach kommen, wenn es so weit wäre. Sie hatte sonst nichts vor. Wieder in die Küche. Der Kühlschrank. Hatte sie auch Sahne gekauft? Ja. Natürlich hatte sie Sahne gekauft. Dann zurück ins Wohnzimmer und ein weiterer Blick hinaus in den Garten, wo es jetzt fast ganz dunkel geworden war. Hatte sie da eine Autotür schlagen hören? Abermals in die Küche. Aber vorsichtig jetzt. Sich langsam dem Küchenfenster nähern. Sich vorbeugen, halb versteckt hinter dem Vorhang. Falscher Alarm. Die Nachbarstochter, nach Hause gebracht vom Ex, der inzwischen zu einem wirklich guten Freund geworden war. Zu ihrer Zeit hatte es das nicht gegeben. Wenn man verlobt war, heiratete man. Eine gelöste Verlobung bedeutete den Untergang der Familie. Sie schaut ein weiteres Mal auf die Uhr. Natürlich hatte das nicht der neue Mieter sein können. Den konnte sie vielleicht in einer Stunde erwarten. Vielleicht in zweien. Es waren doch so viele Unwägbarkeiten mit im Spiel.
Vom Osloer Hauptbahnhof nehme ich ein Taxi. Das ist ganz schön großkotzig, aber ich sehe keine andere Lösung. Ich bin schon fast zwei Stunden zu spät. Das setzt mir furchtbar zu. Der Pakistani hinter dem Lenkrad starrt mich im Rückspiegel ausdruckslos an. Das macht nichts. Ausdruckslos kann ich auch. Ich denke, dass es schon ein bisschen seltsam ist, dass mich das Schicksal wieder in Richtung Grefsen führt, doch so ist es nun einmal. Gerade dieser Teil von Oslo scheint mein Siegel zu tragen. Aber egal. Das Alte ist längst begraben. Von fast allen vergessen. Ich kann mich eigentlich selbst auch nicht mehr an besonders viel erinnern. Im Grunde sehe ich nur kurze unangenehme Szenen vor mir, die ich sofort in die Korridore und Irrwege des Gemüts jage. Weg mit euch. Es ist nichts Schwerwiegendes geschehen. Dafür habe ich Zeugenaussagen genug.
Etwas später stehe ich in einer stillen Straße und sehe, wie sich die roten Rücklichter des Taxis entfernen. Es ist jetzt ganz dunkel. Die Straße ist nur spärlich beleuchtet, das weiß ich zu schätzen. Es wirkt beruhigend so. Als ich die Straße überquere, kann ich deutlich das verbogene Rad meines Rollkoffers hören.
Es klingt wie ein gequälter Vogel. Ein winzig kleiner Spatz, der bald sterben muss.