Читать книгу Echo eines Freundes - Ingvar Ambjørnsen - Страница 12

7 Reue und späte Einsicht

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Entsetzt mustere ich mein Spiegelbild. Fahre mit dem Zeigefinger über Stirn, Kinn und Mund, und denke dabei: Bist du das da? Ist das derselbe Mann, der eben noch auf dem Rasen hin und her lief und sein Gefieder brausen ließ? Der Mette Meijer mit Donnerstimme zur Schnecke machte? Der halboffene Mund. Die wilden Augen, eingerahmt von roter, gereizter Haut. Oben unter der Deckenleiste hinter mir, erbarmungslos widergegeben von derselben Spiegelfläche: der klebrige Vormarsch des schwarzen Schimmelpilzes. Der beißende Gestank des Feuers hat sich in meinen Haaren und Kleidern festgesetzt. Was ist mit meiner Zunge? Dieser graue Belag?

Hast du geweint? Hast du vorhin geschrien und dein Gesicht ins Kissen gebohrt?

Ich lausche. Nein. Nur das schwache Rauschen in den Rohren.

Ich ziehe mich aus und dusche. Trockne mich ab, dusche wieder. Ziehe mich an, wasche mir Hände und Gesicht. Ziehe mich aus, wechsele auf saubere Wäsche, Hemd und Hose über.

Schleiche wie ein Schatten durch das klaustrophobische Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Durch den Bunker. Ich lasse das Licht ausgeschaltet, bleibe stehen und schaue hinaus in den Garten. Die Reste des Feuers, es schwelt noch ein wenig. Unten beim Zaun: die stark reduzierte Ladung, um die sich dann demnächst die Polen kümmern werden. Alles, was die Flammen nicht mitnehmen konnten. Auf der anderen Seite der Kiefernhecke: das leuchtende Quadrat. Die Küche der Meijern. Sie serviert ihm jetzt ihre Version der Geschehnisse. Streit am Gartenzaun. Versuch von Diplomatie. Böser Nachbar. Blödmann. Sexuell geladene Belästigung. Ich fülle einen Eimer mit Wasser, gehe hinaus und lösche die letzte Glut. Annelore ist noch immer nicht zurückgekehrt. Alle Fenster dunkel. Stille. Wo steckt sie so viele Stunden an einem normalen Werktag? Hat jemand sie informiert und ihr gesagt, was passiert ist?

Ich hätte dieses Feuer nicht anzünden dürfen. Ich hätte keinesfalls wie ein epileptischer Indianer darum herumtanzen dürfen. Ich hätte Mette Meijer nicht aus ihrer Höhle locken dürfen. Ich hätte den ganzen Müll sortieren und es dabei belassen sollen. Schluss, aus.

Ich schaffe Ordnung und verschönere alles ein bisschen. Glätte, vertusche. Erlaube mir einen weiteren unangenehmen Gedanken. Was, wenn dieser Konflikt mit Annelore Frimann-Clausen nur eine Lüge war? Eine Behauptung? Eine Art Prüfung, die der neue Mieter bestehen musste. Oder auch nicht bestehen. In Wirklichkeit sind die drei ein Herz und eine Seele. Unzertrennlich. Na gut, denke ich nun, aber dann … Mein rechter Zeigefinger hebt sich automatisch, und ich merke, wie ein schräges Lächeln auf meinen Lippen heranwächst … Aber ich habe meiner Hausbesitzerin doch meine Loyalität schon bewiesen? Annelore Frimann-Clausen meine Treue gezeigt? Da ich bei der erstbesten Gelegenheit der Feindin, die sie mir schon eine Stunde nach meinem Eintreffen hier gezeigt hat, an die Gurgel gegangen bin? Ist es nicht so? Oder ist es ganz anders? Komplizierter?

Wieder bleibe ich stehen und lausche. Es ist ganz still. Ich hebe den rechten Fuß vom Boden. Verlagere mein gesamtes Gewicht auf das linke Bein. Zähle langsam bis tausend. Dann ist das rechte Bein an der Reihe. Usw.

Laufe durch das Zimmer und schalte die Deckenlampe ein.

Tee? Sehr wohl.

Dann höre ich es. Das Geräusch einer Autotür, die zugeschlagen wird.

Stürze zur Tür und lösche das Licht. Stehe mit schräggelegtem Kopf im Dunkeln.

Ja. Schritte im Kies. Zuerst das Quietschen des schlecht geölten schmiedeeisernen Tores, dann Schritte im Kies. Ehe der Schlüssel dort oben ins Schloss geschoben wird.

Ich habe eben eine Lektion darin erhalten, wie es klingt, wenn die Hausbesitzerin nach einer Tour in die Stadt zur Basisstation zurückkehrt. Und nun scheint das Haus gewissermaßen zu erwachen, als ob es da oben über mir und um mich herum atmet und lebt. Das Geräusch des Fernsehers strömt gedämpft durch die Decke. Kaffeewasser läuft in den Kessel. Schritte dort oben, die sich zu Hause fühlen. Zu Hause nach einem langen Abend mit irgendwelchen Gleichgesinnten. Aus dem Verein der Anwaltswitwen. Vielleicht etwas Selbstloses und Wohltätiges. Afghanistanmission. Flüchtlingshilfe. Sie reden und reden. Sie kann berichten, dass sie soeben einen neuen Mieter gefunden hat, nachdem … Ja, ihr wisst ja, was mit dem vorigen passiert ist. Und jetzt wollen wir hoffen, dass es diesmal etwas besser geht. Der erste Eindruck war überaus solide. Fast durch und durch solide.

Oder vielleicht nicht. Bei ersten Eindrücken weiß man ja eigentlich nie. Und dann kann man nur zu Gott beten und aufs Beste hoffen. Dass der leicht flackernde Blick des Mannes nicht auf eine unheilbare Geisteskrankheit hinweist. Auf ein manisch geriatrisches Sexsyndrom.

Nur ein Scherz. Die Witwen lachen schallend. Zeigen Amalgam.

Entschlossen gehe ich ins Badezimmer und ziehe an der Schnur. Ein klares Signal dafür, dass ich zu Hause bin und dass die körperlichen Funktionen ihren natürlichen Lauf nehmen. Ich will nicht anfangen, mich in meinem eigenen Zuhause zu verstecken. Wenn sie etwas will, soll sie eben kommen. Ja, ich habe mitten am helllichten Nachmittag im Garten ein Feuer gemacht. Ja, ich habe die Nachbarin zusammengestaucht, und zwar so, dass die Gebärmutterwände nur so zitterten. Ich habe laut und unbeherrscht geweint. Ich habe auf einem Bein gestanden und bis tausend gezählt. Ich habe dumme Gedanken gedacht und mich selbst im Kreis gejagt.

Ich schalte den Fernseher ein.

Ich höre, dass sie ebenfalls abzieht. Wir sprechen jetzt. Kommunizieren. Alles ist normal. Zwischen uns gibt es keinen Misston. Noch nicht. Wenn wir einen Konflikt haben, hört sich das ganz anders an.

Zum Glück verlangt die Situation in der Sockeletage, dass ich jetzt Hand anlege. Dabei komme ich auf andere Gedanken als imaginäre Probleme mit der Hausbesitzerin. Was für ein herrliches Chaos! Noch hatte ich keine Zeit, meine eigenen Ordner und Mappen aus den Kartons zu nehmen, die sind noch immer an den Wänden gestapelt, und jetzt ist also noch die gesamte Ausbeute aus der Sigurdsbude dazugekommen. Die Wohnung sieht aus wie eine Mischung aus Trödelladen und gutem altmodischen Flohmarkt. Ich beschließe, als Erstes die IKEA-Regale anzubringen, die habe ich von früher her gewissermaßen in den Fingerspitzen; mit denen kann ich umgehen, sie sind noch dazu so wunderbar praktisch mit ihren breiten, verstellbaren Fächern, wie geschaffen für mein umfassendes Archiv. Von dem ich jetzt plötzlich begreife, dass es in dem unterirdischen Schlafzimmer untergebracht werden muss; ja, ich werde in Zukunft in meinem eigenen Archiv schlafen, was ich seit meiner Zeit im Kinderzimmer zu Hause im Block nicht mehr getan habe. Gut so! Wenn das alte Archiv erst in den Wandregalen verstaut ist, wird der Wohlfühlfaktor steigen, davon bin ich überzeugt, ich beruhige mich nach und nach auch beträchtlich, während ich die Alltagsgeräusche von oben höre, ihre Schritte, Türen, die geöffnet und geschlossen werden, und ich schraube an Regalen herum und summe vor mich hin, ich fange zudem an, in den alten Ordnern zu blättern, ich koche mir noch eine Kanne Tee … ein fremder Gedanke ist in letzter Zeit aufgetaucht, jetzt denke ich ihn wieder, er hat seinen Ursprung darin, dass ich mich, ein weiteres Mal, ziemlich sicher zum letzten Mal, in einer fremden Umgebung einrichten, neu anfangen werde: Soll ich die sechsundzwanzig Ordner mit Zeitungsausschnitten und Notizen über Gro Harlem Brundtland ganz einfach auf die Müllhalde wandern lassen? Sind nicht gerade diese Tausende von längst vergilbten Ausschnitten ein leuchtendes Beispiel dafür, wessen ich mich jetzt entledigen sollte? Ich sehe plötzlich einen riesigen Scheiterhaufen im Garten vor mir, wo meine gesamte selbstgewählte Gro-Epoche in Rauch und Asche verwandelt wird. Übrig bleibt: ein durch und durch erwachsener Mann, befreit von einer Sucht, die ihn mehrere Jahrzehnte lang geprägt hat. Dazu sechsundzwanzig freigesetzte Ordner, bereit, mit neuem Material gefüllt zu werden. Eine Tat und ein Ergebnis von gewaltigem symbolischen Wert. Aber dann meldet sich der Zweifel zu Wort. Das tut er. Denn was soll ich überhaupt mit diesem gewaltigen symbolischen Wert? Außerdem: Ist es nicht so, dass dieses vielleicht etwas übertriebene Interesse an Gro, der ehemaligen Ministerpräsidentin dieses Landes, von selbst zerbröselt ist? Verschwunden, als auch sie mehr und mehr aus der Öffentlichkeit verschwand? Ist es dann nicht auch ein Denkmal für mich und alles, was mir gehört, in dem ich hier jetzt blättere? Für den, der ich war? Mit dem ich gekämpft habe? Ja. So ist es. Und als ich nun zwischen den Ausschnitten in diesen Ordnern hin und her springe, allesamt nach Datum geordnet und ausgeschnitten, nachdem sie zuerst mit spitzem Bleistift und Lineal markiert worden waren, dann liebevoll mit genau der richtigen Menge Klebstoff auf dünnen Karton geleimt, sorgfältig gestrichen und geglättet, damit der Ausschnitt ganz ohne Blasen oder Falten zu sehen ist, fast wie pure Kunst, da zerdrücke ich ja doch ein Tränchen. Ich bin gerührt von meinem Fleiß und meiner Sorgfalt. Und ich blättere weiter hin und her, von einem Ordner zum anderen und zum dritten, und dann wieder zurück, während ich über Gro bei allerlei politischem Wind und Wetter lese über ihre Zeit als Umweltministerin und dann als Ministerpräsidentin. Ich lasse mich von dem Tonfall der Aussagen und Interviews rühren, ich höre sie, ich lache über ihre scharfe Zunge und über die Tollkühnheit, die sie als Person und Regierungschefin geprägt hat, und ich weiß es ja so gut. Dass aus diesem Scheiterhaufen im Garten nichts werden wird. Hier ist die Rede von einem großen Stück historischen Materials, sorgfältig gesammelt und archiviert von einem begeisterten Anhänger und Unterstützer der Norwegischen Arbeiterpartei und das über lange, lange Zeit. Ich beschließe, einen erklärenden Brief an den alten Ehrenmann und Parteisekretär Martin Kolberg zu schreiben, aus dem mein letzter Wille in Bezug auf dieses Material deutlich hervorgeht. Wenn ich nicht mehr bin, kann die gesamte Sammlung im Fiolvei 5 abgeholt werden, und das ganz gratis, ich will nicht einmal einen schlichten Kranz auf meinem Sarg. Und als ich diesen Gedanken nun gedacht habe, geht mir auf, dass das Schlafzimmer vom heutigen Tag an, oder genauer gesagt, von heutiger Nacht an, als Museum für das Leben fungieren wird, das ich hinter mir zurückgelassen habe, während das Wohnzimmer mitsamt der Küche von nun an die Gegenwart füllen wird, die Gegenwart, die mich in die Zukunft führen wird, wie immer diese auch aussehen mag. Und wenn meine Zeit auf Erden vorüber ist, wird Kolberg oder einer seiner vertrauten Mitarbeiter einen Lieferwagen schicken, dazu vermutlich eine multikulturelle Clique, die allesamt Mitglieder der Jugendorganisation der Partei sind. Ja, genauso wird es kommen.

Als die Regale samt Ordnern und Mappen angebracht waren, jeder einzelne Teil staubgewischt und gereinigt, konnte ich ungehindert vom Wohnzimmer in die Diele gehen.

Ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Es war inzwischen fast halb zwei. Ich hörte, wie Frau Frimann-Clausen den Schlussstrich unter den Tag zog, indem sie an der Schnur zog und sich davon überzeugte, dass die Tür zur Hintertreppe abgeschlossen war.

Ich selbst begnügte mich damit, ihr mit einem vorsichtigen Ruck an der Schnur auf scherzhafte Weise gute Nacht zu wünschen.

Echo eines Freundes

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