Читать книгу Die Spur führt nach Altötting... - Irene Dorfner - Страница 7

2.

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„Käse oder Schinken?“

Mario Pini erschrak und starrte die Stewardess verwirrt an. Er war mit den Gedanken sehr weit weg und dies waren nach fast drei Jahren die ersten deutschen Worte, die persönlich an ihn gerichtet wurden. Mit einem aufgesetzten Lächeln wiederholte sie gelangweilt ihre Frage. Sie hielt ihm das pappige Brötchen direkt vor die Nase und er lehnte dankend ab. Er hatte panische Angst vorm Fliegen und auf dem Flug von Caracas in Venezuela nach Frankfurt hätte er sich unter keinen Umständen abgeschnallt oder sich auch nur einen Millimeter von seinem Sitz entfernt. Auch nicht zum Pinkeln, was ihm nun mehr und mehr Sorge bereitete, denn das wurde langsam zum Problem. Sofort nach der Landung in Frankfurt, bei der er Todesängste ausgestanden hatte, schnallte er sich bereits ab, obwohl das noch nicht erlaubt war. Er nahm seine wenigen Habseligkeiten und drängelte an allen Passagieren vorbei, die ihm im Weg standen. Er hatte es jetzt sehr eilig, zu einer Toilette zu kommen. Der Aufenthalt in Frankfurt am Main war sehr kurz und bei dem Start mit der nächsten Maschine nach Stuttgart hätte er am liebsten vor Angst in den Vordersitz gebissen, denn er war nun völlig übermüdet, hungrig, leicht reizbar und mit den Nerven am Ende. Zum Glück saß neben ihm nur ein Fluggast, der in eine Zeitung vertieft war und ihn nicht beachtete.

„Wie lange haben wir noch bis Stuttgart?“, fragte er die Stewardess, die deutlich jünger und auch freundlicher war als die auf dem letzten Flug.

„Noch eine knappe halbe Stunde.“

Nicht mehr lange, und er hatte endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Dann war er wieder in Deutschland. Vor drei Jahren hatte er die Schnauze voll gehabt von seinem Beruf als Bankkaufmann und erfüllte sich mit 37 Jahren den schon lange gehegten Wunsch, einmal den Jakobsweg zu gehen. Bis dahin hatte er alles, was er an Infos darüber bekommen konnte, verschlungen und sich nicht nur mental, sondern auch konditionell auf sein großes Ziel vorbereitet. Er hatte sich mit einer großen Party von Familie und Freunden verabschiedet und wollte eigentlich nach drei Monaten wieder zu Hause sein – eigentlich. Wie das Leben so spielte, hatte er auf dem Jakobsweg nette Menschen kennengelernt, die ihn nach Venezuela eingeladen hatten. Er hatte spontan zugesagt. Warum auch nicht? Er war ungebunden und frei in seinen Entscheidungen. In Venezuela blieb er hängen. Er und seine neuen Freunde lebten gemeinsam als Selbstversorger auf einem Bauernhof und je länger er dort war, desto klarer wurde ihm, dass das genau sein Ding war. Zwar musste er körperlich hart arbeiten, aber eigentlich lebten er und seine Freunde in den Tag hinein, feierten, tranken, aßen und genossen ihr Leben in vollen Zügen. Ja, er liebte dieses Lotterleben, kam aber in letzter Zeit ins Grübeln. In drei Monaten hatte er Geburtstag. Die magische vierzig! Sollte das schon alles gewesen sein? Verlangte er nicht viel mehr vom Leben als in den Tag zu leben und nur so viel zu arbeiten, dass man gerade so über die Runden kam? Nachdem er nicht der einzige in der Gruppe war, der so dachte, beschloss er, dass es nun wieder an der Zeit war, in die alte Heimat zurückzukehren. Hier wollte er wieder ein normales Leben führen und freute sich darauf. Vor allem aber freute er sich auf seinen Onkel Giuseppe, Tante Melanie und seine beiden Cousinen Laura und Maria, die er alle schrecklich vermisst hatte. Endlich konnte er sie nach so langer Zeit wieder in die Arme nehmen, schließlich waren sie seine einzige Familie. Auf die Gesichter war er schon gespannt, denn er hatte seinen Besuch nicht angekündigt und wollte sie überraschen. Er war sich sicher, dass sein Platz in Zukunft in Deutschland war und das wollte er natürlich zuerst seiner Familie mitteilen. Von Venezuela aus hatte er sich im Internet über den Kauf eines Bio-Bauernhofes in der Nähe der Familie informiert und die interessantesten Objekte rausgesucht. Er wollte sesshaft werden und eine eigene Familie gründen, die richtige Frau würde er ganz bestimmt noch finden. Bei dem Gedanken dachte er an Conzuela, die er immer Conny genannt hatte und die das aber nicht mochte. Conny brachte ein Mal pro Woche Brot, das in dem vier Kilometer entfernten kleinen Dorf gebacken wurde und wunderbar schmeckte. Als er jetzt an sie dachte, spürte er den Geschmack des Brotes in seinem Mund. Conny! Die Verabschiedung von ihr war sehr schmerzhaft gewesen. Sie hatten sich ein paar Mal getroffen, gingen spazieren, tanzten und lachten. Mit ihr konnte er sich stundenlang unterhalten. Sie hatte einen köstlichen Humor, den er sehr mochte. Es war nichts Tieferes daraus entstanden, was er auch nicht zulassen wollte. Conny war in ihrer Heimat mit ihrer riesigen Verwandtschaft tief verwurzelt und er beneidete sie darum. Und seine Wurzeln lagen nun mal hier in Deutschland bei seiner Familie, davon war er überzeugt.

Die Landung am Stuttgarter Flughafen riss Mario jäh aus seinen Erinnerungen und verlangte ihm wieder sehr viel ab. Er war überglücklich, als er das Flugzeug endlich verlassen konnte. Das würde auf jeden Fall für ihn für lange Zeit der letzte Flug gewesen sein. Mario trat aus dem Flughafengebäude, atmete tief die frische Luft ein, die nach nasser Erde und auch nach Abgasen roch. Er nahm den riesigen Geräuschpegel um sich herum wahr, der ihn zu Anfang in Frankfurt erschreckte. Die ersten schwäbischen Brocken drangen zu ihm durch und er musste schmunzeln. Obwohl er so lange weg war, fühlte er sich nicht fremd. Er bestieg den Bus nach Reutlingen, der nächsten Etappe seiner Reise. Er sah aus dem Fenster und vieles kam ihm vertraut vor. Die saftigen Wiesen, die grünen Hügel und auch an dem Straßenverkehr konnte er sich kaum sattsehen. Schließlich entdeckte er die Achalm, die Burgruine hoch über Reutlingen, auf der er als Schulkind zu den Wandertagen und auch mit seinen Freunden zum Indianerspielen unzählige Male gewesen war. Erst jetzt spürte er, wie sehr er seine Heimat vermisst hatte, und langsam verblassten die Gedanken an Venezuela und an Conny. Damals vor drei Jahren war er innerlich völlig ausgelaugt und an einem Punkt angelangt, an dem er einfach nicht mehr konnte. Dafür gab es ein Wort, mit dem man mittlerweile sehr viel offener umging: Burnout. Sein Arzt hatte ihm diese Diagnose gestellt, die sein Umfeld nicht wahrhaben wollte. Für sie war er einfach nur ausgelaugt. Manche meinten auch, er bilde sich nur etwas ein. Er spürte, wie hinter seinem Rücken getuschelt wurde. Anfangs ärgerte er sich darüber, irgendwann war ihm das gleichgültig. Er haderte mit seinem Leben. Er war sich nicht mehr sicher, ob das, was er bis dato tat, alles so richtig war oder ob er irgendetwas versäumt hatte. Eines Tages schmiss er alles hin. Er kündigte seinen guten Job. Seine Freunde hielten ihn für völlig verrückt. Aber was andere von ihm dachten, war ihm gleichgültig. Ja, er hatte es beruflich weit gebracht und hatte hart dafür gearbeitet, aber das war ihm nicht mehr wichtig. Waren seine Freunde überhaupt seine Freunde? Er kündigte den Mietvertrag für die riesige, moderne Wohnung mitten in Reutlingen mit dem herrlichen Blick über die Innenstadt. Viele hatten ihn beneidet. Als er dann auch noch seinen Porsche verkaufte, den er heiß und innig liebte, wendeten sich viele von ihm ab. Aber er selbst war sich so sicher, dass er das Richtige tat, und war heute sehr dankbar dafür, dass er damals den Mut aufbrachte und sich so entschieden hatte. In den letzten Jahren hatte er erkannt, was er falsch gemacht hatte und warum er so unzufrieden war. Natürlich hatte er sich einen gewissen Wohlstand erarbeitet, war Mitglied in mehreren Vereinen und hatte einen sehr großen Freundeskreis, aber das erfüllte ihn nicht. Er wollte ein anderes Leben führen und ihm war es egal, was andere von ihm dachten und von ihm erwarteten. Er wollte sich nicht mehr dem Diktat anderer fügen, sondern nur noch seinem Instinkt folgen. Nur Onkel Giuseppe, Tante Melanie und die beiden Cousinen Laura und Maria hielten zu ihm und verstanden ihn. Sie standen hinter ihm und machten ihm keine Vorwürfe oder gar Vorschriften. In den letzten drei Jahren hielt er immer Kontakt mit seiner Familie, was nicht immer einfach war. Vor einigen Monaten hatte er das letzte Mal mit ihnen telefoniert, danach gab es Probleme mit den Telefonverbindungen. Jeder Versuch, seine Familie anzurufen, scheiterte. Aber jetzt war er hier und konnte persönlich mit ihnen sprechen.

Der Bus stoppte in Reutlingen, er war fast an seinem Ziel angekommen. Trotz der langen Reise und dem Schlafmangel stieg er beschwingt aus, atmete tief die Luft der Stadt mitsamt dem Dreck ein, nahm die betriebsame Hektik um sich herum wahr und fühlte sich sofort zuhause. Er ging auf direktem Weg zum Busbahnhof und stieg nach wenigen Warteminuten in den Bus nach Pfullingen, dem Ziel seiner Reise. Dort lebte seine Familie in einem schönen, alten Einfamilienhaus.

Pfullingen! Endlich! Nur noch wenige Meter und er musste aussteigen. Mario lief durch die vertrauten Straßen und Gassen bis in die Münsinger Straße und hatte nur noch wenige Schritte vor sich. Er rannte beinahe, die Vorfreude auf seine Familie nahm ihm fast die Luft. Dann stand er mit klopfendem Herzen vor der Tür. Er klingelte und wartete – nichts. Er klingelte mehrmals, aber wieder rührte sich nichts. Seltsam. Es war fast achtzehn Uhr und eigentlich war um die Zeit immer jemand zuhause. Seine Familie konnte nicht im Urlaub sein, es war Mai, dazu noch ein Montag. Beide Mädchen waren noch schulpflichtig. War heute ein Feiertag? Nein, ganz sicher nicht. Erst jetzt bemerkte Mario, dass kein Klingelschild angebracht war. Erst jetzt bemerkte er den verwilderten Vorgarten. Ein Zustand, den es bei seinem Onkel Giuseppe niemals gab. Hier stimmte etwas nicht. Aufgewühlt ging er in den Garten. Auch hier das gleiche Bild: Der Rasen war nicht gemäht worden und alles schien sehr ungepflegt. Er blickte durch das Fenster der Garage – die war völlig leer. Auch ein Zustand, den es niemals gab, denn die Garage war immer voll mit Fahrrädern, Mülltonnen und Gartengeräten, sodass Tante Melanie Mühe hatte, mit ihrem Kleinwagen Platz zu finden. Die Fenster des Hauses waren mit Gardinen zugehängt und obwohl er in jedes einzelne Fenster spähte, konnte er nichts erkennen. Wohnte seine Familie nicht mehr hier? Das konnte nicht sein, Giuseppe hätte ihm davon in Kenntnis gesetzt. Ja, die Telefonverbindung war schwierig, aber die Post funktionierte.

Mario war völlig durcheinander. Was war hier los? Er stellte seinen großen Rucksack auf der Terrasse ab und beschloss, sich in der Nachbarschaft durchzufragen. Er klingelte in den Häusern reihum, aber niemand wollte dem Fremden Auskunft geben. Erst im fünften Haus hatte er Glück, im ersten Stock öffnete sich ein Fenster.

„Grüß Gott, mein Name ist Mario Pini. Ich bin auf der Suche nach der Familie Pini in der Nummer 12, wir sind verwandt.“

„Die Familie kannte ich gut, die wohnen hier nicht mehr.“ Die alte Frau war sehr freundlich. Sie bemerkte Marios Gesicht und die Enttäuschung darin.

„Warten Sie junger Mann, ich komme runter.“

Sie öffnete die Tür, sah ihn lange an und lächelte.

„Ja, Sie sind mit Giuseppe verwandt, das sehe ich deutlich, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Außerdem habe ich Sie früher ab und zu mit einem Sportwagen hier gesehen. Habe ich Recht?“

„Ja, das stimmt, der mit dem Sportwagen war ich. Giuseppe Pini ist mein Onkel. Habe ich Sie eben richtig verstanden? Die Familie Pini wohnt nicht mehr hier? Seit wann? Das kann nicht sein, das hätten sie mir doch gesagt.“

„Mein Name ist Frieda Votteler. Kommen Sie erst mal rein, Sie sind ja vollkommen außer sich.“

Verstört folgte Mario der freundlichen Frau Votteler und setzte sich an den gemütlichen Küchentisch in der altmodischen Küche. Er sah ihr zu, wie sie Wasser auf den Gasherd stellte und Tee zubereitete.

„So Mario, ich darf doch Mario sagen? Jetzt trinken Sie erst mal einen Schluck Tee. Ich weiß von Melanie und Giuseppe, dass Sie vor drei Jahren ausgewandert sind. Ich habe versucht, Sie über eine Handynummer zu erreichen, die mir Melanie einmal für Notfälle gegeben hatte. Leider habe ich Sie nicht erreicht. Das mit der Familie Pini versteht hier in der Nachbarschaft niemand, ich am allerwenigsten. Überaus liebe und hilfsbereite Menschen. Auch die Mädchen, so hübsch und gescheit, waren überall beliebt. Vor rund vier Monaten sind sie einfach so über Nacht weggezogen, ohne sich zu verabschieden oder irgendjemandem etwas davon zu erzählen. Und wenn ich sage über Nacht, dann meine ich das auch so. Am Abend waren sie noch da und alles war in Ordnung. Am nächsten Morgen waren sie weg, und zwar mit Sack und Pack. Ich habe in der Nacht einen Lkw gehört, habe mir aber nichts dabei gedacht. Keiner weiß, wohin sie sind und vor allem, warum sie weg sind. Wissen Sie, gewisse Nachbarn wachsen einem ja ans Herz und ich vermisse sie sehr. Giuseppe und Melanie gingen mir immer gerne zur Hand und halfen, wo es nur ging, auch bei anderen Nachbarn. Im Gegenzug habe ich auf die Mädchen aufgepasst, als sie noch klein waren oder habe nach dem Rechten gesehen, wenn sie in Urlaub fuhren. In den letzten eineinhalb Jahren hat Melanie hier im neuen Supermarkt gearbeitet und ich habe das eine oder andere Mal für sie gekocht und gebacken, was mir sehr viel Freude bereitet hat. Wir haben oft zusammen gegessen, hier oder drüben. Ich kann behaupten, dass wir befreundet waren, und zwar gut befreundet. Und jetzt sind sie einfach weg und wer weiß, wo sie jetzt sind und wie es ihnen geht.“

Mario hörte fassungslos zu und begriff nur langsam, denn die Informationen sprudelten nur so aus Frau Votteler heraus. Er spürte, dass sie sich große Sorgen machte und die Pinis sehr mochte.

„Sie meinen, meine Familie ist einfach so Hals über Kopf weg? Das kann doch nicht sein, das passt überhaupt nicht. Lassen Sie mich überlegen. Ich habe das letzte Mal Anfang Januar mit ihnen telefoniert, das genaue Datum weiß ich nicht mehr, aber es muss kurz nach Silvester gewesen sein. Wir haben uns gegenseitig alles Gute für das neue Jahr gewünscht, das weiß ich genau, also muss es Anfang Januar gewesen sein. Wann sind sie weggezogen?“

Frau Votteler war aufgestanden und holte aus der Schublade einen dicken Kalender, dessen Seiten mit handschriftlichen Vermerken übersät waren. Sie blätterte zurück bis Januar.

„Hier steht es, es war der 14. Januar, sehen Sie selbst.“

„Wie bitte? Wenn sie vorgehabt hätten, umzuziehen, hätten sie mir doch etwas gesagt. Nein, das kann nicht sein, da stimmt etwas nicht.“

„Das ist genau meine Rede. Ich war sogar schon bei der Polizei. Aber dort sind, entschuldigen Sie den Ausdruck, nur überhebliche Trottel. Die hat das überhaupt nicht interessiert, was ich zu sagen hatte. Sie haben mich ausgelacht und mich als senile Alte hingestellt, die sich in fremde Angelegenheiten einmischt. Ich war von Anfang an der Meinung, dass da irgendetwas nicht stimmt, denn mir hätten sie doch bestimmt etwas erzählt, da können Sie Gift darauf nehmen. Und nachdem Sie nur wenige Tage vorher miteinander telefoniert haben und sie Ihnen ebenfalls nichts erzählt haben, bestärkt mich das in meiner Annahme.“

Mario tat diese Frau sehr gut und er fand sofort eine Verbündete in ihr. Sie hatte vollkommen Recht, das stank zum Himmel. Seine Familie würde niemals so ohne weiteres aus Pfullingen verschwinden. Er wusste, dass sie sich hier sehr wohl fühlten und auch die Mädchen niemals aus dem gewohnten Umfeld herausreißen würden. Und wer um alles in der Welt zieht mit Sack und Pack bei Nacht und Nebel aus? Ihn beschlich ein sehr mulmiges Gefühl und sein Magen krampfte sich zusammen. Die Familie Pini hatte ganz offensichtlich seine Hilfe gebraucht und er war nicht hier gewesen, er war nicht mal erreichbar. Großspurig hatte er vor drei Jahren sein Handy am Flughafen vor seinem Abflug nach Spanien zum Abenteuer Jakobsweg in den Müll geworfen. Hätte er sein Handy behalten, dann wäre er erreichbar gewesen. Er hasste sich für sein großspuriges Verhalten und seinen Egoismus.

Frau Votteler spürte Marios Gemütszustand.

„Jetzt machen Sie sich keine Sorgen und vor allem keine Vorwürfe, das ist jetzt die reinste Zeitverschwendung. So wie es ist, ist es nun mal. Was wollen wir nun unternehmen?“

Mario musste fast lachen, als er in das gutmütige, runde und entschlossene Gesicht der kleinen, stämmigen 68-jährigen Frau blickte, die ihm hier in einem geblümten, weiten Kleid mit dicker Strumpfhose und bequemen Schlappen gegenübersaß. Die Frisur, die Pausbacken und die wachen Augen erinnerten ihn irgendwie an die alten Filme von Miss Marple.

„Waren Sie schon im Haus drin und haben sich umgesehen?“

„Nein, das ging nicht. Natürlich habe ich es versucht, ich habe einen Hausschlüssel. Aber die Schlösser wurden ausgetauscht.“

„Haben Sie ein Brecheisen?“

„Im Keller bestimmt, kommen Sie mit.“

Er folgte ihr in den völlig vollgestopften Keller, fand aber das Werkzeug auf Anhieb.

„Brechen wir jetzt ein?“ Frau Votteler war aufgeregt und zitterte am ganzen Leib.

„Ich breche dort ein und Sie bleiben hier, haben wir uns verstanden?“

Mario versuchte, so etwas wie Autorität auszustrahlen, was ihm aber misslang. Bei seiner Körpergröße von 1,67 Meter, der hageren Statur, den schulterlangen, ungepflegten Haaren und dem Hippy-Outfit nahm ihn nicht einmal die gute Frau Votteler für voll.

„Noi Mario, das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Entweder wir gehen gemeinsam in das Haus, oder ich rufe die Polizei.“ Das hatte gesessen. Mario verschlug es fast die Sprache.

„Das ist Erpressung.“

„So sieht es aus. Sie werden meine Hilfe schon noch zu schätzen wissen.“

Sie zog Straßenschuhe an, nahm eine Strickjacke von der Garderobe und ging ihm voraus. Mario hatte keine andere Wahl, er musste das mit ihr gemeinsam durchziehen. Es war inzwischen halb acht geworden, aber noch viel zu hell.

„Wir sollten warten, bis es dunkel ist,“ schlug Mario flüsternd vor, als sie auf der Terrasse standen.

„Von hier aus kann uns nur Frau Reinhardt sehen. Die sitzt gerade vorm Fernseher, weil ihre Lieblingsserie läuft. Und dort wohnt Herr Scherer, der nicht nur schwer hört, sondern fast blind ist. Auf uns achtet niemand, glauben Sie mir. Fangen Sie endlich an.“

Mario war handwerklich sehr ungeschickt. Mit zitternden Händen setzte er das Brecheisen an. Machte er das überhaupt richtig? Woher hätte er das wissen sollen, niemals zuvor war er irgendwo eingebrochen. Er brauchte eine Ewigkeit, bis die Terrassentür endlich nachgab, wobei er sie erheblich demolierte. Frau Votteler war sehr ungeduldig und trieb ihn immer wieder mit unangebrachten Kommentaren an. Sie traten über Glassplitter durch die Terrassentür ins Hausinnere und sahen sich in dem völlig leeren Wohnzimmer um. Schweigend und fassungslos gingen die beiden von einem Zimmer ins nächste. Bis auf die Vorhänge an den Fenstern war nichts, auch nicht das Geringste, im Haus verblieben.

„Das kann doch alles nicht wahr sein,“ rief Frau Votteler aufgebracht, „sie haben alles mitgenommen? Sogar die Küche ist abgebaut worden. Das müssen ja mitten in der Nacht Massen von Helfern gewesen sein. Das glaube ich alles nicht.“

„Lassen Sie uns gehen,“ entschied Mario, der diese Leere nicht mehr ertragen konnte. Schweigend saßen die beiden noch lange an Frau Vottelers Küchentisch und tranken einen Beruhigungsschnaps nach dem anderen.

„Und jetzt?“, durchbrach Frau Votteler die Stille.

„Wir suchen natürlich weiter, das ist klar. Arbeitsstelle, Kollegen, Schule, und so weiter. Es gibt viele Stellen, die man abklappern kann. Wir fangen aber erst morgen damit an. Sie gehen jetzt erst mal ins Bett und schlafen sich aus. Ich muss mir noch ein Hotelzimmer suchen.“

„Das kommt ja gar nicht in Frage, Sie bleiben hier, ich habe ein Gästezimmer für Sie. Ich ahne schon, was Sie vorhaben. Sie wollen das alles ohne mich machen. Aber das können Sie vergessen. Versprechen Sie mir sofort, dass wir gemeinsam auf die Suche gehen!“ Frau Votteler sah ihn flehend an und Mario konnte nicht anders.

„Wie könnte ich ohne meine Miss Marple auf die Suche gehen? Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, dass wir gemeinsam nach meiner Familie suchen.“

Die leicht angeschwipste Frau Votteler lächelte zufrieden. Sie schlurfte ihm voraus und öffnete eine Tür am Ende des Flures.

„Hier ist Ihr Reich junger Mann, Bettwäsche ist im Schrank, nebenan ist das Bad. Sie finden schon, was Sie brauchen. Ich muss jetzt ins Bett. Gute Nacht.“

Mario schmunzelte. Ihm gefiel die alte Dame - und die Tatsache, dass sie so ein Gottvertrauen zu ihm hatte. Er hatte keine Lust, das Bett zu beziehen, und zog seinen Schlafsack aus dem Rucksack. Nach einer ausgiebigen Dusche in dem ebenfalls altmodischen Badezimmer fiel er in einen unruhigen Schlaf.

„Es wurden Aktionen im Haus Pini gemeldet. Kümmern Sie sich darum.“

Die wenigen Worte schreckten Leo Schwartz auf. Bei der Suche nach Jürgen Knoblich hatte er herausgefunden, dass dieser eine Schwester hatte: Melanie Pini. Seitdem ließ er das Haus überwachen. Leo war nur selten in seinem Büro in Stuttgart, das ihm zur Verfügung gestellt wurde. Er arbeitete lieber von zuhause aus, was ihm sehr viel angenehmer war. Er war in Stuttgart bei den dortigen Kollegen nicht gerne gesehen. Niemand wusste, warum er hier war, Gerüchte machten die Runde. Was lief hinter ihrem Rücken ab? Und warum wurde ein Kollege aus Ulm geholt? Waren sie selbst nicht in der Lage, dessen Arbeit zu machen? Misstraute ihnen der Chef? Leo spürte die Ablehnung. Außerdem machten sich viele hinter seinem Rücken über ihn lustig, was seinen Kleidungsstil betraf: Mit seiner Körpergröße von 1,90 Meter trug er stets Jeans, Cowboystiefel, eine alte Lederjacke und T-Shirts mit dem Aufdruck von längst vergessenen Rockstars. Leo liebte diese T-Shirts, für die er ein Heidengeld bezahlte.

Leo arbeitete seit zwei Wochen an dem Fall Knoblich. Die einzige Spur, die er bislang hatte, war Melanie Pini. Längst hatte er nicht mehr an diese Spur geglaubt, bis er diese Nachricht bekam.

Endlich kam wieder Bewegung in die Sache. Er musste so schnell wie möglich mit Zeitler sprechen. Der reagierte sofort.

„Finden Sie heraus, was es damit auf sich hat. Wir müssen Knoblich endlich aus dem Verkehr ziehen.“

Die Spur führt nach Altötting...

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