Читать книгу Das Barnabas-Evangelium - Irene Dorfner - Страница 7
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ОглавлениеAltötting/Deutschland, 27. November
Die Weihnachtsfans fieberten auch in diesem Jahr wieder dem Altöttinger Christkindlmarkt entgegen, der heute endlich startete. Gut drei Wochen lang konnte man den Duft des Glühweins, der Bratwürste und der Zuckerbäckerei wieder genießen, während man die besondere Stimmung des Christkindlmarktes, der eingebettet in prächtige Barockgebäude am berühmten Kapellplatz jedes Jahr stattfand und weit über die Stadtgrenze hinaus berühmt und beliebt war. Wer könnte sich dem Zauber der Besinnlichkeit und der Ruhe, gepaart mit geschäftigem Treiben entziehen? Hans Hiebler, Kriminalhauptkommissar der Mühldorfer Kriminalpolizei, jedenfalls nicht. Der 54-jährige, sportliche, attraktive Junggeselle mit dem besonderen Faible für Frauen schlenderte mit seiner neuesten Eroberung Rita über den Christkindlmarkt und war glücklich. Die junge Rita war wie eine frische Brise in seinem Leben und er ließ sich von ihr und ihrem Temperament gerne mitreißen. Beruflich war es in den letzten Wochen sehr ruhig gewesen. Es gab fast nur Routinearbeiten, alles war friedlich in seiner beschaulichen oberbayrischen Heimat. Er kaufte Rita ein Lebkuchenherz mit einem kitschigen Spruch, über den sich beide amüsierten.
„Ich bin dir noch einen Glühwein schuldig,“ strahlte ihn Rita an. „Warte hier und halte mir ein Plätzchen frei. Bin gleich zurück.“
Hans stellte sich an einen Tisch und sah der für ihn viel zu jungen Frau hinterher. Rita war erst 32 Jahre alt, er war also über 20 Jahre älter als sie. Was sollte ihn an ihrem Alter stören? Die anderen tuschelten über sie, das hatten sie längst bemerkt. Hans war es egal, was andere über ihn dachten. Er genoss die Zeit mit ihr. In ihrer Gegenwart fühlte er sich jung und frisch; was sollte daran verkehrt sein?
Dann gab es einen fürchterlichen Knall!
Hans ging in Deckung, viele Dinge flogen ihm um die Ohren. Was war passiert? Qualm und Rauch füllte die Luft und die Sicht war gleich Null! Schreie, fürchterliche Schreie folgten und wurden immer mehr. Dann brach Panik aus. Hans rettete sich neben den Eingang einer Verkaufsbude, sonst hätten ihn die Menschen umgerannt. Was zum Teufel war hier los? Hans rief seine Kollegen in Mühldorf an und hatte keine Ahnung, dass sein Chef Rudolf Krohmer am anderen Ende der Leitung war. Der Lärm um ihn herum war zu groß. Hans hatte keine Chance, auch nur ein Wort zu verstehen. Er musste einen Platz finden, von dem aus er telefonieren konnte. Er lief einfach los und suchte Schutz in der Stiftskirche.
„Feuerwehr und mehrere Krankenwagen zum Kapellplatz Altötting. Schnell!“, rief Hans ins Handy und seine Worte hallten in der Kirche wider. Viele Personen hatten ebenfalls Schutz in der Stiftskirche gesucht, aber Hans nahm sie nicht wahr.
Rudolf Krohmer, Chef der Mühldorfer Polizei, verstand seinen Kollegen nun viel besser und gab sofort die Anweisung weiter.
„Was ist passiert?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich vermute eine Bombe.“ Hans hatte aufgelegt und ging wieder nach draußen. Rita! Wo war sie?
Krohmer war geschockt. Eine Bombe auf dem Christkindlmarkt Altötting war eine Katastrophe! Nachdem er Feuerwehr und Rettungswagen angefordert hatte, rief er umgehend den Kollegen Schenk an. Der Chef der Altöttinger Polizei war ein unsympathischer, schwieriger Charakter, mit dem er regelmäßig aneinandergeriet. Jetzt ging es nicht um persönliche Aversionen, es gab Wichtigeres.
„Es stimmt also wirklich? Eine Bombe auf dem Christkindlmarkt? Woher haben Sie Ihre Informationen?“
„Einer meiner Leute ist privat vor Ort. Es herrscht Panik. Ich habe ihn kaum verstanden. Feuerwehr und Rettungskräfte sind unterwegs. Ich fahre sofort los, wir müssen umgehend einen Krisenstab einrichten.“
Waldemar Schenk lehnte sich zitternd zurück. Eine Bombe in seinem beschaulichen Altötting! Und dann noch auf dem Christkindlmarkt! Für einen kurzen Moment war er versucht, einfach davonzulaufen. Er war überfordert. Reiß dich gefälligst zusammen! Er öffnete das Fenster, atmete tief durch, und ging wieder an seinen Schreibtisch. Jetzt galt es, die Nerven zu bewahren!
Rauch und Qualm lichteten sich nur langsam und Hans konnte das Ausmaß immer noch nur erahnen. Es war schwer, in der Luft zu atmen und er hielt sich den Schal vors Gesicht. Er näherte sich dem Zentrum des Unheils. Wo war seine Rita? Er betete inständig, dass sie in Sicherheit war. Ganz bestimmt war sie das! Hans ging weiter und stand vor der Stelle, an der vor wenigen Minuten noch eine Bude stand. Nichts war von ihr übriggeblieben. Die beiden Nachbarbuden hatten auch ordentlich was abbekommen, aber sie standen noch. Hans hörte die Sirenen. Hilfe nahte.
„Rita? Rita!“ Hans rief mehrmals ihren Namen. Anfangs laut und ruhig, dann immer hektischer, bis er schließlich hysterisch wurde. Er suchte in jedem Winkel und jedem Eck. Wo war sie nur? War sie tatsächlich so weit weggelaufen? Verständlich, nach so einer heftigen Explosion. Hans wusste nicht mehr, wie lange er nach ihr suchte, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Leo Schwartz war wenige Minuten nach Krohmers Anruf auf dem Christkindlmarkt eingetroffen. Er wartete auf die Sprengstoffspürhunde, die nach einer halben Stunde eintrafen und ihre Runden drehten. Krohmer und Schenk mussten ausschließen, dass sich eine weitere Bombe auf dem Gelände befand, bevor sie den Rettungskräften erlauben konnten, bis ins Zentrum der Explosion vorzudringen. Bis dahin kümmerten sie sich um die Verletzten, die sich in Sicherheit gebracht hatten. Endlich gaben die Hundeführer Entwarnung, was Leo mit Erleichterung aufnahm. Der 50-jährige, 1,90 m große Schwabe stand fassungslos vor der zerstörten Bude. Zwei Sanitäter waren ihm gefolgt und fanden zum Glück keine Verletzten mehr, Passanten hatten sie in Sicherheit gebracht. Über drei Leichen waren von unerschrockenen Helfern Tücher gelegt worden. Leo wies sich dem überforderten Uniformierten gegenüber aus und besah sich die Gesichter der Leichen. Die waren so sehr entstellt, dass man nur aus den Kleidungsfetzen erkennen konnte, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Sie hatten es mit zwei toten Männern und einer Frau zu tun. Um wen es sich dabei handelte, musste später festgestellt werden. Leos Kollege Werner Grössert war nun ebenfalls vor Ort und übernahm die Aufgabe, die verstörten Zeugen zu befragen. Der 40-jährige Werner hatte auch heute wieder einen sehr teuren Anzug an und passte optisch nicht in dieses chaotische Umfeld.
Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung, hatte den Tatort weiträumig abgesperrt und machte sich mit seinen Leuten sofort an die Arbeit. Es war lange her, dass er es mit einer Bombe zu tun hatte. Jetzt galt es, jede noch so kleine Kleinigkeit zu sichern, um damit eventuell die Herkunft einzelner Bauteile nachweisen zu können. Jeden Polizisten, der ihn mit Fragen löcherte und ihn bei seiner Arbeit störte, verwies er schroff hinter die Absperrung und verweigerte jegliches Gespräch. Sahen die nicht, dass seine Arbeit wichtig war?
Leo kannte Fuchs schon lange und ließ ihn in Ruhe. Wo war Hans? Hatte Krohmer nicht gesagt, dass er den Christkindlmarkt besucht und die Detonation mitbekommen hatte? Leo sah sich um. War das dort hinten nicht sein Freund und Kollege? Doch! Das war er. Zielstrebig lief er auf ihn zu und blieb wenige Schritte vor ihm stehen. Was war los mit Hans? Er rief ununterbrochen den Namen Rita und schien sie überall zu suchen.
„Hans? Was ist los mit dir?“
„Ich kann meine Rita nicht finden. Sie wollte uns einen Glühwein holen, weil sie eine Wette verloren hat. Sie ist verschwunden. Ich muss sie doch finden!“ Hans war vollkommen aufgelöst.
„Wo wollte Rita den Glühwein holen? Von welcher Bude?“
„Die gibt es nicht mehr, dort habe ich schon nachgesehen. Rita war nicht dort. Sie hat sich ganz bestimmt erschrocken und ist davongelaufen.“
„Sie wird schon auftauchen, keine Sorge. Sieh mich an. Hans? Bist du in Ordnung?“ Jetzt, wo er in das vertraute Gesicht seines Freundes und Kollegen Leo sah, beruhigte er sich. Er nahm den Schal vom Gesicht und atmete mehrmals durch. „Geht es wieder? Bist du in der Lage, die Arbeit aufzunehmen?“
Hans nickte nur. Natürlich musste er arbeiten. Bis jetzt hatte er nur nach seiner Freundin gesucht und schämte sich jetzt fast dafür. Leo hatte Recht. Rita war irgendwo in Sicherheit und er musste dringend seiner Arbeit nachgehen.
„Ich habe mit dem Einsatzleiter da vorn gesprochen. Wir haben es mit 14 Verletzten zu tun, vier davon schwer.“
„Keine Toten?“
„Drei Leichen. Zwei Männer, eine Frau. Sie liegen noch am Tatort. Willst du sie sehen?“
„Muss nicht sein, es gibt Wichtigeres.“ Leo und er schlossen sich Werner an, der allein mit den Befragungen der Zeugen überfordert war. Viele behaupteten, weder etwas gesehen, noch gehört zu haben. Die meisten von ihnen waren total geschockt. Erfahrungsgemäß fielen dem einen oder anderen doch einige Kleinigkeiten auf, die für die Ermittlungen von enormer Wichtigkeit sein konnten. Nach zwei Stunden war der Christkindlmarkt wie leergefegt. Alle Zeugen, Besucher, Verletzte und Schaulustige waren verschwunden. Nur noch die Polizeibeamten waren bei der Arbeit. Schenk und Krohmer hatten veranlasst, dass die spontan verlassenen Buden bewacht wurden, da sie Plünderungen nicht auch noch brauchen konnten. Vor allem musste die Presse davon abgehalten werden, sich dort herumzutreiben. Nein, es war besser, den ganzen Kapellplatz abzusperren und bewachen zu lassen.
Dann wurden die Leichen abtransportiert. Leo, Hans und Werner standen zusammen und beobachteten die Arbeit. Von einer Bahre rutschte etwas herunter. Es fiel nur zwei Meter entfernt von den Kripobeamten auf den Boden.
„Was ist das?“ Werner griff danach. „Ein Lebkuchenherz. Gehört wohl der Toten.“
Hans hatte das Lebkuchenherz sofort wiedererkannt. Er ging zu der Toten und schlug das Tuch zur Seite: Rita!