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Der Bombenanschlag zur Eröffnung des Christkindlmarktes Altötting schlug riesige Wellen. Die Tageszeitungen waren voller Bilder, Kommentare und Zeugenberichten. Viele Fernseh- und Radioübertragungswagen waren vor Ort, belästigten alle möglichen Passanten und verstopften mit ihren Fahrzeugen die sowieso schon enge Innenstadt. Der Termin der Stadtratssitzung zur weiteren Vorgehensweise im Falle Christkindlmarkt war durchgesickert und das Rathaus war voller Journalisten und Fernsehteams.

Waldemar Schenk war der Einladung des Bürgermeisters zu der außerordentlichen Sitzung gefolgt. Er hatte darum gebeten, dass ihn Krohmer begleitete. Unter den Anwesenden herrschte Hektik und Unbehagen. Es war offensichtlich, dass alle durch den Anschlag völlig überfordert waren. Schenk und Krohmer hörten sich die Vorwürfe und Seitenhiebe an, die allesamt total daneben waren. Wie hätte die Polizei diesen Anschlag im Vorfeld verhindern sollen? Nichts wies darauf hin.

„Wir beruhigen uns jetzt alle. Mit Schuldzuweisungen kommen wir doch nicht weiter. Wie wir bereits mehrfach betont haben, lagen der Polizei keine Hinweise auf einen Anschlag vor.“

„Hätte eine stärkere Polizeipräsenz das nicht verhindern können?“, rief ein Stadtrat aufgebracht ein.

„Warum hätten wir präsenter sein sollen? Nochmals: Wir hatten zu keiner Zeit einen diesbezüglichen Hinweis vorliegen. Können wir uns darauf einigen, dass auch wir von den Ereignissen völlig überrascht wurden? Einen solchen Anschlag gab es in unserem Zuständigkeitsbereich noch nie. Wir sollten uns jetzt alle beruhigen und überlegen, wie wir weiter verfahren. Wie gehen wir mit den Medien um?“ Krohmer war wie sein Kollege Schenk nicht scharf darauf, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Das kostete nur unnötig Nerven und Zeit. Außerdem hatten sie beide schon die Erfahrung gemacht, dass nur das gesendet wird, was interessant genug und oft völlig aus dem Zusammenhang gerissen wurde.

„Das übernehme ich,“ sagte der Stadtrat Krautwein, dem außer einer gutgehenden Gaststätte auch noch viele Immobilien in der Innenstadt gehörten. Krautwein war mediengeil und nutzte jede Gelegenheit, sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken. Die anderen reagierten genervt. Immer dieser Krautwein! Eigentlich wäre das die Aufgabe des Bürgermeisters gewesen, der aber ebenfalls gerne darauf verzichtete.

„Gut, dann kümmern Sie sich darum Herr Krautwein,“ sagte Schenk, dem ganz andere Dinge wichtig waren. „Was haben Sie für die Fortführung des Christkindlmarktes geplant? Ich habe mich mit dem Kollegen Krohmer auseinandergesetzt und von unserer Seite geben wir grünes Licht.“

Jetzt entbrannte abermals eine heftige Diskussion unter den Anwesenden. Die einen waren für einen Abbruch und fanden schon allein die Idee der Fortführung als Affront den Toten und Verletzten gegenüber. Andere wollten die Fortführung mit allen Mitteln erzwingen.

Schenk und Krohmer war die Diskussion zuwider. Die Entscheidung war nicht ihr Problem, sie mussten nur mit ihr leben. Wenn der Christkindlmarkt fortgeführt wurde, bedeutete das eine höhere Polizeipräsenz.

Die Entscheidung war gefallen: Der Christkindlmarkt wird fortgeführt. Die Argumente dafür waren einfach zu schwer, als dass man sie ignorieren könnte. Viele Vereine und Gruppen haben sich angekündigt, die ihrerseits auf Nachfrage trotz des Anschlags kommen wollten. Nur die Honoratioren wollten sich die Teilnahme an der Schlussveranstaltung am 20. Dezember noch überlegen. Die Diskussion zog sich noch lange hin. An deren Anschluss stellte sich der Stadtrat Krautwein der Presse und gab freimütig und ausführlich Auskunft. Krautwein war sich sicher, dass er morgen in allen Medien erscheinen würde.

Die Spurenlage war recht dürftig. Bei der selbstgebastelten Rohrbombe wurden keine verwertbaren Spuren gefunden. Auch die Auswertungen der verschiedenen Überwachungskameras, um die sich Fuchs mit seinen Mitarbeitern kümmerte, waren wertlos. Wegen den vielen dichtgedrängten Menschenmassen des Christkindlmarktes konnte lediglich vermutet werden, wann die Bombe an der fraglichen Hütte platziert worden war.

Selbstverständlich gingen die Ermittlungen zuerst in die Richtung des Budenbetreibers, der in Altötting wohnte. Der 62-jährige, gebürtige Grieche Dimitri Salonakis betrieb früher ein griechisches Lokal, das er wegen eines Herzleidens vor sechs Jahren leider aufgeben musste. In den letzten fünf Jahren war die Teilnahme am Christkindlmarkt eine willkommene Abwechslung für ihn. Der Tod des überall beliebten Griechen löste in der Altöttinger Bevölkerung zusätzlich eine Welle der Bestürzung aus. Leo und Hans suchten die Witwe und die beiden erwachsenen Söhne zuhause auf.

„Hatte Ihr Mann Feinde? Wurde er bedroht? Gab es in letzter Zeit irgendwelche Auseinander-setzungen?“

„Dimitri war eine Seele von Mensch und hat niemandem etwas getan. Er war überall beliebt und die Menschen haben ihm gerne ihre Sorgen anvertraut, er hatte immer für alle ein offenes Ohr.“ Olivia Salonakis war gebürtige Polin, das hatten die Polizisten im Vorfeld herausgefunden. Die hübsche, blonde Frau wirkte sehr gefasst und gab sich Mühe, hochdeutsch zu sprechen. „Obwohl mein Mann noch sehr viel Familie in Griechenland hatte, war hier sein Lebensmittelpunkt. Er liebte Bayern und die Traditionen. Er hat damals darauf bestanden, unsere Söhne Josef und Matthias zu nennen, bayrische Traditionsnamen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum gerade unser Stand Ziel eines Anschlags wurde.“

„Denk doch nach Mama,“ sagte Matthias Salonakis. Der 22-jährige Mann lümmelte in einem Sessel und hielt sein Handy in der Hand. „Papa war Grieche! Siehst du keine Nachrichten? Durch die andauernden Flüchtlingsströme sind Ausländer das Ziel des Hasses geworden.“

„Das glaube ich nicht,“ mischte sich Josef Salonakis ein. „Papa war mehr Deutscher als Grieche. Ich denke, dass es reiner Zufall war, dass es gerade unsere Bude getroffen hat. Wie viele andere auch bin ich der Meinung, dass sich irgendein Idiot am Christkindlmarkt selbst gestört hat und seine Wut durch eine Bombe zum Ausdruck gebracht hat.“ Josef Salonakis war ganz anders als sein Bruder. Er war ruhig, hatte gütige Augen und ein sanftes, porzellanartiges Gesicht. Er saß direkt neben seiner Mutter und hielt ihre Hand. Die Polizisten wussten bereits vor ihrem Besuch, dass Josef Rechtswissenschaften studierte, während Matthias eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker absolvierte.

Nun entbrannte eine heftige Diskussion innerhalb der Familie Salonakis, die immer lauter wurde. Vor allem die resolute Olivia nahm kein Blatt vor den Mund und gab ihrem Sprössling Matthias kräftig contra. Es war unverkennbar, dass Matthias ganz nach seiner Mutter kam.

Auch die Kriminalpolizei hatte an einen ausländerfeindlichen Anschlag gedacht. Allerdings bekannten sich danach immer irgendwelche Gruppen und prahlten mit ihrer Tat. Diesmal gab es nichts, absolut nichts.

Die Familie Salonakis erlaubte, dass Leo und Hans den Laptop und das Handy des Toten mitnahmen. Vielleicht gab es darauf Informationen, die sie weiterbrachten. Fuchs nahm sich beides sofort vor und musste die Kriminalbeamten enttäuschen: Das Handy zeigte nur Verbindungen zu Familienmitgliedern und der Laptop wurde nicht häufig benutzt. Die wenigen aufgerufen Seiten waren harmlos und unverfänglich.

Die Möglichkeit des ausländerfeindlichen Hintergrundes konnte nicht bestätigt werden, was Waldemar Schenk zufriedenstellte. Es gab in der Vergangenheit keine ausländerfeindlichen Auffälligkeiten, auch nicht seit den massiven Flüchtlingsströmen, mit denen vor allem Bayern zu kämpfen hatte. Hier waren der gemütliche Lebensstil und die positive Einstellung der Bevölkerung von Vorteil.

Der Christkindlmarkt Altötting wurde nach zwei Trauertagen, die auch für Aufräumarbeiten genutzt wurden, fortgeführt. Nach anfänglicher Entrüstung in der Bevölkerung ging man schnell zur Tagesordnung über. Waldemar Schenk hatte für eine ständige Polizeipräsenz gesorgt, die allgemein sehr gut angenommen wurde und womit die Christkindlmarkt-Besucher sich sehr viel sicherer fühlten. Das Medieninteresse ließ zum Leidwesen Krautweins stark nach. Niemand interessierte sich mehr für den Bombenanschlag, den man allgemein als Tat eines Irren abtat, den die Polizei wohl niemals finden würde.

Krohmer und Schenk standen im ständigen Kontakt mit den nun überall veranstalteten Weihnachts- und Christkindlmärkten. Auch dort sorgten sie für Polizeipräsenz, auch wenn sie bei kleineren Veranstaltungen nur aus einem Polizisten bestand. Der Personalaufwand stieß an seine Grenzen und trotz der vielen Urlaubsanträge musste Schenk eine Urlaubssperre aussprechen; bereits schon die zweite in diesem Jahr. Das gab Ärger, den er aber für die Sicherheit gerne in Kauf nahm.

Das Barnabas-Evangelium

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