Читать книгу Zu viel riskiert - Irene Dorfner - Страница 9
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ОглавлениеHans war starr vor Schreck und ließ Kaffee und Schokoladenherz fallen. Instinktiv griff er sich an die rechte Seite seines Hosenbundes, wo sonst seine Waffe war. Aber da war nichts. Er war krankgeschrieben und seine Waffe lag sicher verwahrt zuhause. Was für ein Mist! Er humpelte auf seinen Krücken näher und versuchte, die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken, damit sich Anita in Sicherheit bringen konnte. Er war nahe genug an Anitas Wagen und registrierte, dass sie ihre Waffe fest umklammert hielt, sie aber nicht benutzte.
„Schieß doch!“, schrie er laut wieder und wieder, aber sie starrte nur auf den Mann vor ihr, der Schritt für Schritt näher kam. Warum schoss sie nicht? Und warum schoss er nicht?
Der Fremde hatte Anitas Wagen erreicht und öffnete die Fahrertür. Er zog Anita aus dem Wagen. Hans konnte nichts dagegen machen. Er humpelte näher, schrie und versuchte, bis zu Anita durchzudringen oder wenigstens den Mann abzulenken, aber beide reagierten nicht. Hans war völlig überfordert. Was war hier los? Anita unternahm nichts, sie starrte den Mann nur an – er sie aber auch.
Jetzt sprach der Mann mit Anita, wobei er die Waffe senkte und sie nicht mehr auf sie richtete. Auch Anita hatte ihre Waffe gesenkt. Was sollte das? Hans war noch zu weit weg und verstand kein Wort von dem, was die beiden miteinander sprachen.
„Wolfgang? Bist du das?“ Anita Seidl hatte geahnt, mit wem sie es zu tun hatte, wollte es aber nicht wahrhaben.
„Anita? Das kann doch nicht wahr sein! Was machst du hier?“
„Meinen Job.“
„Du bist die Frau, die mir auf den Fersen ist und mir das Leben schwer macht?“
„Du bist derjenige, der diese widerlichen, menschenverachtenden Geschäfte macht?“
Wolfgang Lastin war erschrocken. Er hätte nie im Leben damit gerechnet, auf Anita zu treffen. Er wollte die lästige Frau, die ihn seit vielen Wochen beschattete und ihn damit echt nervte, ein für alle Mal endlich los werden. Er hatte dafür gesorgt, dass sie einen Skiunfall hatte, aber es hatte den Falschen getroffen. Wie konnte er denn wissen, dass die beiden dasselbe Outfit trugen? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ein älteres Pärchen dieselben Skianzüge und Skistiefel trugen? Sogar Mütze, Ski und Skibrille waren gleich. Wie albern und infantil war das denn? Als er seinen Fehler bemerkte, war es zu spät. Trotzdem hatte er die Hoffnung, dass die Frau ihn endlich in Ruhe ließ. Ja, er wusste, dass die Frau Anita Seidl hieß und in München lebte. Aber dass es sich dabei um seine Anita handelte, hätte er nie für möglich gehalten. Wolfgang Lastin zögerte. Noch vor wenigen Augenblicken war er gewillt gewesen, sie einfach zu erschießen, da er mit den Nerven am Ende war. Diese Frau, die seit Wochen überall auftauchte, war die Pest. Seine Geschäfte durften von nichts und niemandem gestört werden oder in Gefahr geraten, einen Schatten konnte er nicht brauchen. Diese Frau konnte er nicht töten. Anita! Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Das war jetzt nicht wichtig. Was sollte er jetzt tun? Jeden Moment würde Mitterhuber auftauchen und der hätte sicher kein Problem damit, Anita einfach zu erschießen. Lastin nahm ihr unsanft die Waffe weg.
„Hübsches Spielzeug“, sagte er und steckte die Waffe ein. Dann sah er sich um. Die Zeit drängte. „Nimm deine Tasche!“
„Warum?“
„Weil dort sicher Unterlagen über mich drin sind. Mach, was ich dir sage! Das hier ist kein Spaß, Anita!“
Sie nahm ihre Tasche, die wie immer prall gefüllt war. Wolfgang dachte an alles. Wenn sie die Tasche mitnahm, gab es nur noch einen Hinweis auf den Fall, den sie vor zwölf Wochen übernommen hatte und den sie gerade gründlich vermasselt hatte. Warum hatte sie ihm nicht einfach ins Bein oder in den Arm geschossen? Jetzt war es dafür zu spät. Ob sie es wagen konnte, die Mappe im Wagen zu hinterlassen? Sie musste es versuchen.
„Mach keine Spielchen!“, sagte Wolfgang, der ahnte, was die Frau vorhatte. Anita nahm die Handtasche an sich, die ihr Wolfgang sofort abnahm. Er suchte nach dem Handy und nahm es an sich. „Was ist mit deinem Partner? Wieviel weiß er?“
Anita wurde schlecht.
„Nichts, das musst du mir glauben! Diskretion ist für mich sehr wichtig.“ Anita hoffte inständig, dass Wolfgang ihr glaubte. Er musste Hans in Ruhe lassen.
„Gut, ich will dir das glauben, obwohl ich meine Zweifel habe. Komm mit!“
„Aber…“
Wolfgang Lastin packte Anita am Arm und zog sie einfach mit sich. Dann drehte er sich um und schoss auf Hans, der nicht mehr weit von Anitas Wagen entfernt war. Als Hans den Schuss hörte, nahm er Deckung hinter dem Lieferwagen, der in der Nähe stand. Hans spürte die Schmerzen nicht, als er sich auf den Boden fallen ließ. Es fielen mehrere Schüsse, dann war es ruhig. Hans rappelte sich auf, was unendlich viel Zeit kostete. Er konnte nur noch dem Wagen hinterhersehen, der mit hohem Tempo davonbrauste. Was war hier los? Noch im Schutz des Lieferwagens sah er einen weiteren Mann, der aus dem Haus rannte, das sie seit heute früh beobachtet hatten. Hans sah sich suchend um und wurde panisch. Wo war Anita? Erst jetzt realisierte er, dass der zweite Mann ebenfalls auf ihn schoss. Hans verschanzte sich erneut hinter dem Lieferwagen. Er verstand, dass der Mann von vorhin seine Frau einfach mitgenommen hatte. Während Anita entführt wurde, wurde weiter auf ihn geschossen. Was war das für eine Scheiße?
Martin Mitterhuber starrte in den blinden Spiegel der alten Toilette, die tatsächlich noch einen Wasserkasten mit Kettenzug hatte. Er war stinksauer. Sein Geschäftspartner Wolfgang Lastin hatte ihn in dieses Kaff gelotst, wo sie die Details für die weiteren Geschäfte besprechen wollten. Der Chef hatte eindringlich gebeten, Lastin umzustimmen und zu überzeugen, mehr Kobalt zu liefern. Dass das seine letzte Chance war, wusste Lastin nicht. Mitterhuber wusste längst, dass Lastin ein Blender war, der seit Monaten nur leere Versprechungen machte und ihn hinhielt. Der Mann konnte die Liefermengen nicht erhöhen, selbst wenn er wollte. Mitterhuber war enttäuscht, denn er selbst hatte den Mann aufgebaut und ihn geschickt manipuliert. Als Lastin ihn kennengelernt hatte, wusste der noch nicht einmal, wie man Kobalt schrieb und welche Möglichkeiten sich damit auftaten. Lastin funktionierte nicht mehr so, wie er es von ihm forderte. Mitterhuber war enttäuscht. Er musste telefonieren und diese Information an den Chef weitergeben. Aber noch wollte er Lastins Antwort abwarten, diese Chance wollte er ihm zugestehen. Aber wo war das Arschloch? Mitterhuber war von Anfang an nicht begeistert gewesen, sich in Gars zu treffen. Was sollte das? Warum konnten sie sich nicht in München treffen, das weiß Gott sehr viel anonymer wäre als dieses gottverlassene Kaff! Lastin hatte darauf bestanden. Er war der Meinung, dass in München zu viele Menschen waren, die sie hätten beobachten können. Außerdem war er davon überzeugt, dass sie verfolgt wurden. Lastin sprach von einer Frau, die ihm seit Wochen auf den Fersen war. Lächerlich! Vermutlich war diese Frau eine seiner Verflossenen, die ihm gefolgt war. Trotzdem musste Mitterhuber zugeben, dass Lastin vielleicht nicht ganz so falsch mit seiner Vermutung lag. Wie sonst sollte er sich den Schusswechsel und das Verschwinden seines Geschäftspartners erklären sollen? Als Lastin nicht zurückkam und er Schüsse hörte, war er sofort nach draußen gerannt. Er hatte auf alles geschossen, was sich bewegte und war dann abgehauen. Wo war Lastin? Warum war er nicht zurückgekommen? Was war passiert? Wieder und wieder versuchte er, den Trottel zu erreichen, was ihm nicht gelang. Was sollte der Mist?
„Es gab eine Schießerei, Lastin ist abgehauen“, sagte er, als er endlich den Chef erreicht hatte.
Rolf Felbinger hatte der Anruf mitten in einer Sitzung erreicht. Mitterhuber rief nur an, wenn es dringend war, weshalb er sich bei seinen Gesprächspartnern entschuldigte und vor die Tür ging, um in Ruhe telefonieren zu können.
„Eine Schießerei? Was ist passiert?“
„Das weiß ich nicht!“
„Bleib ganz ruhig, Martin, dafür gibt es sicher eine Erklärung. Kann Lastin die Kobalt-Lieferungen erhöhen?“
„Er hat mir noch nicht final geantwortet. Aber ich bezweifle, dass er das kann.“
„Geben wir ihm die die Möglichkeit einer Antwort. Sobald du mit ihm gesprochen hast, meldest du dich wieder, einverstanden?“
„Mache ich.“
Hans lag immer noch hinter dem Lieferwagen und verstand nicht, was hier eigentlich los war. Zum Glück wurde die Polizei gerufen. Als die Sirenen zu hören waren, verschwand der Schütze. Hans atmete erst auf, als er quietschende Reifen hörte. Wenige Augenblicke später starrte er auf die Uniform des Polizisten.
„Gott sei Dank ist Ihnen nichts passiert“, sagte der und reichte Hans die Hand. „Das ist gerade nochmal gut gegangen.“
„Nichts ist gut!“, schrie Hans. „Einer der Männer hat meine Frau mitgenommen! Suchen Sie nach ihr!“