Читать книгу Flucht in die Hoffnungslosigkeit - Iris Schneider - Страница 4
KAPITEL 2 Verletzte Kinderseele
ОглавлениеEndlich war es wieder still geworden in der unteren Wohnung. Die Kleine hatte aufgehört zu schluchzen. Fast jede Nacht um die gleiche Zeit, hörte ich seit Tagen dieses Weinen und Jammern von dem kleinen Mädchen. Jedes Mal nahm ich mir vor, die Frau aus der unteren Etage daraufhin anzusprechen. Aber Mutter und Kind verschwanden schon früh am Morgen aus dem Haus. Heute kam ich früher nachhause und blieb vor ihrer Wohnungstür stehen. Ein Telefongespräch war schwach zu hören. Wortbruchstücke teilten mir mit, dass sie mit dem Ausland telefonierte. Plötzlich schrie sie in lautstarken, scharfzüngigen Sätzen:
„Nein…, ich will es einfach nicht mehr. Elena kann es auch nicht mehr ertragen, was willst du denn noch?“
Jemand kam die Treppe herauf. Schnell verschwand ich in die nächste Etage und schloss hastig meine Wohnungstür auf.
Nachdenklich warf ich meine Jacke auf das Sofa und steckte mir eine Zigarette an. Nervös rollte ich den Filter zwischen den Fingern.
Die junge Frau war erst vor drei Wochen hier eingezogen. Jetzt hatte sie schon Ärger? Da ich sonst nicht neugierig bin, machte ich mir aber Sorgen. Denn die Kleine weinte schon einige Nächte. Fast immer um die gleiche Zeit. Sollte ich das Jugendamt informieren? Nein, ich wollte lieber selbst auf das Problem zugehen. Morgen habe ich frei und werde früh aufstehen und sie abfangen. Ich will es jetzt endlich wissen, dachte ich.
Am nächsten Tag stand ich früher auf und ging leise runter zum gegenüberliegenden Marktplatz, der auf der anderen Straßenseite von den ersten Sonnenstrahlen erwärmt wurde. Es war Frühling und die ersten Vögel lieferten live ihr Straßenkonzert. Auch die Seitenbänke waren noch alle leer.
Von einem Baum, der am Rande des Platzes stand, konnte ich die Fenster meiner kleinen Sorgenfamilie beobachten.
Es tat sich aber nichts. Nein, es konnte sich ja auch nichts tun, weil es ja ein schöner, ruhiger Sonntagmorgen war.
„Morgen Rolf…, schon auf?“, rief Willi mit ihrer rauchig, röhrenden Stimme über die Straße.
Ich traf sie fast jeden Sonntag auf dem Platz. Sie war einst die Großschnäutzigste, aber Humorvollste Schornsteinfegerin, die ich kannte.
Zzzzzz…, machte ich und versuchte mit einigen gestikulierenden Bewegungen ihr Temperament zu dämpfen. Ich ging zu ihr.
„Die schlafen wohl noch alle um diese Zeit, wie?“, brummte Willi.
„Kennst du die junge Frau, die bei uns vor kurzem erst im Haus eingezogen ist?“, fragte ich Willi.
Na ja, nicht direkt. Die treffe ich öfter beim Bäcker. Sie kauft dem Kind immer ein Hörnchen. Warum willste denn das wissen?“
„Ich höre die Kleine fast jede Nacht weinen und mache mir große Sorgen um sie. Ich möchte langsam wissen, was da los ist.“
„Frage sie doch einfach. Dazu hast du ein Recht. Du bist doch der Nachbar. Also darfst du dich auch erkundigen.“
„Sicherlich kann ich es aus meiner Sorge heraus tun. Genau, das werde ich jetzt auch machen!“
„Sag mir, wie‘s gelaufen ist!“
Willi ging mit ihrem Dackel weiter und nickte mir aufmunternd zu.
Gut gelaunt klingelte ich an der Wohnungstüre in der unteren Etage. Schallende Stimmen aus leeren
Räumen näherten sich, und jemand öffnete mir die Tür.
„Guten Tag, sie sind bestimmt der… Kommen sie herein. Ich bin Toni und das ist meine Tochter Elena.“
Während die junge Frau vor mir in die Küche ging, begutachtete ich das kleine, zierliche Mädchen und stellte fest, dass es nicht nach irgendeiner Misshandlung oder einem gequälten Geschöpf aussah. Aber sie hatte tiefe, dunkle Augenränder und das machte mich ein wenig stutzig.
„Geht es euch sonst gut“, fragte ich interessiert.
Vor mir stand eine hübsche um die Dreißigerin, mit einem zierlichen, kleinen Mädchen. In der kärglich eingerichteten Wohnung sprang mich direkt Hilflosigkeit an und in vier Augen las ich Mac Donald und italienische Pizza
„Oh, ihr könnt ja gar nicht richtig kochen, ohne Herd“, wagte ich mich vorsichtig vor.
„Aus diesem Grund habe ich ihnen nach einem Gespräch mit dem Hausmeister, einen Zettel in den Briefkasten geworfen“, sagte Frau Toni verschmitzt.
„Ach ja, richtig. Ich hatte dem Hausmeister mal gesagt, wenn er meine Hilfe als Handwerker braucht, würde ich gern einspringen.“
Wir guckten uns gemeinsam die kleine Baustelle in der Küche an und kamen ins Gespräch.
„Wie lange dauert sowas denn?“
„Nicht solange“, sagte ich ohne nachzudenken.
„Ich hab Hunger Mama.“
„Wir fahren gleich zu Oma, Elena.“
„Woher kommen sie?“, fragte ich neugierig.
„Ich will aber jetzt essen, Mama!“
„Wir fahren gleich zur Omaaa, Elenaaa…!
„Und sie?“
Aus Düsseldorf.“
„Da habe ich auch gewohnt. Ist schon länger her.
In Tunesien wohnen wir auch.“
„Elenaaaa…!“
„Mamaaaa…, ich hab Huuuungeeeeer!“
Beinahe duckte ich mich. Welch ein Organ war solch einem netten Geschöpf doch gegeben.
Durchdringend, bis in die Zehenspitzen. Die Kleine drei Oktaven höher. Passte irgendwie zu ihr. Sie musste sich bestimmt durchsetzen…bei Muttern.
„Auf meinem Herd habe ich noch Spagetti von gestern stehen. Brauch ich nur warm zu machen. Es reicht für uns drei.“
„Jaaaa…, ich will Pagettiii.“
„Elenaaaa….!“
Während wir die Treppen zu meiner Wohnung hochgingen, stellten wir im Hausflur fest, dass wir beide dabei waren, uns eine neue Zukunft zu kreieren. Ich hatte die Schnauze voll, von Großstädtern, samt der Firma meines Bruders, in der ich immer nur der Copilot war, und Frau Toni hatte wieder einmal die Faxen dicke, von ihrem Tunesischen Noch Ehemann.
Nervös schloss ich meine Wohnungstüre auf.
„Oh sie rauchen?“
„Riecht so danach, ja?“, grinste ich.
Elena stürzte sich gleich auf die Holzelefanten, die auf meiner Fensterbank standen.
„Elenaaaa, lass stehen!“
Hastig holte ich Teller aus dem Schrank und das Besteck aus Muttchens Nachlass. Es wurde mir großzügig von meiner Schwester überlassen.
„Reicht denn das für uns alle?“
„Selbstverständlich, ist schon gleich fertig“, sagte ich rührend.
Es reichte tatsächlich. Mein durchtrainiertes Gehirn für Mengenabschätzungen, für Meterwahren, Laminat- und Teppichböden funktionierte also doch noch.
Quietschend drehten wir die Gabeln auf den Löffeln. Elena aß mit den Händen. Das klappte teilweise auch.
„Elenaaa…!! „Lalalaaa…, guck mal Mamaaaa…die Nudln...
Elena hatte während unserer Unterhaltung den Rest Spagetti überall hin verteilt. Sie klebten hier, sie klebten dort, nur kleben sie nicht auf ihrem Teller.
„Oh Gott…, Elena!“
„Lassen sie nur, sieht doch lustig aus. Das ist der Farbkasten- Effekt.“
Elena sog die letzte Nudel durch den kleinen, spitz geformten Mund schmatzend in sich hinein.
„Wenn sie mal Hilfe brauchen, klingeln sie bei mir ruhig an“, sagte ich.
„Meine Oma wohnt im Neben- Ort, da haben wir es beide nicht so weit.“
Außerdem haben wir ja ein Auto.“
„Wenn sie meinen?“
Mit drei Tomatigen-Teller-Gebilden und Rest-Nudeln, die an allen nur erdenklichen Ecken und Winkeln des Stuhls klebten, begann ich pfeifend und gut gelaunt den Spülvorgang Stufe eins, in meiner neu erworbenen, babyblauen Plastikschüssel.
In den kommenden Tagen stand die kleine Elena immer öfter vor meiner Tür, wenn ich nachhause kam.
„Du sollst Tee mit uns trinken kommen“, sagte Elena.
In den darauffolgenden Tagen trank ich dann immer öfter einen Tee bei den Beiden. Und auch bei mir in der Wohnung intensivierte sich allmählich unser freundschaftliches Verhältnis.
Inzwischen duzten wir uns und unser Zusammensein verband sich gelassen zu einer aufflammenden Liebe mit Erklärung.
In den darauffolgenden Monaten verlor ich meine Arbeit in der Firma meines Bruders endgültig.
Copilot Ade.
Kauf und Reparaturaufträge in unserer Teppichfirma, nebst-Branche, ließen immer mehr und mehr nach und meine Arbeit als Subunternehmer endete schließlich im Familienzwist zwischen uns Brüdern. Allerdings ohne Hauen oder Mordabsichten. Angeblich flog ich, wegen dem nicht überschaubaren Preis-Leistungs-Verhältnis auf dem Arbeitsmarkt. Laminat bei Teppich-Karl und
Kettel-Aufträge bei Adam Pütt wurden eben eher verlangt, weil sie zwei Cent unter unserem Verkaufs-Angebot lagen. So endete meine nicht mehr ausreichende Arbeitskraft an einem unüberschaubaren Ende.
Ausrangiert, wie ein alter Filz-Teppich und abgenutztes Billig-Laminat, begannen meine finanziellen Aussichten und Chancen nun beim Arbeitsamt in meiner neuen Heimat.
Immerhin für einige Monate. Ich war nur noch reizlos liquide.
Schlummerten in meinem Innersten vielleicht doch noch andere Qualitäten?!
Ich kramte in meinem Gehirn nach Spezialitäten und Altertümchen und wurde fündig. Mit mittelmäßiger Anstrengung, fielen mir überraschend sogar einige Kochrezepte ein, die ich in der darauffolgenden Zeit, in verschiedensten Geschmackskompositionen ausprobierte.
Stubendienst war gleichfalls angesagt. Langeweile kannte ich ab jenem Tag nicht mehr, denn meine Verliebtheitsgrade stiegen unaufhörlich in Richtung Kleinfamilie.
Ich kümmerte mich hauptsächlich um Elena und hatte einfach gesagt, viel nachzuholen.
Toni ließ wiederholt ihre Tochter bei mir, wenn sie unterwegs war. Und sie war sehr oft unterwegs.
Elena war ein ausgesprochenes aktives Kind und beschäftigte mich rund um die Uhr.
Wir kauften zusammen ein, gingen zum nahe gelegenen Spielplatz, und meine kleine Freundin plapperte ohne Unterlass die schönsten Geschichten aus Tunesien.
„Mein Papa macht alle Leute gesund und hat mir auch einen Spiel-Koffer mit Arzt-Sachen gekauft. Ich helfe immer mit und alle kriegen dann eine Spritze.“
Lächelnd packte ich unseren Einkauf in den Kofferraum meines Wagens.
Ich genoss das Plaudern von Elena. Erinnerungen holten mich ein, denn meine eigene Scheidung ist schon eine Weile her. Ich hatte ja selbst eine Tochter im damaligen Alter von sechzehn Jahren. Leider sah ich sie kaum, denn sie unterlag den wichtigen Interessen der Punk-Frisuren und Vegan-Speisen. Wie man das ebenso in diesem Alter macht.
Ich habe alles für meine Tochter Laura getan. Alles was ein Vater nur für sein Kind tun kann. Auf dem Fahrrad fuhren wir am Rhein entlang, oder wir spielten auch auf Spielplätzen. Sonntag war immer Laura-Tag. Auf diese Zeit freute ich mich besonders. Sie war damals ein kleiner Engel mit blonden Locken. Jedem fiel sie auf. Jeden lächelte Laura an. Sie war eben mein kleiner Sonnenschein. Meine kleine Motte.
Ein kleines Händchen schob sich in meine Hand und fragte mich zaghaft:
„Bist du traurig Rolf?“
„Nein, nein, ich dachte nur nach Elena. Ich habe auch eine Tochter. Die wohnt in Düsseldorf, weißt du?“
Wir fuhren nachhause.
„Wie heißt denn dein Kind?“, fragte Elena mich dort weiter.
„Laura heißt sie.“
„Kannst du die nicht holen, dann kann die Laura doch in meinem Bett mitschlafen.
„Ich glaube, das geht schlecht“, erklärte ich Elena.
„Ihre Beine sind schon zu lang und diese würden uns nur störend im Wege herumhängen. Die passen nicht mehr in dein Bettchen.“
„Du kannst doch das Bett größer machen, Rolf.“
„Sie will auch gar nicht mehr in solch ein Kinderbett, sie will lieber in ihrem Bett und in ihrem Zimmer
schlafen“, machte ich dem munteren Quälgeist klar. Elena gab sich vorerst mit dieser Antwort zufrieden.
Mittlerweile standen in Tonis Wohnung ein paar Möbel mehr.
In der Küche stand endlich ein Tisch mit drei Stühlen. Im Wohnzimmer standen ein Tisch mit vier Stühlen und ein Klappsofa und im Kinderzimmer standen keine Stühle, nur Elenas Kinderbett und ein Schrank für Mutter und Kind. Trotz des ausreichenden Stuhl- Mobiliars, hatte Toni eine behagliche Atmosphäre gezaubert wofür ich sie oft bewunderte.
Weil die Strompreise immer diktatorischer wurden, und verschleiert höher krochen, fühlte ich mich langsam aber sicher durch sie bedrängt. Denn es waren nicht nur diese Preise, die mich herausforderten, mein Gasboiler fiel mir ebenfalls in den Rücken. Das wurde mir nun doch zu viel. Da meine Wohnung ebenso wenig ausreichende Isolierungen aufwies, gab ich mich regelrecht geschlagen und trat den Rückzug an. Ich sah es nicht mehr ein, den Stadtwerken noch mehr in den gierigen Rachen zu werfen.
Bist du nicht willig, sperre ich dir den Hahn zu. Vielleicht auch noch mit Gewalt? Ich suchte mir eine andere Wohnung.
Nach einigen Versuchen und Aufsuchen vieler Mietswohnungen aller Art, fand ich endlich ein geräumiges Apartment an einem Berg. Mit Außentreppe modernster Art. Ein Bau-Werk eines Architekten mit hochentwickelter Wohn-Kultur. Die zu den oberen Parkplatz-Etagen hochführende Außentreppe, protzte aus verzinktem Stahlgitter in den grünenden Natur-Hang hinein.
Endlich werde ich jeden Eindringling, der mich aufsuchen würde, sofort wahrnehmen und durch meinen Türspion orten können. Sogar eine ausgedehnte Terrasse mit Dorfblick, nebst einer von weitem schon erkennbaren Kirchturmspitze lag vor mir. Ich war glücklich. Alles wirkte sehr idyllisch.
Ebenso, der darunterliegende Bahnhof mit den lautleisen Zügen, die ich irgendwann gar nicht mehr wahrnehmen würde. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier.
Toni blieb in ihrer Wohnung und stellte sich erst einmal den weiteren Energie-Herausforderungen.