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Kapitel 5

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Am Tag nach Miris Abreise ist die Kältewelle vorbei und der Frühling kehrt mit aller Kraft zurück. Es wird schnell warm. Blumen und Gastgärten schießen gleichermaßen aus dem Boden. Die Stadt ist sichtlich belebter, die Leute scheinen jede nur mögliche Minute im Freien verbringen zu wollen. Ich selbst nutze das gute Wetter für ausgedehntere Jogging-Runden, eine Mountainbike-Tour mit Manuel und den einen oder anderen Aufriss.

Die Situation mit Sven hat sich inzwischen eingespielt. Außerhalb der Lehrveranstaltung sprechen wir nicht miteinander. Im Unterricht benimmt er sich unauffällig und lässt sich nichts anmerken. Allerdings ist er ein sehr engagierter Student. Bedauerlicherweise stellt sich heraus, dass Sven alles andere als dumm ist. Ich hatte ja gehofft, dass er sich als dämlich entpuppt, weil ich kaum etwas unerotischer finde als Dummheit. Sein Referat ist aber erstaunlich gut. Und auch sonst arbeitet er motiviert mit. Er stellt intelligente Fragen und bringt interessante Diskussionsbeiträge. Was er sagt, hat Hand und Fuß. Leider.

Während Sven sich unauffällig benimmt, ertappe ich mich immer wieder dabei, dass mein Blick beim Unterrichten zu ihm wandert. Ich sehe ihn deutlich öfter an als die anderen Studierenden. Er sieht natürlich auch um ein Vielfaches besser aus. Und, was noch schlimmer ist, er hat eine Ausstrahlung, die mich unweigerlich anzieht. Nach wie vor. Das macht das Unterrichten anstrengender, als es normalerweise ist.

Wenn ich zu Sven sehe, schreibt er meistens eifrig mit und sieht nicht von seinem Laptop auf. Bisweilen aber begegnen sich unsere Blicke doch. Wenn er sich meldet, um etwas zu sagen, natürlich. Und manchmal, selten, ertappe ich ihn dabei, dass er mich ansieht. Er schaut dann immer schnell wieder weg – und ich ärgere mich, weil ich der Versuchung, ihn anzusehen, nicht widerstehen konnte.

Außerhalb des Unterrichts gelingt es mir dafür gut, nicht an dieses leidige Thema zu denken. Das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass die Arbeit momentan vor allem eines ist: stressig.

Ich weiß nicht, woran es liegt, aber zu Beginn des Semesters ist immer am meisten zu tun. Alle sind von einer hysterischen Betriebsamkeit erfüllt, die unweigerlich ansteckend ist. Neben den normalen Verwaltungsangelegenheiten und der Unterrichtsvorbereitung fordern mich mein Vortrag für die Tagung in London sowie die Auswertung meiner Daten voll. Und dann ist da noch Doris, die es sich in den Kopf gesetzt hat, die vakante Hilfskraft-Stelle in einem groß angelegten, viel zu aufwendigen Verfahren zu besetzen.

»Hast du dir die Bewerbungen angesehen?«, fragt sie dann auch prompt, als ich am späten Vormittag das Büro betrete. Dass es nicht so wichtig ist, wann man auftaucht, ist einer der Vorteile des Jobs.

»Natürlich«, lüge ich.

»Wen findest du denn am besten?«

»Die klingen doch alle recht ähnlich«, meine ich schulterzuckend.

»Ja, es ist bestimmt gut, dass wir sie heute persönlich sprechen«, stimmt Doris zu.

Wenn es nach mir ginge, würden wir gar keine Vorstellungsgespräche führen, sondern einfach eine Person bestimmen und einstellen. Aber Doris ist da, wie immer, überpingelig. Sie will allen eine faire Chance geben – außerdem kann sie sich einfach nicht entscheiden. Deswegen hat sie für heute tatsächlich Vorstellungsgespräche mit drei Kandidaten angesetzt, die jede Sekunde beginnen sollten. Sie hat darauf bestanden, dass ich auch dabei bin. Ich habe gerade noch Zeit, mir einen Kaffee zu nehmen, dann geht es auch schon los.

Das erste Vorstellungsgespräch läuft furchtbar. Die Studentin ist dumm wie Brot und hässlich wie die Nacht. Letzteres ist nicht so schlimm für den Job, Ersteres ist fatal. Sie war gestern schon in meiner Sprechstunde, weil sie meine Lehrveranstaltung besucht und nächste Woche ihr Referat hat. Da hat sie schon nicht sonderlich geglänzt. Heute zerreiße ich sie quasi in der Luft.

Das zweite Gespräch ist etwas besser, der Student ist nicht dumm, aber er ist der langweiligste Spießer, der mir je untergekommen ist. Wenn der Typ auch nur fünf Minuten in meiner Nähe ist, bekomme ich einen akuten Anfall von Narkolepsie und penne ein.

Schließlich öffnet sich die Türe und herein kommt der letzte Kandidat.

Es ist Sven. Und er sieht fantastisch aus. Anders kann man das nicht sagen. Er hat seine Haare heute zu einem kleinen Zöpfchen zusammengebunden, das bei anderen vielleicht lächerlich aussähe, bei ihm aber nicht. Sein Undercut kommt dadurch deutlich zur Geltung und sein maskuliner Kiefer wird noch zusätzlich betont. Er hat sich länger nicht rasiert und der leichte Bart steht ihm wirklich gut. Meine Lippen prickeln ein wenig, als ich daran denke, wie es sich anfühlen muss, ihn zu küssen.

Was für ein unglaublich unpassender Gedanke.

Für einen Moment starre ich Sven an wie eine Erscheinung. Er stockt sichtlich, als er mich sieht. Doch dann ist da auch schon Doris, die auf ihn zugeht, um ihn freundlich zu begrüßen.

»Hallo, Herr Koch«, sagt sie und reicht ihm die Hand, die er sofort mit einem Lächeln und einem »Hallo« ergreift.

Ich starre Sven immer noch an. Scheiße, ich hätte mir die Bewerbungsunterlagen wirklich ansehen sollen. Es kann doch nicht sein, dass Sven mich andauernd so überrumpelt. Außerdem frage ich mich, ob er wegen eines weiteren bizarren Zufalls hier ist oder ob er mich stalkt. Langsam fühle ich mich nämlich wirklich verfolgt.

Fassade wahren, mahne ich mich. Immer die Fassade wahren. Ich sollte mir nun wirklich nicht anmerken lassen, dass mich diese Situation irritiert. Und noch viel weniger, dass ich Sven nach wie vor anziehend finde. Automatisch fahre ich mein Visier runter. Ein Relikt aus Kindertagen: Wenn ich überfordert bin, stelle ich mir immer vor, ich bin ein Ritter, der das Visier seines Helms herunterlässt. So kann mir niemand mehr anmerken, was in mir vorgeht.

Ich gebe mir einen Ruck, erhebe mich und mache einen Schritt auf Sven zu, der sich mir in diesem Moment zuwendet.

»Hallo, Herr Baumgarten«, grüßt er und reicht mir nun seinerseits die Hand.

»Hallo, Herr Koch«, sage ich so neutral wie möglich.

Wir schütteln uns nur ganz kurz die Hand. Sven hat einen festen Händedruck. Unweigerlich wird mir bewusst, dass wir uns gerade zum ersten Mal seit Köln berühren.

Doris fordert Sven auf, die Jacke abzulegen und sich zu setzen, was dieser auch sofort tut. Er trägt ein ziemlich enges graues Shirt, unter dem sich seine Muskeln abzeichnen. Oh Mann. Das ist doch viel zu sexy für die Uni.

Doris und ich nehmen ebenfalls wieder Platz. Den Gesprächseinstieg überlasse ich wohlweislich Doris. Das habe ich bei den anderen Kandidaten zum Glück auch schon getan. Könnte eventuell damit zu tun haben, dass sie deren Lebensläufe auswendig gelernt zu haben scheint, während ich sie mir nicht einmal angesehen habe.

»Erzählen Sie uns ein bisschen von sich«, fordert Doris Sven auf.

»Was soll ich denn erzählen?«, fragt Sven zurück.

»Wie alt sind Sie?«, erkundige ich mich, weil ich mich das schon die ganze Zeit frage.

»25.«

Hui, jünger, als ich ihn ursprünglich geschätzt habe. Ich nicke und Doris sieht mich irritiert an. Offenbar findet sie meine Frage dämlich. Nicht zu Unrecht. Das steht natürlich in seinem Lebenslauf.

»Sie haben Ihren Bachelor in Köln gemacht?«, fragt Doris als Nächstes. Anders als meine Frage ist ihre rhetorisch. Sie weiß das natürlich.

»Ja, ich bin aus Köln und fürs Studium dageblieben.«

Svens Augen zucken kurz zu mir. Meine Miene ist ausdruckslos.

»Und den Master machen Sie jetzt hier«, stellt Doris fest.

»Genau. Ich wollte für den Master woandershin und das Institut hier hat einen guten Ruf.«

»Sie sind jetzt das zweite Semester hier, richtig?«, fragt sie weiter.

»Ja.«

Das erklärt, wieso er mir bisher noch nicht aufgefallen ist. Den Großteil des vergangenen Semesters war ich in den USA. Ich fange wieder einen tadelnden Blick von Doris auf. Vermutlich findet sie es unhöflich, dass ich mich nicht an diesem völlig sinnfreien Vorstellungsgespräch beteilige. Ich erwidere ihren Blick mit einem ostentativ unechten Lächeln, dann wende ich mich, wie von ihr erwartet, Sven zu und rücke meine Brille zurecht.

»Planen Sie noch ein Auslandssemester?«, frage ich aus meinem vorigen Gedanken heraus.

»Ich bin noch nicht sicher. Aber ja, ich würde schon gerne noch woandershin.«

»Wohin denn?«, hake ich nach.

»Weiß ich noch nicht.«

Wieder antwortet Sven denkbar knapp. Er ist so extrem ruhig und zurückgenommen. Viel ruhiger, als er es in Köln war. Unsicher wirkt er dabei aber eigentlich nicht. Er ist keiner von den Menschen, die es nicht ertragen, mit anderen Augenkontakt zu haben – das weiß ich ja schon. Auch jetzt sieht er uns direkt an – überwiegend Doris, nur manchmal zuckt sein Blick kurz zu mir. Er sitzt aufrecht in seinem Stuhl, die Hände liegen locker in seinem Schoß – sittsam, schießt mir durch den Kopf, und ich frage mich, ob das schon als unpassender Gedankengang zählt.

»Warum haben Sie sich denn für diese Stelle beworben?«, will Doris wissen.

Ich persönlich finde das ja die dämlichste aller Fragen. Wahrscheinlich braucht er Geld und der Job als Hiwi ist besser als etwa Klos zu putzen. Sven aber lässt sich nicht anmerken, ob er die Frage ähnlich sinnlos findet wie ich.

»Ich denke, das ist ein guter Einblick in die Arbeit an der Uni«, erwidert er charmant. »Irgendwann muss ich ja entscheiden, ob ich eventuell weitermachen und promovieren möchte. Und die Entscheidung kann ich sicher besser treffen, wenn ich mehr darüber weiß, wie Forschung konkret aussieht.«

»Haben Sie denn vor zu promovieren?«, frage ich.

»Ich sage ja, ich weiß es noch nicht«, antwortet Sven und legt ein ganz kleines bisschen den Kopf schief. »Aber ja, ich könnte mir das schon vorstellen.«

»Na, mal sehen«, meine ich. »Welche Schwerpunkte setzen Sie denn im Studium? In welche Richtung wollen Sie mit Ihrer Masterarbeit gehen? Wissen Sie das schon?«

Jetzt wird es grundlegend. Die erste Studentin habe ich mit dieser Frage ihrer Dämlichkeit überführt. Sven ist leider nicht dämlich, aber das habe ich ja in meiner Lehrveranstaltung schon festgestellt. Er beherrscht die Grundlagen des Fachs wirklich und hat sich intensiv damit befasst. Das merkt man. Und er hat tatsächlich deutliche Interessenschwerpunkte, von denen er uns jetzt mit einem Enthusiasmus erzählt, der nicht zu seiner maulfaulen Art von vorhin passt.

Er hat, als das noch ging, an einer Grabung in der Osttürkei teilgenommen, die ihn sehr beeindruckt hat. Das ist absolut nachvollziehbar. Dort finden sich spannende Spuren der Sesshaftwerdung des Menschen, aber auch Kultstätten, die zuvor von nomadischen Völkern gebaut und in regelmäßigen Abständen aufgesucht worden sind.

Methodisch scheint Sven eine Leidenschaft für nicht-invasive Techniken zu entwickeln. Für meine Methodik also. Jetzt fühle ich mich wieder gestalkt. Vielleicht hatte er das Interesse aber auch schon früher und macht meine Lehrveranstaltung deswegen. Oder ich habe sein Interesse geweckt, weil ich eben ein fantastischer Lehrer bin. Schwer zu sagen.

»Das würde natürlich ausgezeichnet zu unseren eigenen Schwerpunkten passen«, meint Doris, als Sven seine Ausführungen beendet hat, und fragt prompt: »Welche Lehrveranstaltungen besuchen Sie denn dieses Semester?«

Sven zählt einige Kurse auf. Nicht alle davon sind von unserem Institut, anscheinend will er sich interdisziplinär orientieren. Sehr vernünftig. Meine Lehrveranstaltung hebt er sich zum Schluss auf. Doris sieht irritiert zu mir – sie fand schon bei der ersten Kandidatin, dass ich hätte erwähnen sollen, dass ich sie kenne. Wie während des ersten Vorstellungsgesprächs nicke ich auch jetzt nur bestätigend.

»Sehr vielseitig«, sagt Doris anerkennend. »Aber auch ein ganz schön großes Pensum.«

»Ja, aber ich schaffe das. Ich will das Studium zügig abschließen. Natürlich auch gut, aber trödeln will ich wirklich nicht.«

Da kommt er aber etwas spät drauf, wenn er schon 25 ist. Der Kommentar liegt mir auf der Zunge, aber ich verkneife ihn mir gerade noch. Doris geht auch nicht auf sein langes Studium ein, obwohl sie sich doch etwas Ähnliches denken muss, und nickt nur.

»Und für den Job haben Sie trotzdem genug Zeit?«, fragt sie als Nächstes.

»Ja, auf jeden Fall. Das Lernen kann ich ja flexibel einteilen.«

»Das, wofür wir Sie brauchen werden, überwiegend auch. Wir richten uns da nach Ihrem Stundenplan«, erklärt Doris. Sven hat zwar nicht nach seinen Aufgaben gefragt, aber die beiden anderen vor ihm waren da sehr neugierig. Wahrscheinlich erklärt Doris es deswegen gleich. »Wirklich feste Termine gibt es in der Regel nur, wenn wir Ihre Unterstützung benötigen, wenn wir Tagungen oder Workshops veranstalten. Nächste Woche findet ein Gastvortrag statt, bei dem wir Ihre Hilfe brauchen könnten. Das ist natürlich sehr knapp, aber der Arbeitsvertrag sollte mit dem 15. da sein.«

»Klar, super. Wer hält den Vortrag denn?«, fragt Sven nach.

»Gustav Leitmeier.«

»Wow!«

Richtige Reaktion. Gustav Leitmeier ist einer der ganz Großen. Die anderen beiden kannten ihn nicht. Auch akzeptiert hätte ich Was, der lebt noch?. Das war tatsächlich meine erste Reaktion, als Ruth uns angekündigt hat, dass Leitmeier einen Vortrag halten wird.

Doris nickt und fährt fort: »Ihre Hauptaufgabe wird es aber sein, Herrn Baumgarten und mich bei der Auswertung von Daten zu unterstützen.«

»Klingt super«, erwidert Sven und vielleicht bilde ich es mir ja ein, aber mir kommt vor, er sieht mich dabei einen Moment zu lange an.

»Wie sieht es denn mit Ihren Computerkenntnissen aus? Für die Stelle müssen Sie mit einer komplexen Software umgehen«, will ich wissen, bevor Doris ihn entlassen kann. Ich glaube zumindest, dass sie das will. Besser, ich nehme ihn noch ins Kreuzverhör. Irgendetwas Dummes wird er schon noch von sich geben. Dann haben wir etwas, das gegen ihn spricht. Abgesehen davon, dass er mich stalkt und dass ich ihn gerne über meinen Schreibtisch legen und ihm die Klamotten vom Leib... Oh Gott. Nicht daran denken.

»Das ist kein Problem, etwas Ähnliches habe ich schon für meine Bachelorarbeit gemacht.«

»Und wie würden Sie Ihre Arbeitsweise beschreiben?«, frage ich.

»Hm... strukturiert, denke ich.«

»Denken Sie?«, frage ich mit hochgezogener Augenbraue.

»Ich weiß es.« Sven erwidert meinen Blick fest.

»Können Sie das genauer ausführen?«, hake ich nach. Ich klinge wohl ziemlich harsch und streng, denn ich fange mir einen mahnenden Blick von Doris ein, den ich mit einem charmanten Lächeln erwidere. Ich glaube, sie rollt ein ganz kleines bisschen mit den Augen, aber sie hat sich unter Kontrolle und will sich Sven gegenüber nicht anmerken lassen, dass sie gerade ganz massiv genervt von mir ist.

»Na ja, ich bin jetzt nicht so gut im Multitasking«, sagt Sven und lächelt. Das findet ein Teil von mir wirklich entwaffnend niedlich, ein anderer findet es einfach nur dämlich, dass er seine Schwächen so ausstellt. »Deswegen erledige ich, was zu erledigen ist, nacheinander, aber ziemlich effizient, den–«

Sven räuspert sich. Vermutlich schluckt er das »denke ich«, das ihm gerade auf der Zunge lag, noch rechtzeitig runter. Ich lächle spöttisch, doch er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Wenn etwas zu erledigen ist, mache ich das sofort. Und gründlich. Ich bin wirklich motiviert und Sie werden sehen, dass ich Sie nicht enttäuschen werde.«

»Abgesehen von der mangelnden Fähigkeit zum Multitasking, was haben Sie denn sonst noch für Schwächen, von denen wir wissen sollten?«

Sven stockt einen Moment, dann blitzt etwas in seinen Augen auf. Er lehnt sich ganz leicht vor.

»Vielleicht bin ich manchmal ein kleines bisschen zu gutgläubig.«

Svens Stimme ist sachlich, doch der Ausdruck in seinen Augen bringt mich zurück zu dieser Nacht in Köln. Zurück zu dem Moment, in dem ich ihm erzählt habe, ich wäre Pilot, und er es mir geglaubt hat. Unweigerlich muss ich schlucken. Es ist wirklich keine gute Idee, dass er bei uns anfängt. Wir sollten den Spießer nehmen, damit ich Sven nicht ständig vor meiner Nase habe. Denn sonst werde ich ihn irgendwann über meinen Schreibtisch legen. Oder er mich.

»Das ist in der Tat nicht gut«, erwidere ich kühl. Kühler, als ich mich fühle. »Kritisches Denken ist wichtig in der Forschung.«

»Ich arbeite an mir«, meint Sven und nickt ernst, doch um seine Mundwinkel zuckt es wieder.

»Das klingt alles sehr gut«, schaltet sich Doris ein. Ihr ist nicht anzumerken, ob sie erkennt, dass zwischen uns etwas merkwürdig ist. »Ich denke, wir können das so belassen. Haben Sie denn noch Fragen an uns?«

»Nein«, meint er.

Natürlich nicht.

»Gut, dann melden wir uns bei Ihnen, sobald wir uns entschieden haben«, erklärt Doris.

»Ja, danke. Ich hoffe, es klappt«, meint Sven, sieht dabei aber mich an und nicht Doris.

Ich runzle die Stirn. Ich habe wirklich kein gutes Gefühl bei der Sache. Dennoch bemühe ich mich um einen neutralen Tonfall, als ich Sven zum Abschied noch einmal die Hand schüttle. Nachdem er den Raum verlassen hat, stehe ich auf, murmle was von »gleich wieder da« und gehe ihm nach. Wir müssen das klären. Er kann mich nicht ständig verfolgen.

Ich erwische Sven an der Treppe und gestatte mir noch einen Blick auf seinen Knackarsch, ehe ich ihn anspreche.

»Kann ich dich noch kurz sprechen?«, frage ich.

Er zuckt erschrocken zusammen, offenbar hat er mich nicht kommen hören. Dabei war ich nicht gerade leise. Als er sich umdreht, lacht er hektisch auf und hält sich die Hand aufs Herz.

»Scheiße, hast du mich erschreckt!«

Ich sage nichts, sehe ihn nur streng an. Das war entschieden zu vertraulich.

»Komm mit«, sage ich schließlich und gehe vor in die Teeküche, die zum Glück gerade leer ist.

Sven folgt mir, ohne zu murren. Ich lasse ihn eintreten, dann schließe ich die Tür und baue mich davor auf. Momentan finde ich es sehr gut, dass ich größer bin als Sven. Auch wenn es höchstens zwei Zentimeter sind.

»Was soll das?«, frage ich scharf.

»Was meinst du?«

Ich verdrehe die Augen. Die Unschuldsnummer kaufe ich ihm nun wirklich nicht ab.

»Wieso willst du jetzt auch noch bei uns arbeiten?«

»Hast du etwa ein Problem damit?«, fragt er zurück. Er ist ganz ruhig. Das macht mich wahnsinnig. Nicht, dass ich will, dass Sven mir hier eine Szene macht, aber ich hasse es, dass er sich von mir nicht aus der Ruhe bringen lässt. Er bringt mich aus der Ruhe.

»Beantworte meine Frage«, knurre ich.

»Ich brauche einen Job. Und die Hiwi-Stelle macht sich gut im Lebenslauf.«

»Kannst du dir keine andere suchen?«

»Es gibt keine andere. Als ich mich dafür beworben habe, wusste ich außerdem nicht, dass der Job auch mit dir zu tun hat.«

Das glaube ich ihm nicht. Das Institut ist klein und eigentlich sollte er wissen, wer mit wem zusammenarbeitet und wer zu welchem Lehrstuhl gehört. Andererseits gibt es durchaus Studierende, die diese Strukturen tatsächlich bis zum Ende ihres Studiums nicht durchschauen. Ich sehe Sven mit skeptisch erhobener Augenbraue an.

»Glaubst du, ich stelle dir nach oder was?«, fragt Sven ehrlich entrüstet und mustert mich gründlich – und ziemlich abschätzig – von oben bis unten. »Das habe ich echt nicht nötig.«

»Ich will sichergehen, dass du den Job willst, weil du den Job willst.«

Und nicht etwas anderes. Oder jemand anderes. Mich.

»Ich will den Job«, sagt er und sieht mir fest in die Augen. Ich erwidere den Blick stur, bis er seufzt und genervt wegsieht. »Bist du immer so paranoid?«

»Ich bin nicht paranoid.«

»Doch, bist du. Was erwartest du denn, dass Schlimmes passiert? Dass ich Herzchen auf die Kopien male, die ich für dich machen soll?«

Er sagt das so zynisch, dass ich unweigerlich auflachen muss.

»Hast du denn das Bedürfnis, Herzchen auf meine Kopien zu malen?«, frage ich trotzdem nach. Sicherheitshalber.

»Nein«, schnaubt Sven.

»Dann ist ja gut.«

»Haben wir das damit geklärt?«

»Haben wir«, erwidere ich und mache einen Schritt zur Seite. Sven nickt mir zum Abschied zu und geht zur Tür.

»David?«, meint Sven dann noch, bevor er den Raum verlässt. Er sieht mich nicht an, sondern fixiert die Türklinke in seiner Hand. Seine Nähe ist mir unangenehm bewusst. Uns trennt nicht einmal ein halber Meter.

»Was?«

»Bitte verbau mir diese Chance nicht, nur weil wir einmal Sex hatten.«

Ich bin zu perplex, um zu antworten. Das passiert mir wirklich selten. Mein Schweigen nutzt Sven, um die Tür zu öffnen und abzuhauen. Das ist irgendwie anders gelaufen, als ich es geplant hatte.

Sven klang glaubwürdig, als er meinte, dass er mich nicht verfolgt. Die Art, wie er mich dabei taxiert hat, war sogar ziemlich fies. Als wäre ich eine Geschmacksverirrung gewesen. Das wiederum glaube ich ihm nicht – dazu ist mein Ego dann doch zu ausgeprägt. Außerdem war Sven in Köln offensichtlich ziemlich angetan von mir. Vielleicht ist er mir aber ähnlicher, als ich dachte, und hat auch nach einem Mal genug von seinen Sexpartnern.

Blöderweise habe ich von diesem Sexpartner nach einem Mal noch nicht genug. Würde er mir nicht regelmäßig über den Weg laufen, hätte ich nichts dagegen, noch ein, zwei Mal mit ihm zu schlafen.

Mit einem Seufzen verlasse ich ebenfalls die Küche und gehe zurück. Das Büro ist leer. Keine Ahnung, wohin Doris verschwunden ist. Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen und nehme einen großen Schluck von meinem inzwischen eiskalten und abgestandenen Kaffee.

Schöne Scheiße.

Da ich mich gerade ohnehin nicht auf die Arbeit konzentrieren kann, greife ich nach meinem Handy und schaue, ob es etwas Neues gibt. Ein paar Minuten später weiß ich: gibt es nicht. Dafür beschließe ich, Thomas zu schreiben. Ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört. Das letzte Mal habe ich mit ihm gesprochen, nachdem Sven in meiner Lehrveranstaltung aufgetaucht ist. Wahrscheinlich muss ich deswegen gerade an ihn denken.

Hey, was tut sich bei dir?, schreibe ich.

Mein Handy vibriert quasi sofort, nachdem ich meine Nachricht abgeschickt habe.

Wird dir nicht gefallen, steht da.

So schlimm? Hast du ihn rumgekriegt?

Habe ich.

Und ihr seid jetzt wirklich exklusiv?

Ja. <3

Hast du mir gerade ein Herzchen geschickt??

Gewöhn dich dran. Ich bin verliebt.

Ich schicke Thomas ein hysterisch schreiendes Smiley. Er antwortet mit einem lachenden und schreibt dazu: Und bei dir? Was Neues?

Ich könnte natürlich von Sven erzählen, aber ich möchte nicht darüber sprechen.

Nein, alles wie immer.

Hast du mit dem Studenten gesprochen?, fragt Thomas prompt. Na, das hat ja super geklappt.

Ja, alles easy, tippe ich.

Und das ist es ja auch. Sven hat sich bisher unauffällig benommen und ich habe mich hoffentlich so weit im Griff, dass man mir nicht anmerken kann, dass er mich nicht völlig kaltlässt. Die Frage ist nur, ob ich das nach wie vor sagen kann, wenn ich ihn noch öfter sehe als jetzt schon. Und wie ich, wenn das nicht der Fall ist, Doris davon überzeugen kann, Sven den Job nicht zu geben. Ich bin mir sicher, dass sie ihn will. Ohne unsere Vorgeschichte würde ich ihn auch wollen. Nicht, dass ich ihn mit unserer Vorgeschichte nicht auch will. Wenn auch auf andere Art. Ach, verdammt...

Wieder vibriert mein Handy, weil Thomas mir eine Nachricht schickt.

Ich hoffe, du warst nett zu dem armen Jungen.

Er ist kein Junge!

Erneut schickt Thomas einen lachenden Smiley. Ich verkneife mir eine Antwort, zumal Doris in dem Moment zurück ins Büro kommt.

»Wieso hast du den armen Herrn Koch so fertiggemacht?«, fragt sie, kaum dass sie wieder an ihrem Schreibtisch Platz genommen hat.

»Wieso fertiggemacht? Ich habe ihn nur gründlich geprüft. Das wolltest du doch.«

»Die anderen hast du nicht so gründlich geprüft.«

»Ich war eben genervt.«

»Und weswegen warst du genervt? Gut, er war nicht der Gesprächigste, aber ich fand, er wirkte sehr kompetent und sympathisch ist er auch.«

»Ich war ja auch nicht von ihm genervt«, erkläre ich und das ist nicht nur gelogen. »Ich fand die Gespräche allesamt ziemlich sinnlos.«

Doris tut meine Kritik an ihrem Auswahlverfahren mit einem Schulterzucken ab.

»Dann sollten wir schnell eine Entscheidung treffen, damit das Thema abgeschlossen ist«, sagt sie.

Das wird schwer. Die dumme Pute, der verkniffene Spießer oder – Sven. Ich will keinen von ihnen.

»Die erste Kandidatin fällt weg, da sind wir uns einig, oder?«, meint Doris.

»Absolut.«

»Bleiben also Herr Haas und Herr Koch. Wie fandest du Herrn Haas?«

Doris sieht meine Antwort meinem Gesichtsausdruck an und lacht.

»Doch so toll, ja?«, meint sie.

»Der Typ ist die ärgste Schlaftablette. Aber den Job wird er sicher zuverlässig hinkriegen.«

»Ja, denke ich auch. Was ist mit Herrn Koch? Er geht in deine Lehrveranstaltung?«, fragt Doris.

Ich nicke.

»Wie findest du ihn?«

Es gibt doch diesen Psychotest, bei dem man ganz schnell auf Fragen reagieren muss. Die erste spontane Antwort soll dann auf das verweisen, was man wirklich empfindet. Sieht nicht so gut aus für mich, denn das erste Wort, das mir einfällt, ist: scharf. Im gleichen Moment bin ich genervt von mir. Eigentlich sollte ich ihn aufdringlich finden. Beides wäre aber wohl nicht die Antwort, die Doris erwartet.

»Er ist gut«, sage ich also.

»Ich muss sagen, mir hat er besser gefallen als Herr Haas. Er wirkt zuverlässig und hat Ahnung vom Fach. Außerdem hat er schon mehr Erfahrung.«

»Er ist ja auch schon ziemlich alt«, werfe ich ein.

»Ja, aber er hat das Studium erst später begonnen.«

»Ach so?«

»Sag mal, hast du dir die Lebensläufe wirklich angesehen?«

»Natürlich«, beteuere ich, »Aber ich kann mir doch nicht jedes Detail merken.«

Doris sieht mich skeptisch an, geht aber nicht weiter darauf ein.

»Koch oder Haas, für wen bist du?«, fragt sie.

Ich zögere. Eigentlich sollte ich mich wirklich nicht so anstellen. Ich habe mich absolut im Griff und Sven hat mir bisher keinen Anlass gegeben, zu denken, dass er hinter mir her ist. Außer diesem kleinen Blitzen in seinen Augen vielleicht. Eventuell bin ich tatsächlich ein bisschen paranoid, was das angeht. Wir sind erwachsen und es ist nun wirklich nicht so, als wären zwischen uns Gefühle im Spiel. Sven kann auch nichts dafür, dass ich ihn scharf finde. Von den drei Kandidaten war er der Kompetenteste. Es muss doch irgendwie zu schaffen sein, normal mit ihm umzugehen. Außerdem... Es wäre nicht nur unangenehm, ihn öfter zu sehen. Sein Anblick ist schließlich nicht scheußlich oder so.

Ich reiße mich also zusammen und sage: »Koch.«

Damit ist es fix: Sven ist unsere neue Hilfskraft.

Auf keinen Fall wir

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