Читать книгу Flüchtlingsdrama eines Drillings - Isa Louise Reichenbach - Страница 8
Die Geburt der Zwillinge und das Trauma des Todes
ОглавлениеEs war der 25. Februar 1944, als die Geburt bei der jungen Frau begann.
In dem kleinen Ort Zobten gab es nur ein kleines Krankenhaus, das die werdenden Eltern eilig aufsuchten. Allerdings war nur eine Hebamme im Krankenhaus und der Arzt selbst erkrankt. Dieses Krankenhaus war erzkatholisch und diese Menschen waren es gewöhnt, den evangelischen Glauben und seine Menschen abzulehnen oder zu bekämpfen. So geriet die junge Frau in dem katholischen Krankenhaus zwischen die Fronten menschlicher Zwietracht und Intoleranz. Die Nonnen sprachen kaum mit ihr und überließen sie mehr sich selbst.
Die Geburt verlief über viele Stunden. Es war in der Nacht gegen 3 Uhr, als das Mädchen das Licht der Welt erblickte. Mit seinen 6 Pfund sah es recht kräftig aus und krähte fröhlich in die neue Umgebung. Die Eltern gaben ihr den Namen Barbara und waren sehr glücklich und stolz. Die Mutter hatte jedoch weiterhin sehr starke Schmerzen. Man muss dazu sagen, dass es in Kriegszeiten damals keine medizinische Vorsorge gab und die Menschen mit den damit verbundenen Überraschungen fertig zu werden hatten. Als die Hebamme noch mal nachfühlte, lächelte sie und sagte:
„Ich traue meinen Augen kaum, da ist ja noch ein Köpfchen … Es kommt also ein zweites!“
Es war bereits in den Morgenstunden, als ein weiteres Mädchen in dieses Leben hineingepresst wurde! Die Eltern gaben ihr den Namen Sieglinde. So waren Barbara und Sieglinde auf der Welt – schöne und gesunde Mädchen. Die Eltern freuten sich und glaubten, ihr Glück sei vollkommen. Sie ahnten nicht, dass die beiden Mädchen den Hauch des Todes mitgebracht hatten ...
Die Zwillinge wurden in kleine Bettchen gelegt und konnten sich – genauso wie ihre Mutter – nach der anstrengenden Geburt erst mal ausschlafen.
Frau Badusche, Claires Nachbarin, erzählte im ganzen Ort, dass so schöne Zwillinge geboren wurden. So kamen die Leute ins Krankenhaus, um die Babys zu besichtigen und etwas Freude in diesen finsteren Kriegszeiten einzufangen. Die Kälte des Februars 1944 wurde von den Besuchern in den dicken Mänteln nicht gespürt! Es gab noch keine verschlossenen Glashäuser, in denen die Babys geschützt vor Wind und Wetter ihre ersten Tage erleben konnten, und auch die Heizung des Krankenhauses gab nicht viel her. So herrschte Durchzug und niemand beachtete das. Außerdem waren weder Fenster noch Türen dicht, sodass die Kälte im Krankenhaus den beiden sehr zu schaffen machte. Das Hin und Her der vielen Menschen an den Bettchen, die Kälte, die sie von draußen mitbrachten – all das machte die Mutter und die Kinder krank. Die Mutter, die die beste Versorgung an der Brust für ihre Kinder übernehmen wollte, konnte das nicht. Sie bekam eine Grippe und hohes Fieber. Man reichte ihr keine Medikamente, sondern überließ sie dem Krankheitsfortgang. Das Personal der Abteilung – verirrt in der Vorstellung, evangelische Familien seien wertloser als katholische – machte sich rar in der Pflege. Es gab nur das Nötigste, jedoch keine freundliche Zuwendung.
In diesen Zeiten wurde mit Wasser verdünnte Milch den Babys gereicht, deren Mütter nicht stillen konnten. Das gab natürlich Verdauungsstörungen. So vertrugen auch die beiden kleinen Mädchen, Barbara und Sieglinde, die künstliche Ernährung nicht so recht. Hinzukommend hatten sie sich erkältet, vielleicht auch bei der Mutter angesteckt.
Der junge Arzt, der ansonsten den Dienst im Krankenhaus versehen hatte, war selber erkrankt. Ein alter, längst pensionierter Arzt erklärte, dass er sich damit nicht auskennt. So signalisierte er, dass er damit nichts zu tun haben will. Aus diesem Grund entließ man nach wenigen Tagen die an Fieber erkrankte Mutter mit den kranken Zwillingen aus dem Krankenhaus.
Die kleine Wohnung war wenigstens gemütlich. Dennoch war auch hier kaum ausreichende Wärme zu erzielen, da der Winter 1944 seine Temperaturen um die 20 Grad Minus hergab. Die Öfen waren klein und nicht ausgerüstet, so viel Heizmaterial aufzunehmen. Nichtsdestotrotz hofften die jungen Eltern, dass sie den Kindern dort helfen konnten, gesund zu werden.
Glücklicherweise war trotz der schlimmen Kriegszeit noch die Telegrafie möglich. So konnte man Claires Mutter, die Oma der Zwillinge, eilig aus Stettin herbeirufen. Der Opa war bei der Bahn als Wagenmeister tätig, daher konnte die Reise von Stettin nach Zobten am Berge in Schlesien sofort arrangiert werden.
Die Oma war selbst Mutter von drei Töchtern. Doch das Leben in der Stadt war einfacher als in dem abgelegenen Dorf Zobten. Einen Arzt gab es ebenso wenig wie Medikamente für die an Fieber erkrankte Kindbettmutter. Diese schleppte sich elend und schlapp dahin und konnte vor Schwäche kaum das Bett verlassen. Die Oma kochte für ihre beiden süßen Enkelmädchen Tee und flößte ihnen diesen schlückchweise ein. Das sollte den Durchfall und das Erbrechen lindern, jedoch half er nicht, die Infektion einzudämmen. Die Kinder hatten gleichzeitig Hunger und Schmerzen und erbrachen sich. Sie schrien markerschütternd. Die Oma, die bis zu diesem Krieg schon ein schwieriges eigenes Leben gehabt und jahrelang ihre eigene, schwer erkrankte Mutter versorgt hatte, erlebte erschüttert ihre Ohnmacht, denn sie konnte ihrer Tochter und den leidenden Babys nicht helfen. Fassungslos stellten alle fest, dass keine Überlebensmöglichkeit besteht.
Der Vater, Edwin, wollte mit seinen kranken Babys gern in die größere Stadt Breslau fahren, um zu einem helfenden Arzt zu gehen, und fragte seinen Kompaniechef. Der lehnte jedoch mit dem Argument ab, dass es Fahnenflucht sei, wenn sich ein Soldat ein paar Kilometer von der Einheit entfernt. Und für Fahnenflucht gab es schwere Strafen bis hin zu Tod durch Erschießen. Vor dieser Strafe hatte Edwin wiederum Angst, weil er es bei Kameraden schon erlebt hatte – also gab es kein Entrinnen.
Oma Elsa war eine sehr gläubige evangelische Frau mit großer Liebe zu Gott, also taufte sie selbst die beiden todgeweihten Kinder auf ihre Namen Barbara und Sieglinde. Sie verzweifelte schier an den Umständen, hielt sich jedoch tapfer aufrecht, um das Nötige zu tun. Sie trug zusammen mit Edwin die sterbenden Kinder auf den Armen. Die Kindsmutter kämpfte um ihr eigenes Leben, sodass sie nichts tun konnte. Nicht nur die äußere Kälte ließ frieren, sondern auch die innere Kälte. Die Herzen erstarrten bei diesem Anblick von Leiden, Elend und Ohnmacht. Sie erlebten, wie zwei Kinder verhungerten. Es gab nichts Tröstendes, nichts, woran man Hoffnung festmachen konnte – Lähmung hatte sich unter diesen wenigen Menschen ausgebreitet.
Der Tod nahm zuerst das zweitgeborene Baby, Sieglinde. Sie lag im Arm des Vaters, als ihr Herz aufhörte zu schlagen.
Erschütterung in den Herzen. Stille und Fassungslosigkeit.
Ein kleiner weißer Sarg wurde bestellt, in den das Baby hineingelegt und zugedeckt wurde. Die Mutter der Kinder, immer noch vom Fieber geschüttelt, konnte gar nicht das Bett verlassen, um zur Beerdigung zu gehen. Der Pastor versuchte in seiner Trauerrede, die göttliche Vorsehung aufzuzeigen. Danach wurde der Sarg unter einem Baum in Zobten am Berge in die Erde versenkt.
Niemand konnte jedoch die Decke, die sich über die Erstarrten gelegt hatte, abnehmen. Es gab in jenen Kriegszeiten keine Gespräche, keine Nähe oder Zärtlichkeit, sondern nur Aufregung und Unruhe und den Kampf ums eigene Überleben, dem niemand entrinnen konnte.
Einige Tage später schloss auch das erstgeborene Mädchen, Barbara, für immer die Augen, um der Schwester zu folgen. Sie starb in Omas Armen und wurde auch in einen kleinen weißen Sarg gelegt. Als sie zu Grabe getragen wurde, schleppte sich die Mutter mit zum Friedhof. Sie wollte die Stelle sehen, an der ihre Kinder in die kalte Erde gelegt wurden. Zu ihrer eigenen Erkrankung kam die Erschütterung über das Erlebte. Das Geschehen war für sie unerträglich und es dauerte einige Zeit, bis ihr Körper die Kraft zur Gesundung fand und sie wieder in den Dienst treten konnte.