Читать книгу Flüchtlingsdrama eines Drillings - Isa Louise Reichenbach - Страница 9
Erneute Schwangerschaft und Kriegsende
ОглавлениеMan versetzte Claire, die eine gelernte Bürokauffrau war, in das Büro eines Kinderheims. Das Kinderheim war in Zobten und schnell für sie zu erreichen. Doch diesen Dienst versah sie nicht allzu lange, denn im Januar 1945 wurde das Kinderheim von Zobten nach Bad Kudowa verlegt. In diesem dauernden Wechsel bekam die junge Frau Heimweh und das unbändige
Verlangen, zu ihrer Mutter und den Schwestern nach Stettin zu fahren. Sie wollte nur noch nach Hause.
Claire, die den Geruch des Todes noch um sich hatte, war erneut schwanger. Sie war schwanger mit mir, die diese Zeilen schreibt. Überwältigt von Heimweg und den Geschehnissen, setzte sie sich in den Zug in Richtung Stettin, ihrem schönen Zuhause. Sie kam aber nur noch bis Berlin, denn weiter fuhren keine Züge mehr.
Da stand sie nun allein, ohne alles, und fragte sich, was nun wohl werden solle? Sie hatte Angst, Angst vor der Zukunft, sie kannte niemanden, auch keinen Arzt, und wusste nicht wohin mit sich und dem Kind in ihrem Bauch. Bedrückende Gedanken durchzogen sie, auch dass ihr das heranwachsende Kind wieder genommen werden könnte. Viel Zeit zum Denken blieb ihr allerdings nicht. Es musste vorangehen. Die Angst wurde abgehakt und ein neues Ziel gesucht.
Aus ihrer Verzweiflung heraus fuhr sie nach Köthen, wo ihr Mann stationiert war. Das Lager Köthen war gerade im Begriff, aufgelöst und nach Österreich verlegt zu werden. Etliche Soldaten waren schon umgesiedelt und hatten ihre Frauen mitnehmen dürfen. Als Claire ihrem Mann die Lage schilderte, fragte er den Lagerkommandanten, ob er seine Frau auch mitnehmen könne. Das wurde ihm jedoch verneint, denn eine schwangere Frau war nicht schnell und problemlos transportfähig.
Was sollte nun geschehen? Diese Zeit war geprägt von Angst und Panik ums nackte Überleben.
Nun schaltete sich ein Kamerad von Edwin – Hermann Ebmann – ein. Er sagte:
„Fahr zu meiner Frau Martha nach Werste. Dort ist kein Krieg. Dort wirst du unterkommen können“.
Da schon März 1945 war und das Kind im August geboren werden sollte, war die Zeit zum Zaudern und weiterem Suchen nach einer Bleibe ohnehin begrenzt. Während Claires Mann mit seinem Einsatzkommando nach Österreich abrückte, stieg die schwangere Frau in die Eisenbahn und fuhr in Richtung Minden. Nach Minden kam Bad Oeynhausen, wo Familie Ebmann wohnte. Als der Zug fünfzehn Kilometer vor Bad Oeynhausen angekommen war, ging es plötzlich nicht mehr weiter. Die Brücke über die Weser war gesprengt worden.
Wieder stand diese schwangere Frau völlig verdutzt ganz allein vor der Tatsache, dass es nicht mehr weiterging. Da sie noch nie in dieser Gegend war, wusste sie nun gar nicht, in welche Richtung sie nach Bad Oeynhausen musste. Was nun?
Da kam erneut etwas Unerwartetes zu Hilfe. Plötzlich riefen die Leute:
„Ein Milchwagen kommt. Der fährt nach Bad Oeynhausen und nimmt einige Leute mit.“
Da Claire schwanger war, durfte sie bis zum Bahnhof in Bad Oeynhausen mitfahren. Von dort aus konnte sie die Schwägerin von Frau Ebmann, Lisa Halstenbach, anrufen, die sie dann mit dem Fahrrad abholte.
Nun lagen die Schrecken, heimatlos zu sein, endlich hinter dieser jungen Frau, die viel Schreckliches und Verluste erlebt hatte. Nun, in eine fremde Gegend gekommen, würde sie die Natur mit neuem Leben erfüllen.
Das werdende Leben sollte das Licht der Welt im August erblicken. Ein Leben, das buchstäblich in und aus den Trümmern entstanden und dazu bestimmt war, ein neues und friedlicheres Zeitalter zu gestalten.
Der Krieg war am 8. Mai 1945 zu Ende.
Auch am Ende war die Hoffnung so vieler Menschen, die wie meine Eltern ihre Heimat hinter sich gelassen hatten, diese jemals wieder betreten zu dürfen. Daran, Hab und Gut wiederzubekommen, verschwendete niemand Gedanken. Verloren waren harmonische Träume, das schöne Leben, die Gemeinsamkeiten, der Austausch der Erlebnisse, die Fröhlichkeit des Plauderns, der Vergnügungen, ja, die familiäre Geborgenheit. Das waren verlorene Gefühle – erfroren und erstarrt. Sie waren einfach nicht mehr vorhanden. All das war mit einer dicken Mauer umringt. Eine Decke des Schweigens verhüllte die Vergangenheit.
Gezeigt wurden ehemals Einsatz, Leistungsdenken, Handeln, Tun und Aufbauen. Gefühle, die vor dem Krieg erlebt und gelebt wurden, die menschliche Beziehungen geknüpft hatten, wurden mit jedem Bombenangriff in Angst verwandelt. Sie wichen mit dem Anblick des Sterbens und der dauernden Flucht aus den Menschen. Unsicherheit und Angst setzte sich tief und fest in die Menschen. Es gab keine Antworten auf die Frage Warum.
Frau Halstenbach freute sich, dass sie der jungen Frau helfen konnte, und wies ihr einen kleinen Raum in ihrem Hause zu. Hermann, der Kriegskamerad von Edwin, und seine Frau Martha lebten direkt daneben. Aber sie hatten weniger Platz als Frau Halstenbach, die Schwägerin. Im Haus lebte noch die Oma Halstenbach.
Diese Menschen, die der Krieg verschont gelassen hatte, standen der werdenden Mutter sehr freundlich gegenüber. Claire half im Haushalt, so wie sie es konnte. Diese Menschen schenkten ihr einen Lebensraum. Claire lebte sich in dieser fremden Umgebung des kleinen Ortes Werste ein. Sie atmete beständig diese fremde Luft ein. Das bedeutete ihr Leben. Alle gingen sehr freundlich mit ihr um. Dennoch war sie von dem, was sie durchleben musste, sehr verängstigt, verletzt, entwürdigt. Sie verschloss sich. Die Bilder der Vergangenheit waren nicht greifbar. Es war nichts da, was ihr vertraut war, woran sie selbst festhalten konnte. Diese fremde neue Welt war nicht ihre Welt. Heimat war etwas, wo sie sich ehemals sicher und geborgen gefühlt hatte. In dieser fremden neuen Welt kam sie sich wie ein Eindringling vor. Grundsätzlich war es so. Die Fremden waren von drüben gekommen. Niemand kannte das Drüben. So konnten in dem unverdauten Durcheinander keine wärmenden Gefühle entstehen. Claire blieb reserviert, kühl und zurückhaltend. In innerer Abwehr vor dem, was noch Schlimmes passieren kann, lebte sie fortan. Das änderte sich auch durch die Geburt ihrer dritten Tochter nicht.
So trafen verschiedene Frauen aufeinander, die angespannt einander fast belauerten. Die heimischen Frauen waren an bestimmte Rhythmen gewöhnt, die sie beibehalten konnten. Sie hatten Haus und Hof behalten und lebten mit ihren Kindern und ihren Familien in einem solchen Rahmen, der immer Bestand gehabt hatte.
Sie mussten diese fremde Frau bei sich aufnehmen, die ankam von ... ja woher denn überhaupt? Sie war auch noch schwanger, stammte aus dem Nichts der Trümmer, ohne Hab und Gut und überhaupt irgendetwas! Erstaunlich, dass sie die deutsche Sprache perfekt beherrschte. Die Menschen vermuteten die Flüchtlinge, die schweres hinter sich hatten, aus fernen, unbekannten Landen, ohne technischen Fortschritt, nicht aber aus dem heimatlichen Deutschland.
Es war April 1945 und Osterzeit. Am Mittag des Karfreitags heulten die Sirenen. Bedrohlich und drückend wurde die Luft.
Da es in Bad Oeynhausen auch ein großes Munitionslager, Die Weserhütte, gab, war dies natürlich ein bevorzugtes Ziel der Tiefflieger, die Bomben abwarfen.
Alles wurde in dunklen Nebel verhüllt. Der furchtbare Lärm lähmte die angsterfüllten Menschen. Die werdende Mutter und die Familien, bei denen sie wohnte, besaßen keinen Bunker. Also mussten sie – lange stumm sitzend – im Haus verharren, bis der Angriff vorüber war. Sie brauchten eine Weile, bis sie wieder an ihr Tagwerk gehen konnten, denn der Schrecken saß tief.
Die Zeit, die dann kam, veränderte Bad Oeynhausen und das Leben der Bewohner. Der Ort wurde besetzt. Erst zogen die Amerikaner ein, danach kamen die Engländer hinzu. Die Menschen mit den fremden Sprachen zogen überall um den kleinen Ort und die umliegenden Dörfer dicke runde Rollen Stacheldraht. Da konnte niemand, der an den Stacheldraht kam, mehr weitergehen. In jenen Tagen hieß es:
„Die Amerikaner kommen. Sie besehen sich die Häuser, um zu sehen, wo sie etwas besetzen können, um dort zu wohnen.“
Die Bewohner der betroffenen Häuser wurden ausgewiesen und mussten dann irgendwo anders unterkommen. Die Menschen waren niedergeschlagen aufgrund dieser Maßnahmen. Sie zogen gewöhnlich zu anderen Familienangehörigen, die noch Platz im Haus hatten.
Als in das Haus von Familie Halstenbach die Amerikaner kamen zur Besichtigung, blieben alle in einem Raum versammelt: Familie Halstenbach, Familie Ebmann, die Oma und Frau Blase mit ihren drei Kindern, die auch dort untergekommen war, sowie die schwangere Claire. Das Haus, in dem sie alle wohnten, war etwas renoviert und umgebaut worden. Dadurch lag vor dem Haus ein hoher Schuttberg. Die Amerikaner dachten möglicherweise, dass da etwas zertrümmert worden war und der Schutt daher stammte. Sie gingen an dem Haus vorbei, sodass Claire dort zunächst weiterhin wohnen konnte. Sie hatte sich recht gut eingelebt und genoss die Ruhe und den Alltag.
Zu jener Zeit waren Hebammen für die Geburt des Babys zu Hause zuständig. Da die Tochter der Halstenbachs erst ein Jahr alt war, konnten sie der werdenden Mutter eine Hebamme empfehlen. Die Hebamme hieß Frau Burre. Sie war so, wie man sich eine Hebamme vorstellte: liebevoll, gemütlich, gut aufgelegt, verschmitzt und dicklich. Sie sprach der Ernährung anscheinend gut zu. Frau Halstenbach brachte die beiden Frauen zusammen, die sich auf Anhieb mochten. Das war eine gute Voraussetzung für eine positiv verlaufende Geburt.
Die Männer kamen erst im Juni 1945 aus dem Krieg zurück, Anfang Juni zuerst Herr Ebmann und am 12. Juni endlich Claires Mann Edwin. Er war in französischer Gefangenschaft gewesen. Die Freude aller war riesengroß über das gesunde Wiedersehen. Da Edwin vor dem Krieg schon bei der Filmgesellschaft Ufa gearbeitet und im Krieg an bestimmten Orten als Conférencier gearbeitet hatte, bekam er sofort in dem 15 Kilometer entfernten Ort Vlotho wieder eine Anstellung bei der Ufa.
Die Wohnung bei Halstenbachs war nun zu klein für das Ehepaar. Es wurde eilig eine Wohnung gesucht, leider gab es zu dieser Zeit keine, da Bad Oeynhausen besetzt war. Die Oeynhauser Bürger waren schon überall ausquartiert worden und mit anderen Familien zusammengezogen. Die Familien, bei denen meine Eltern untergekommen waren, nahmen Kontakt zu ihren Verwandten auf, um das Wohnungsproblem meiner Eltern zu lösen. So fand sich eine in der Nähe wohnende Tante, eine alte Dame mit dem Namen Poppensieker, die einen Raum für die zukünftige kleine Familie freimachen konnte. Sie wohnte in einer netten Gegend mit kleinen Häusern und sehr gepflegten Vorgärten in der Straße mit dem Namen Fürstenwinkel. Das große Zimmer, das meine Eltern beziehen durften, lag im ersten Obergeschoss und war über eine schon durchgetretene Holztreppe zu erreichen. Der dunkelrote Anstrich der Stufen war abgetreten und das weiße Geländer abgegriffen. Trotzdem waren sie sehr froh, dort untergekommen zu sein.
Edwin und Claire bekamen die rechte Seite. Der Raum, in den man hineinkam, glich einem langen Schlauch. Wenn jemand an einer Seite einen Laut von sich gab, kam vom anderen Ende das Echo. Der Raum war nicht unterteilt, sondern zwei Meter und fünfzig Centimeter breit und sechs Meter lang. Die Möbel konnte das junge Ehepaar auf Bezugsscheine kaufen. Sie erwarben einen schönen Kleiderschrank, eine Schlafcouch zum Ausziehen, einen Tisch, Stühle und zwei Sessel. Das sah recht wohnlich aus. Ein Herd stand auf der Seite neben der Türe, die zum Flur hinausführte. Das Kinderbett stand auf der anderen Seite.
Der August 1945 ging ins Land, aber ich war zum errechneten Termin noch nicht geboren. Ich wollte wohl noch nicht raus aus dem schützenden und warmen Mutterleib, so ließ ich noch eine Weile auf mich warten.