Читать книгу Am anderen Ende der Welt - Isabel Lüdi-Roth - Страница 11
ОглавлениеKapitel 3 : Ein Jobangebot
Ben erwachte und brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden. Wo war er? Er hörte Kinderstimmen und Lachen. Die Erinnerung kam langsam zurück. Er fasste sich an seinen Kopf, der Verband war in der Nacht abgefallen.
Ben richtete sich schnell auf und sprang aus dem Bett. Wie viel Uhr war es wohl, hatte er lange geschlafen? Der Akku seines Smartphones war leer und er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er stolperte fast über seine Tasche. Wer hatte die geholt und dahingestellt? Ihm war das alles peinlich. Er brauchte dringend eine Dusche, ob er einfach danach fragen sollte?
Zögernd verließ er das Zimmer und schon wurde er von den Kindern bestürmt. Halb Englisch, halb Schweizerdeutsch redeten sie auf ihn ein. Die zwei kleinen Jungen hatte er am Vorabend kurz gesehen, aber die beiden älteren Kinder waren noch nicht zu Hause gewesen.
«Du bist Ben, oder?», fragte Leah.
«Schläfst du immer so lange?», wollte Chloe wissen.
Liam zeigte ihm seinen Ball und rief: «Kommst du mit nach draußen zum Spielen?»
Ein wenig hilflos schaute Ben sich um, da trat zum Glück Stella aus der Küche.
«Hey, Kinder, das ist unser Gast, er heißt Ben. Er hat sicher Hunger.» Sie warf ihm ein fröhliches Lächeln zu und scheuchte die Kinder scherzend fort. «Husch, husch, ihr Wilden, lasst Ben etwas Zeit.»
Nur Josh, den Jüngsten, behielt sie auf ihrem Arm, die drei anderen stürmten lautstark in ihr großes gemeinsames Spielzimmer.
«Guten Morgen, Ben, hast du gut geschlafen?»
«Ähm, ja, danke, tief und fest. Wie viel Uhr ist es denn?»
Stella stellte einen Teller und eine Tasse für ihn auf den Tisch und lachte. «Es ist schon zehn Uhr. Die Kinder lärmen sicher seit sieben, du musst einen Schlaf wie ein Schweizer Murmeltier im Winterschlaf haben!»
Ben war das peinlich! Er schaute zu Boden und stotterte: «Ach, du meine Güte, ich bin sonst kein Langschläfer!»
Stella lachte. «Wie geht es deinem Kopf ?»
«Danke, viel besser.»
Sie nahm ihn bei der Hand, schüttelte entschuldigend den Kopf und zog ihn mit sich, während Josh noch immer auf ihrem Arm hockte. «Du möchtest sicher zuerst einmal duschen, komm, ich zeig dir alles.»
Sie schien Gedanken lesen zu können! Sie ließ seine Hand wieder los. Eigentlich schade, dachte er.
Stella führte ihn in das einfache kleine Badezimmer und drückte ihm ein Duschtuch in die Hände. «Nimm dir alles, was du brauchst. Duschgel, Shampoo und keine Ahnung, was Männer sonst noch so nötig haben. Bedien dich einfach bei Phils Zeug, okay?»
«Super, vielen Dank!», sagte Ben erleichtert.
Stella blieb im Bad stehen und Ben räusperte sich.
«Ach, du meine Güte, entschuldige, bin schon weg.» Stella errötete und verschwand schnell um die Ecke.
Ben musste schmunzeln. Sie war echt süß.
Er genoss die Dusche wie wohl noch keine vorher. Vorsichtig ließ er das Wasser auch über seine verschwitzten und blutverkrusteten Haare fließen. Die Wunde brannte noch ein wenig. Die Kopfschmerzen waren aber wie weggeblasen.
Unterdessen machte Stella das Frühstück für Ben. Sie selber hatte schon lange mit den Kindern, Julia, Phil und Taonga gegessen.
Die drei waren danach an ihre Arbeit gegangen. Julia war jeden Morgen in einer Klinik beschäftigt und die Männer hatten auf dem zukünftigen Campingplatz viel zu tun. Stella war für die vier Wildfänge zuständig, bis Julia wieder zurück war. Die Mädchen hatten gerade Weihnachtsund Sommerferien, die bis Ende Januar dauerten, und die Jungen waren immer zu Hause, da sie noch nicht zur Schule gingen.
Ben trat frisch geduscht und mit neuen Kleidern ins Esszimmer.
«Vielen Dank für alles!»
Stella lächelte ihn fröhlich an. «Kein Problem.»
Dieses Lächeln! Ben konnte seinen Blick kaum von Stella wenden. Sie war wunderschön, sogar in den etwas seltsamen Kleidern, die sie trug. Heute war es ein geblümtes ärmelloses Kleid, unter dem sie kurze Leggins trug. Ihr Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Ben schaute zu Boden, es war unhöflich, sie so anzustarren.
Stella schien es zum Glück nicht bemerkt zu haben. «Magst du nichts essen? Du bist schon um dein Abendessen gekommen, da du so schnell eingeschlafen bist.» Sie schien fast ein bisschen besorgt zu sein.
Ben griff herzhaft zu, er hatte tatsächlich eine ganze Weile nichts mehr gegessen.
Phil schaute kurz vorbei und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war. Er wollte auch hören, wie es Ben ging.
«Alles in Ordnung, vielen Dank, Phil», sagte Stella lächelnd.
«Ja, herzlichen Dank», stotterte Ben.
Josh krabbelte am Boden herum. Stella hatte ihr Gesicht in die Hände gestützt und schaute Ben beim Essen zu.
Er schien wirklich Hunger zu haben und Stellas New Zealand Breakfast zu mögen. Seine Haare waren noch nass und deshalb nicht so wild wie am Vortag. Nur hier und da kämpfte sich eine vorwitzige Locke heraus. Er hatte kräftige Arme und Hände.
Stella überlegte sich, was er von Beruf sein könnte. «Arbeitest du auf dem Bau oder so?»
Ben schaute erstaunt auf. Wie war sie plötzlich auf diese Frage gekommen? «Wieso meinst du?»
Stella zeigte lächelnd auf seine Oberarmmuskeln und sagte: «Ich überlege mir gerade, wie du wohl zu denen gekommen bist.» Sie lächelte ihn wieder an und fügte hinzu: «Im Büro bekommt man die wohl nicht und auch nicht im Studium, oder?»
Ben erzählte von seinem Job in der Zimmerei und davon, dass er gerne kletterte. «Eigentlich würde ich jetzt, wenn es nach meinem Vater ginge, in irgendeinem Hörsaal sitzen, aber ich konnte mich bis jetzt für kein Studium erwärmen.»
Stella hörte interessiert zu. «Dann bist du sozusagen nach Neuseeland geflüchtet vor den Plänen deines Vaters?»
«So ungefähr.»
Stella schaute ihn lange nachdenklich an. «Aber da ist noch mehr, oder?»
Ben hätte sich fast verschluckt. Diese junge Frau konnte wohl wirklich Gedanken erraten. Er erzählte ihr einiges, was ihn schon lange bedrückte, sogar von Naemi. Er konnte es selbst fast nicht glauben, aber er redete und redete und Stella hörte geduldig und interessiert zu und stellte sehr einfühlsame Fragen. Er hatte sich noch nie jemandem so anvertraut, aber er merkte, dass es guttat. Er erzählte ihr sogar, wie sehr er vom Glauben enttäuscht war und dass er ziemlich sicher nie mehr eine Kirche betreten würde.
Stella schaute ihn traurig an. «Das tut mir leid. Menschen können so verletzen. Wenn sie dann auch noch Christen sind, schmerzt es noch viel mehr. Von Christen erwarten wir einfach mehr, ist es nicht so?» Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Ja, Menschen enttäuschen uns, aber Gott ist anders!»
Ben schwieg. Sie war also anscheinend auch Christin.
Stella musste zwischendurch immer wieder nach den Kindern sehen, einen Streit schlichten oder ihnen etwas zu trinken einschenken. Sie machte dies mit einer Ruhe und Freundlichkeit, die ihn faszinierten.
«Und du bist Erzieherin?», fragte er sie mehr zum Scherz.
«Genau!», schmunzelte sie. «Ich habe meine Ausbildung in einer Kindertagesstätte im letzten Sommer, also im Schweizer Sommer, abgeschlossen.»
Sie senkte ihren Blick und schwieg einen Moment. Dann schaute sie Ben traurig an.
«Was ist passiert?», fragte er.
«Ich konnte meine Ausbildung dort als Einzige ohne ein vorheriges Praktikum beginnen, was zwar erlaubt, aber in diesem Beruf unüblich ist. Na ja, die Chefin fand einfach, dass ich sehr geeignet für den Beruf bin. Meine Kolleginnen waren aber immer eifersüchtig und haben mich das spüren lassen. Ich war deswegen natürlich auch die Jüngste, sie nannten mich das Baby. Als ich dann von meiner Chefin als frisch Ausgebildete die Gelegenheit bekam, als Gruppenleiterin zu arbeiten, wurde ich von meinen Mitarbeiterinnen gemobbt. Es war so schlimm, dass ich am Ende des Herbstes kündigen musste, ich hielt es einfach nicht mehr aus!»
Ben war schockiert und wütend gleichzeitig. Er warf Stella einen ermutigenden Blick zu, damit sie weitererzählte.
«Da fragte mich Julia an, ob ich ihr hier mit den Kindern und dem Haushalt unter die Arme greifen könnte. Ich könnte gleichzeitig Englisch dabei lernen. Sie konnte so eine gute Arbeitsstelle bekommen, bei der sie jeden Morgen in einer Klinik arbeitet. Es ist in ihrem Beruf keine Selbstverständlichkeit, regelmäßig arbeiten zu können, deshalb war sie froh, diese Tätigkeit annehmen zu können, natürlich auch aus finanzieller Sicht. Tja, und jetzt bin ich hier.»
Stella schaute auf die Uhr und erschrak. Es war fast Mittag und sie sollte doch das Mittagessen für alle zubereiten. Ben half ihr und gemeinsam schafften sie es, etwas Leckeres auf den Tisch zu zaubern, bis Julia, Phil und Taonga eintrafen.
Beim Essen sprachen sie darüber, dass sie dringend Mitarbeiter bräuchten, aber das Geld fehlte, um sie zu bezahlen.
«Wir brauchen Hilfe, sonst schaffen wir das nicht. Solange wir den Campingplatz nicht eröffnen können, haben wir keine Einnahmen. Und die benötigen wir dringend», klagte Phil.
Er arbeitete von Montag bis Mittwoch als Englischlehrer an einer höheren Schule und auch Taonga hatte verschiedene zusätzliche Jobs, um das Einkommen etwas zu verbessern, doch es kam einfach zu wenig zusammen.
Phil schaute ernst drein und sogar Taonga fehlte heute das Lachen. «Wir sind mit allen Projekten im Rückstand. Die Surfschule ist nicht so weit wie geplant. Dein Laden, Julia, ist noch eine Baustelle. Unsere kleine Kirche, die auf unserem Land steht, hätte dringend eine Renovierung nötig. Es sind einfach zu viele Projekte auf einmal und wir sind alle etwas chaotisch veranlagt, wir bräuchten jemanden, der das Ganze planen und leiten könnte.»
Ben hörte gespannt zu. «Was sind das für Projekte, die ihr da plant und wie kam es dazu?»
Phil begann Ben alles genau zu erklären. Er erzählte von dem großen Landstück, das er geerbt hatte, und die Ideen, die sie dafür hatten. «Dieses Stück Land hat mein Großvater vor über 75 Jahren von Maori erworben. Er baute dieses Haus, wir haben es kürzlich renoviert und angebaut. Mein Großvater war Pastor, er baute auch die kleine Kirche da drüben, die dringend saniert werden müsste.»
Phil schöpfte sich noch einmal eine große Portion. Er lächelte Julia an und fuhr fort: «Meine Frau Julia ist sehr künstlerisch begabt und fertigt aus Naturmaterialien, die sie in der Umgebung findet, wunderschöne Deko Objekte an, die sehr beliebt sind. Wir sind dabei, ihr einen kleinen Laden zu bauen, in dem sie dann die Sachen verkaufen kann.»
Julia schüttelte den Kopf und klagte: «Meine Sachen stapeln sich überall, ich habe die Übersicht verloren.»
Phil nickte. «Dann ist da noch unser größtes Projekt, der Campingplatz. Das Campen ist in Neuseeland sehr beliebt. Einerseits bei den Neuseeländern, denn die meisten können sich keine Ferien außerhalb des Landes leisten, weil man, wohin man auch will, sehr lange fliegen muss. Aber auch die vielen ausländischen Touristen übernachten gerne auf Campingplätzen.»
Nun strahlte Taonga übers ganze Gesicht, sodass seine weißen Zähne aufblitzten. «Ich bin unter anderem auch Surflehrer und da zu diesem Landstück ein Stück Strand gehört, würden wir gerne eine Surfschule aufbauen.»
«Taonga ist außerdem Pastor, am Sonntag predigt er in der alten Kirche, es kommen jeweils etwa 50 Leute. Viele dieser Menschen unterstützen uns, wo sie können, jeder macht das, was er gut kann», erklärte Julia weiter.
Phil nickte. «Aber es läuft alles ein bisschen chaotisch, wir Neuseeländer sind sehr spontan und nicht so organisiert wie ihr Schweizer.» Stella hatte nicht alles verstanden, aber das Wichtigste schon und nun schaute sie Ben mit großen, fragenden Augen an. Diese Augen!
Bens Herz schlug Purzelbäume.
Sie war irgendwie so naiv, zum Verlieben naiv, sie schien überhaupt nicht zu ahnen, was sie in ihm auslöste.
«Nun?» Stella lächelte Ben an.
«Äh, was meinst du?»
Stella lachte: «Du bist doch handwerklich begabt und suchst in Neuseeland einen Job, nicht wahr? Zudem hast du die Matura gemacht, da wirst du doch wohl auch ein bisschen gelernt haben, wie man Projekte plant und wie man zu Finanzen kommt und so weiter. Oder für was hast du so lange die Schulbank gedrückt?» Sie grinste.
«Na ja», meinte er.
Sie zwinkerte mit den Augen und rief laut in die Runde: «Das ist doch der Mann, auf den ihr gewartet habt, oder etwa nicht?»
Ben war so erstaunt, dass er vergaß, den Bissen, den er gerade im Mund hatte, weiter zu kauen. Er schaute entgeistert drein und stotterte: «Äh, mir kommen da schon ein paar Ideen.»
Die vier schauten ihn erwartungsvoll an. Ben erzählte, was ihm durch den Kopf gegangen war, als sie von ihren Projekten erzählt hatten. Phil und auch Julia und Taonga waren begeistert.
«Übernimmst du den Job?», fragte Phil. «Ehrlich gesagt, können wir dir nur ein Taschengeld bezahlen. Aber du könntest hier wohnen und essen und alles mitbenutzen, was du benötigst. Vom Surfbrett über Werkzeug bis zum Auto. Was denkst du?»
Ben hatte immer noch den Bissen im Mund. Er kaute und schluckte, dann räusperte er sich. Acht Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Er schaute in die stahlblauen Augen von Stella und wusste nicht, was es noch zu überlegen gab. Wo bekäme er noch einmal ein solches Angebot? Er könnte hier helfen, etwas Geniales aufzubauen. Seine Ideen, seine Planung und Organisation wären gefragt. Und der im Moment für ihn aufregendste Gedanke an der Sache war, dass er sich nicht von Stella verabschieden müsste und sie besser kennenlernen könnte. Geld war ihm nicht so wichtig.
«Tja, ich könnte es zumindest einmal versuchen.»
Phil sprang von seinem Stuhl auf, rannte um den Tisch und umarmte Ben. Dieser wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah.
«Lass ihn, Phil, der arme Kerl ist erst seit vorgestern in Neuseeland und weiß noch nicht, wie verrückt ihr alle seid!» Julia schaute den verdutzten Ben mitleidig an. «Eines wirst du schnell lernen, Ben, die Neuseeländer sind ziemlich verrückt, mein Mann ist da keine Ausnahme. Aber er freut sich wirklich sehr, dass du uns unterstützen möchtest. Wir alle freuen uns sehr!»
Ben musste lachen. Diese Familie war tatsächlich total anders als seine in der Schweiz. Aber ihre Art gefiel ihm immer mehr. «Ich müsste aber vermutlich mein Visum ändern, mit dem Visitor Visa darf ich nicht arbeiten und ein Working Visa konnte ich ohne einen Job in Neuseeland nicht beantragen. Ein Working Holiday Visa habe ich auch nicht bekommen, da die Schweiz nicht in der EU ist und kein entsprechendes Abkommen mit Neuseeland hat.»
«Ja, das ist alles etwas kompliziert, aber ich werde mich darum kümmern», entgegnete Phil fröhlich.
Nach dem Essen stellte sich Stella zur Verfügung, die Küche wieder auf Vordermann zu bringen, und Ben meldete sich freiwillig, um sie dabei zu unterstützen. Die Männer waren bereits wieder draußen bei der Arbeit. Julia war mit den Kindern ebenfalls dort, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das mit der Küche für die beiden wirklich okay war.
Stella drehte sich abrupt vom Waschbecken um und spritzte Ben dabei mit der nassen Bürste mitten ins Gesicht. «Sorry!» Lachend reichte sie ihm das Geschirrtuch, damit er sich abtrocknen konnte.
«Ich bin manchmal etwas ungeschickt. Geht’s?» Ben schmunzelte. Sie war so süß.
«Weißt du, ich finde es echt toll, dass du hierbleibst. Ich glaube, du wirst eine gute Unterstützung sein in diesen Projekten. Du bist nicht nur handwerklich geschickt, sondern auch sehr clever.»
Woher wollte sie das wissen? Sie kannte ihn erst seit gestern. «Ich hoffe, ich enttäusche dich nicht. Du kennst mich doch kaum.»
Stella lächelte ihr bezauberndes Lächeln, sodass es in Bens Magengrube kribbelte. «Weißt du, ich bin nicht gerade sehr klug, aber ich habe ziemlich gute Menschenkenntnisse. Du bist genau der Richtige für diesen Job.»
Ben krauste die Stirn. «Nicht klug, wie um Himmels Willen kommst du darauf ?»
Stellas Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. «Das hat man mir oft genug in der Schule gesagt. Ich bin einfach anders. Ich lerne anders als die meisten. Ich war nie sehr gut in der Schule, ich hätte wohl eine kreativere Form des Lernens benötigt.»
Stella hatte die Pfannen fertig abgewaschen und wandte sich Ben ganz zu. «Ich kann einige Dinge ziemlich gut. Ich bin musikalisch, kann gut zeichnen und ich schneidere meine Kleidung selbst. Aber damit kommt man in der Schule nicht sehr weit.»
Ben schaute sich ihr Kleid nochmal genauer an. «Darf ich?», fragte er und nahm den Stoff des weiten Kleides ohne eine Antwort abzuwarten in die Hand. «Du hast das selbst genäht?», fragte er ungläubig. Er hatte gestern gedacht, dass er solche Kleider noch nie gesehen hatte, kein Wunder, wenn Stella sie selbst entwarf.
«Ich mag keine Kleider von der Stange, darum schneidere ich mir fast alles selbst, so wie es mir gefällt.»
Ben war fasziniert. Die Kleider hätten ihm normalerweise nicht so sehr gefallen, aber sie passten perfekt zu Stella und machten sie zu etwas ganz Besonderem. «Wunderschön ... äh, das Kleid!» Eigentlich fand er nicht nur das Kleid toll.
Stella lächelte erfreut. «Ich wurde immer ausgelacht wegen meiner Kleider. In der Schule trugen die Mädchen eine Zeit lang nur schwarze Klamotten. Ich fühlte mich jeden Tag wie auf einer Beerdigung.»
Ben musste lachen.
«Ich mag es bunt und verstehe nicht, warum ich mich wie alle anderen kleiden soll, nur um dazuzugehören.»
Ben staunte über diesen Mut. Er musste sich eingestehen, dass er oft Dinge getragen hatte, die ihm gar nicht speziell gefielen, die aber gerade in gewesen waren.
Ben druckste zuerst ein wenig herum, aber dann sagte er: «Du bist klug, sehr klug, sogar.»
Stella errötete und sah ihn fragend an.
«In der Schule gut zu sein heißt noch lange nicht, dass jemand besonders intelligent ist. Vieles ist einfach auswendig gelerntes, an Prüfungen abrufbares Wissen. All dieses Gelernte wird ganz schnell wieder vergessen, was bringt es dir dann? Für mich ist jemand wirklich klug, wenn er sich selber eine Meinung bilden kann und gute Entscheidungen fällt, zu denen er durch eigene Überlegungen gekommen ist. So wie du.»
Stella errötete noch mehr. «Meinst du wirklich?» Ben lächelte sie an. «Aber ganz sicher.»
Stella wollte Ben gerne glauben, aber irgendwie gelang es ihr nicht so richtig, sie fühlte sich nicht wirklich klug.
Um das Thema zu wechseln, fragte sie Ben nach seinem Gepäck. Julia hatte ihnen beim Gehen gesagt, sie könnten am Nachmittag für Ben die fertiggestellte Cabin einrichten, sodass er da wohnen konnte.
«In deinem Auto habe ich gestern Abend nur das eine Gepäckstück gefunden. Ist das alles, was du dabei hast?»
Ben nickte. Sie hatte also seine schwere Reisetasche ins Gästezimmer geschleppt. «Ja, das ist alles. Ein paar Klamotten und was man sonst noch so dringend braucht. Ich dachte, alles andere kann man sich hier kaufen, wenn man es benötigt.»
«Klar», erwiderte Stella. «Dann zeige ich dir also dein neues Zuhause.»
Sie führte ihn durch den zukünftigen Campingplatz. Phil und Taonga winkten den beiden fröhlich zu. Sie waren gerade dabei, das Fundament für die zweite Cabin zu betonieren. Der Campingplatz glich im Moment eher einer Baustelle als einem gemütlichen Ort zum Urlaubmachen. Es waren überall Arbeiten begonnen, aber nichts war richtig zu Ende gebracht worden.
Außer eben die eine Cabin, in der Ben ab heute wohnen würde. Es war eine einfache Holzhütte mit einer kleinen Veranda, über die man ins Innere trat. Drinnen gab es eine Kochnische und ein kleines Bad mit Toilette und Dusche.
Es waren jedoch noch keine Möbel vorhanden. Stella stemmte die Arme in die Hüften und sah sich um. «Du brauchst ein Bett, einen Tisch und Stühle. Brauchst du auch Küchenutensilien? Essen kannst du ja eigentlich mit uns.»
Ben schüttelte den Kopf.
«Aber du meine Güte, ich muss dir unbedingt Vorhänge nähen, das gibt dem Raum etwas Farbe.» Sie zählte einige weitere Dinge auf, die er ganz dringend benötigen würde, und er schaute entzückt zu, wie sie sich voll ins Zeug legte.
Ihm wäre es völlig egal gewesen, ohne Vorhänge zu leben, er brauchte auch die anderen Dinge nicht wirklich. Er war ein Mann. Aber er fand es süß, wie Stella sich um Dinge Gedanken machte, die ihm schlicht und einfach nie in den Sinn gekommen wären.
«Welche Farbe magst du? Ich meine, für die Vorhänge.»
Ben war sich nicht sicher, besser gesagt, es war ihm egal. «Oh, ich habe keine Ahnung, aber mir gefällt ganz sicher alles, was du dir ausdenkst.»
Stella schüttelte den Kopf, «Du weißt nicht, was für eine Farbe dir gefällt? Ich würde lindgrün nehmen, das passt gut zum Holz und macht den Raum freundlich.»
Ben hatte noch nie von lindgrün gehört, aber er beschloss, dass dies von heute an seine Lieblingsfarbe sein würde. Sie hätte ihm auch rosa Gardinen mit grünen Streifen vorschlagen können und es hätte ihm gefallen.
Als sie so in der kleinen Hütte herumwirbelte, voll in ihrem Element, wurde er von starken und verwirrenden Gefühlen überwältigt. Er wollte sie am liebsten in die Arme nehmen und an sich drücken. Er hätte auch gar nichts dagegen gehabt, sie zu küssen! Er hatte sich bis über beide Ohren in dieses Mädchen verliebt.
Diese Gefühle waren ungebeten gekommen, und er versuchte sie wegzuschieben. Er hatte Angst davor, wieder verletzt zu werden. Zudem war sie auch Christin und er wollte eigentlich nichts mehr mit dem christlichen Glauben zu tun haben.
«Hallo!» Stella stand plötzlich ganz dicht vor ihm und fuchtelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. «Träumst du?» Sie lachte. «Ich habe dich schon drei Mal gefragt, ob wir zusammen die fehlenden Sachen einkaufen wollen. Du kannst Auto fahren, oder? Und ich weiß, wo die Läden sind.»
«Äh, ja, klar, sehr gerne, ich habe keinen Schimmer, was man für einen kleinen Haushalt benötigt.»
Stella strahlte übers ganze Gesicht.
Es stellte sich heraus, dass Julia sowieso zu einem Einkaufszentrum in die nächstgrößere Stadt fahren wollte. Sie nahm Stella und Ben in ihrem Familienauto mit, das, wenn die Kinder nicht dabei waren, auch für die Möbel Platz hatte.