Читать книгу Am anderen Ende der Welt - Isabel Lüdi-Roth - Страница 16
ОглавлениеKapitel 8 : Von der Vergangenheit eingeholt
Der nächste Sonntagmorgen kam schon bald. Ben überlegte, was er anziehen sollte. Er hatte nur bequeme und sportliche Kleidung nach Neuseeland mitgebracht, überhaupt nichts Elegantes oder auch nur annähernd Passendes für die Kirche.
Es war bereits Zeit zum Gehen, Stella würde ihn jeden Moment abholen und er wollte nicht zu spät sein. Er schlüpfte in seine Lieblingsjeans, die war einigermaßen ansehnlich.
Da klopfte es an der Tür und Stella kam herein. «Bist du bereit, Ben?»
Er hüpfte ihr entgegen, er war noch dabei, die Hose vollständig hochzuziehen.
Stella musste lachen. «Was machst du für einen Tanz?» Sie starrte auf seinen nackten Oberkörper, Ben war wirklich gut gebaut.
«Hast du noch nie einen halbnackten Mann gesehen?» Ben stemmte die angewinkelten Arme nach oben und ließ seine Oberarmmuskeln spielen.
«Du bist unmöglich, Ben. Zieh dich an, wir sind spät dran.»
Sie wählte ein T-Shirt aus seinem unordentlichen Stapel und zog es ihm über den Kopf. Als seine beiden Arme im Shirt steckten und er einen Moment wehrlos war, nutzte Stella die Gelegenheit und kitzelte ihn am Bauch. Ben krümmte sich und verlor fast das Gleichgewicht.
«Beeil dich jetzt!», schimpfte Stella und unterdrückte ein Lachen. Doch nun war Ben nicht mehr wehrlos. Er packte Stella kurzerhand und schleppte sie zu seinem Bett. Er ließ sie darauf fallen, um sie ebenfalls auszukitzeln. Sie kicherte und japste nach Luft. Als er endlich aufhörte, glich ihre Frisur einem Wischmop.
«Ben!», schrie sie und lachte, «hast du mir eine Haarbüste, bitte?»
Ben schaute hilflos umher, nein, er besaß, um ehrlich zu sein, keine Bürste. Stella musste ihre Haare mit den Fingern einigermaßen in Ordnung bringen.
Sie schüttelte den Kopf. «Kein Wunder ist dein Haar immer so wild. Ich werde dir morgen eine Haarbürste kaufen.»
Wieder schämte sich Ben, aber er war einfach ein Mann und hatte andere Prioritäten.
Nun mussten sie sich richtig beeilen. Als sie atemlos vor dem Kirchlein ankamen, hörten sie bereits Musik und Gesang aus dem Inneren.
«Die haben schon begonnen, komm, wir schleichen uns leise hinein und setzen uns in die letzte Reihe», flüsterte Stella, öffnete vorsichtig die Tür, packte Ben sanft am Arm und zog ihn hinein.
Ein plötzlicher kräftiger Windstoß schlug die Tür geräuschvoll hinter ihnen zu. Alle, wirklich alle, schauten nach hinten zu Ben und Stella. Sie hatten mit Singen aufgehört, die Band hatte aufgehört zu spielen und alle brachen in schallendes Gelächter aus. War das peinlich! Beide wären am liebsten im Erdboden versunken. Doch dann merkten sie, dass es ein herzliches neuseeländisches Lachen war.
Taonga stand auf, klatschte in die Hände und rief laut: «Welcome, Stella und Ben!»
Alle klatschten und johlten. Stella und Ben schauten sich einen Moment verdutzt an, um dann ebenfalls in erleichtertes Lachen auszubrechen.
Nun wurde der Gottesdienst mit eingängigem Worship fortgesetzt. Die meisten standen auf, einige bewegten sich im Takt, es wurde spontan gebetet und es gab laute Zwischenrufe wie «Halleluja» oder «Praise the Lord». Das war eine Stimmung in dieser kleinen schlichten
Kirche!
Ben kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Stella nahm seine Hand und streichelte sie. Er schaute sich unsicher um. Durfte sie das? Sie waren doch in einem Gottesdienst. Er war an eher steife und ernste Gottesdienste gewöhnt. Doch ihr Händchenhalten schien niemanden zu stören. Er rückte etwas näher zu ihr und drückte ihre Hand ganz fest.
Taonga begann zu predigen, es war eine einfache, gut verständliche Predigt. Er gebrauchte viele persönliche und praktische Beispiele, um die Geschichte vom verlorenen Sohn mit dem heutigen Leben in Verbindung zu bringen, ja, er brachte auch viel Humor ein. Immer wieder lachte die ganze Gemeinde über seine lustigen Sprüche.
Ben hatte noch nie eine derart lebendige Predigt gehört, aber er fragte sich, ob es passte, die Bibel zu zitieren und gleichzeitig die Leute mit Sprüchen zum Lachen zu bringen. Er hörte kritisch, aber gespannt zu.
«Hast du Probleme mit deinem Vater?»
Ben zuckte zusammen. Redete Taonga mit ihm?
«Gott ist ein liebender Vater! Er ist anders als dein menschlicher Vater, der fehlerhaft ist und dir seine Liebe nicht so gut zeigen kann. Gott wartet mit offenen Armen, bis du zu ihm zurückkehrst!»
Plötzlich kämpfte Ben mit den Tränen. Stella bemerkte es und strich ihm beruhigend über den Rücken. Doch einen Moment später stand Ben abrupt auf und stürzte zum Ausgang. Stella rannte ihm hinterher. Draußen lief Ben wie ein Gejagter zu seiner Cabin. Stella konnte ihm kaum folgen.
Als sie in sein Häuschen trat, lag er auf dem Bett. Sein ganzer Körper bebte. Sie setzte sich zu ihm und streichelte ihn eine ganze Weile einfach nur. Er schien sich etwas zu beruhigen, doch noch immer wurde sein Körper von Zeit zu Zeit von tiefen Schluchzern erschüttert.
«Oh Ben, es tut mir so leid!», flüsterte Stella verzweifelt und hörte nicht auf, ihn zu streicheln.
Irgendwann drehte sich Ben um. Stella sah sein tränennasses Gesicht und die vom Weinen geröteten Augen. Er verbarg sein Gesicht in den Händen. Er schämte sich.
«Weine nur, Ben.»
Er schüttelte den Kopf. Es war ihm peinlich, dass er vor ihr so einen Weinkrampf hatte. Was war bloß los mit ihm? Er war doch ein Mann und keine Memme! Er hatte schon als Kind nahe am Wasser gebaut und sein Vater hatte ihn immer für seine Art, schnell in Tränen auszubrechen, geschimpft.
«Auch Männer dürfen weinen, Ben, es ist okay.»
Ben vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Er konnte sich nicht beherrschen, wieder begann er zu weinen, heiße Tränen sickerten auf Stellas Kleid.
«Hat dich die Predigt so aufgewühlt?» Ben nickte.
«Ist es wegen deines Vaters?», fragte sie vorsichtig. Er schniefte und nickte.
«Möchtest du darüber sprechen, Ben?»
Ben schüttelte den Kopf. «Ich kann nicht.»
Stella zog sein Gesicht zu sich und küsste ihn. Sie schaute ihn traurig an. «Ist es so schlimm?»
Ben rappelte sich auf und schaute sie an. Sein Kinn zitterte, er riss sich zusammen, um nicht erneut zu weinen. «Jetzt nicht, Stella, ich kann einfach nicht, okay?»
Sie küsste ihn sanft aufs Kinn. «Es ist okay, Ben.» Sie streichelte ihn weiter und er wurde innerlich ganz still. «Aber du erzählst es mir ein anderes Mal?»
Ben nickte und sie wollte ihn nicht länger bedrängen.
«Kannst du mich jetzt allein lassen, Stella? Bitte versteh mich nicht falsch. Ich liebe dich. Aber ich brauche etwas Zeit für mich.»
Seine Frage machte sie sehr traurig. Sie wäre gern bei ihm geblieben und hätte ihn getröstet, aber sie musste seinen Wunsch akzeptieren. «Habe ich irgendetwas falsch gemacht?», fragte sie ängstlich.
«Nein, Stella, es hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Ich liebe dich!» Ben stand auf und ging zur Tür. Stella folgte ihm und verließ schweigend die Cabin.
Am Montag hielt Ben Stella auf Abstand. Er arbeitete von früh bis spät und ging nach dem gemeinsamen Essen im Haus der Familie Harris sofort in sein Häuschen. Er schaute Stella kaum an und suchte nie ihre Nähe, er ging ihr regelrecht aus dem Weg. Auch am Dienstag verhielt er sich so komisch.
Stella war todunglücklich. Was war mit ihm los? Hätte sie ihn bloß nicht zu diesem Gottesdienst überredet! Ob er Schluss machen würde mit ihr? Dieser Gedanke zerriss ihr fast das Herz. Am Abend weinte sie sich in den Schlaf.
Am Mittwoch hatte Julia genug. So konnte das nicht weitergehen. Sie redete mit Taonga, denn er war nicht nur ein guter Prediger, sondern verstand es auch, seelsorgerliche Gespräche zu führen.
«Taonga, bitte sprich mit Ben. Irgendetwas ist letzten Sonntag im Gottesdienst vorgefallen. Seit da benimmt er sich seltsam gegenüber Stella. Sie ist untröstlich.»
Taonga machte sich auf den Weg zu Bens Häuschen, nicht ohne vorher gebetet zu haben.
Er klopfte an die Tür. «Ben, ich bin es, Taonga, ich muss mit dir sprechen, kann ich reinkommen?»
Die Türe öffnete sich und Ben erschien im Türrahmen. Er sah nicht gut aus, so als hätte er viel geweint.
«Darf ich?» Taonga trat ins Zimmer und zeigte auf einen der zwei Stühle.
Ben nickte zaghaft.
«Komm, setz dich auch, Ben.»
Ben wirkte wie ein Häufchen Elend, als er dem großen, kräftig gebauten Maori gegenübersaß.
«Was ist mit dir los, Ben? Bitte sprich darüber. Wir alle merken, dass dich etwas sehr beschäftigt. Stella nimmt es am meisten mit. Sie denkt, dass du sie nicht mehr liebst!»
Ben zuckte zusammen. Es schmerzte ihn, dass Stella seinetwegen litt. «Das tut mir schrecklich leid, ich liebe Stella.» Ben vergrub sein Gesicht in den Händen. Es durfte nicht sein, dass er schon wieder zu heulen begann.
Taonga nahm ihn in seine Arme und drückte ihn an sich wie ein kleines Kind. «Du bist ein guter Junge, Ben. Wir sind so froh, dass du hier bist. Du bist einfach wunderbar. Klug und begabt. Ein guter Freund für Stella, einfühlsam, zärtlich, stark ... wir lieben dich alle ... Gott liebt dich, er liebt dich so sehr!»
Ben schluchzte laut. Taonga legte seine riesige Hand auf seinen Kopf und drückte ihn fest an seine Brust. So verharrten sie eine lange Weile.
«Du hast das Gefühl, dass dein Vater dich nicht liebt? Dass du nicht genügst, dass du alles falsch machst?»
Woher wusste Taonga das? Bens Vater war immer streng gewesen, er hatte seinen zwei Söhnen viel abverlangt und große Erwartungen an sie gestellt. Bildung war ihm extrem wichtig, er erwartete gute schulische Leistungen. Ben hatte diese Leistungen ohne große Anstrengungen erbracht. Anstatt stundenlang zu büffeln, hatte er sich lieber draußen herumgetrieben. Das war seinem Vater aber ein Dorn im Auge gewesen, seiner Meinung nach vergeudete Ben sein Potenzial.
Bens älterer Bruder, Simon, ordnete sich dem Vater unter und war sein ganzer Stolz. Doch Ben hatte immer alles anders gemacht. Sein Vater war der Meinung, Ben sei ein Rebell, der in seine Schranken gewiesen werden musste. Ben hatte krampfhaft versucht, seinen Vater von seinen ganz eigenen Fähigkeiten zu überzeugen, doch sein Vater hatte völlig andere Vorstellungen und hatte seinen Sohn immer zurückgewiesen.
«Das macht man nicht so» und «das machst du völlig falsch», waren Standardsätze, die Ben während seiner ganzen Kindheit zu hören bekommen hatte.
Der Vater hatte auch nicht gezögert, Schläge auszuteilen, wenn das seiner Meinung nach angebracht war, und das war bei Ben nicht selten vorgekommen. Seine Mutter hatte sich nie durchsetzen können. Sie war dem Vater hörig und konnte sich nicht für ihren Sohn einsetzen.
Die Familie ging praktisch jeden Sonntag zur Kirche. Dort gehörte der Vater zur Gruppe der Ältesten, der Gemeindeleitung. Doch in der Gemeinde verhielt sich sein Vater ganz anders als zu Hause.
Ben hatte immer mehr Probleme mit dem christlichen Glauben bekommen. Als ihn dann Naemi für seinen besten Freund verließ, war etwas in ihm zerbrochen. Er hatte eine große Wut auf Christen, auf den Glauben und auf Gott bekommen. Auf seinen Vater sowieso.
«Du bist hierher geflohen, nicht wahr? Nach Neuseeland, weil man von dort, wo du aufgewachsen bist, nicht weiter fliehen kann.» Taonga hatte eine tiefe, warme Stimme. Er klang überhaupt nicht vorwurfsvoll, sondern war voller Mitleid und Liebe.
Jetzt brach die ganze Not aus Ben heraus. Es war, als wäre ein Staudamm gebrochen. Er erzählte Taonga alles, was er so lange in seinem Herzen verborgen hatte. Einen Teil hatte er Stella schon anvertraut, aber jetzt kam alles ans Licht. Er erzählte Taonga, wie sehr er sich hatte überwinden müssen, um mit Stella zur Kirche zu gehen. Dass er sich gedacht hatte, er würde es ihr zuliebe einfach hinter sich bringen.
«Und dann habe ich vom Vater erzählt, der auf seinen Sohn gewartet und ihn mit offenen Armen empfangen hat.»
Ben nickte. «Mein Vater hat mich nie umarmt, gar nie. Nicht einmal, wenn ich weinte. Er sagte immer, ich solle keine Memme sein. Richtige Männer würden sich nicht umarmen.»
Taonga lachte herzhaft. «Ich umarme dich, mein lieber Ben, ich umarme dich im Namen Gottes, der dich so sehr liebt.» Taonga drückte Ben so fest, dass er fast keine Luft mehr bekam.
Sie redeten noch eine ganze Weile, und Ben wurde es leichter und leichter ums Herz. «Ich habe mich so sehr vor Stella geschämt, weil ich nach dem Gottesdienst wie ein kleines Kind geweint habe. Ich schämte mich, ihr wieder zu begegnen. Was sollte sie von mir halten? Ich bin ein Mann, und Männer heulen doch nicht. Wahrscheinlich will sie nichts mehr von mir wissen.»
Taonga lachte wieder laut. «Stella hat sich Hals über Kopf in dich verliebt, mein Junge. Du wirst sie jetzt sofort anrufen und sie hierher bestellen, damit ihr euch aussprechen könnt!»
Das klang nach einem Befehl, der keinen Aufschub duldete. Mit zitternden Händen griff Ben nach seinem Smartphone und tippte die Nummer.
«Stella?», seine Stimme war sehr leise. «Ich bin es, Ben. Stella, es tut mir so leid. Ich liebe dich. Kommst du zu mir? Dann können wir über alles sprechen.»
Kurze Zeit später riss Stella die Tür auf und warf sich dem verdatterten Ben an den Hals.
«Es tut mir so leid», stotterte er.
Stella küsste ihn stürmisch. Ben taumelte nach hinten und musste sich aufs Bett fallen lassen.
Stella landete neben ihm und lachte. Sie setzte sich auf und sagte glücklich: «Ich verzeihe dir, Ben. Ich liebe dich.»
Bevor er etwas entgegnen konnte, drückte sie ihm einen neuen Kuss auf die Lippen. Als Ben wieder Luft bekam, erzählte er Stella alles, was er auch Taonga anvertraut hatte. Stella hörte still zu, schaute Ben ermutigend an und strich ihm über den Rücken.
Taonga hatte die ganze Zeit schweigend zugehört. Nun stand er auf und klopfte Ben freundschaftlich auf den Rücken. Ben fühlte sich nach diesem Gespräch dermaßen erleichtert, dass er das Gefühl hatte, fliegen zu können.
Aber er wusste noch nicht, wann er es wagen wollte, ein nächstes Mal in den Gottesdienst zu gehen.