Читать книгу Es bleibt in der Nachbarschaft - Isabel Renner - Страница 10
Kapitel 5
ОглавлениеEin paar Tage später. So sehr Nadja und ich uns in der vergangenen Woche auch bemüht hatten, wir bekamen Viki nicht aufgemuntert. Sie war so am Boden zerstört gewesen, dass sie auch das Date mit Noel abgesagt hatte. Natürlich hatte sie von uns den Klassiker schlechthin zu hören bekommen, wie jetzt weißt du es und kannst nach vorne schauen. Aber Viki war damit nicht geholfen. Sie wollte lieber ihre Entscheidung in der Vergangenheit ändern.
Viki zog sich zurück. Schlimm daran war, dass sie mir die Schuld an ihrem Elend gab. Immerhin war ich es, die sie dazu gebracht hatte, zu ihren Gefühlen zu stehen, es offen zuzugeben, eine Entscheidung zu bereuen und fehlbar zu sein. Obendrein hatte ich sie überredet, einen Anruf zu tätigen, der einer Selbstverstümmelung glich.
Mein Argument, dass sie das aus freien Stücken getan hatte und es wichtig war, zählte nicht. Auch Nadja bekam eine Teilschuld, weil sie das Thema Liam überhaupt zur Sprache gebracht hatte. Außerdem war sie nicht als Stimme der Vernunft eingeschritten, um mich rechtmäßig zum Schweigen zu bringen. Nadjas Argument, dass sie auch der Meinung war, dass dieser Anruf eine gute Idee war, zählte ebenfalls nicht.
Ich vermisste es sehr, dass alles gut zwischen uns war.
Nun herrschte Funkstille, was mich bewegungsunfähig gemacht hätte, wäre Niklas nicht gewesen. Mein liebender Freund hatte zwar noch immer wenig Zeit, schickte mir aber fortwährend aufbauende Nachrichten und rief jeden Abend an, um sich von mir die Ohren vollheulen zu lassen. Er wurde nicht müde zu betonen, dass er meinen Schritt richtig fand, dass ich wunderbar sei und sich alles wieder einrenken würde.
Ich glaubte ihm. Darum war ich verhältnismäßig gut drauf, als ich mich an diesem Tag in der Mittagssonne dem Aufhängen der Wäsche widmete. Gerade als ich mich fragte, ob ein Trockner wohl mit dieser Hitze mithalten konnte, kam Joshua nach Hause.
Er stieg aus dem Auto und sah mich sofort. So zu tun, als hätten wir uns nicht bemerkt, funktionierte nicht mehr. Er blieb kurz zögerlich stehen, warf einen prüfenden Blick zum Haus seiner Tante und kam dann an den Zaun. „Hey. Wie geht es dir?“
Ich zupfte ein möglichst großes Kleidungsstück aus dem Wäschekorb und legte es mir kühlend über Nacken und Schultern, bevor ich zu ihm ging. „Sorry, es ist so warm“, erklärte ich. Er nickte. „Willst du auch eins? Das ist sehr erfrischend“, bot ich an, doch Joshua sah keinen Bedarf.
„Ich gehe gleich duschen, das wird erfrischend genug.“
„Stimmt.“ Das sich sofort anbahnende Bild von Joshua unter der Dusche schob ich weit von mir weg. Ganz weit, um es dann unter einem Stein zu zerquetschen, damit es ja nie wiederkam. „Wie läuft es in der Uni?“, fragte ich dann.
Joshua zuckte mit den Schultern. „Es läuft. Könnte besser sein, könnte schlechter sein.“
Ich musterte ihn. Er war ein so begeisterungsfähiger Mensch und liebte alles, was er tat. Bislang war das auch der Eindruck, den man bekam, wenn man ihn über sein Studium sprechen hörte. Wo war die Freude schöner Götterfunken? „Warum studierst du das auch noch gleich?“, platzte es aus mir heraus.
„Weil man gut verdienen kann“, lautete Joshuas nüchterne Antwort.
Irgendwo verständlich. „Aber ist das wirklich deins?“
Damit hatte ich ihm den Wind aus den Segeln genommen. Ich spürte, wie ein Teil von ihm wusste, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Der andere Teil jedoch wollte davon nichts hören. Seine Laune schwand. „Wer hat schon einen Beruf, in dem er aufgeht?“
Eine rhetorische Frage, ganz klar, dennoch hatte ich darauf eine Antwort: „Ich.“ Einen Augenblick ließ ich es wirken, bevor ich weitersprach. „Ich verdiene zwar nicht die Welt, aber es macht mir unheimlichen Spaß, Räume wohnlich und gemütlich zu machen.“
„Das kann man an deiner Wohnung sehen“, gab Joshua zu.
„Dieses Gefühl, diese Leidenschaft ist mir wichtiger als Geld.“
Er antwortete nicht, doch ich wusste, dass er das anders sah. Ich verzichtete für meinen Traumberuf auf Geld, er verzichtete für Geld auf seinen Traumberuf. Da waren wir unterschiedlich gestrickt. Um das entstehende Unbehagen aus dieser Erkenntnis etwas einzudämmen, wechselte er das Thema.
„Sorry, dass ich auf deine Nachricht nicht mehr geantwortet habe. Es war schon so spät, und ich musste noch so viel für die Uni tun. Und dann bin ich am Schreibtisch eingeschlafen.“ Etwas zerknirscht sah er mich an.
Da war dieser Moment. Der Moment, wenn er sich eingestand, nicht der geilste Hengst zu sein. Der Moment, wenn seine Fassade bröckelte, wenn er seine Menschlichkeit zeigte, wenn man sah, wie er wirklich war. Genau dann zog er mich in seinen Bann. Und das Bild von ihm ohne diese Fassade war noch aufregender und anziehender als das innere Bild von ihm ohne Kleidung.
„Schon okay.“ Ich winkte ab.
„Wie geht es dir denn jetzt?“
So einfach die Frage war, so komplex wäre die Antwort, wenn ich ihm alles erzählen würde. „Es geht. Ist schon wieder besser“, fasste ich knapp zusammen. Mehr sagte ich nicht. Es gelang mir auch nicht, denn obwohl sich ein Zaun zwischen uns befand, war mein Körper ganz mit der Wahrnehmung seiner Anwesenheit beschäftigt. Ich nahm das Kleidungsstück aus meinem Nacken.
Joshuas Stimme wurde sanft. „Was war denn?“
„Ach, nichts, es war nur … es … ähm …“, druckste ich. Als ich um Worte rang, umspielte ein winziges Lächeln seinen Mund. Die Zeit verstrich gemächlich, während wir uns ansahen. Mir wurde flau im Magen, und ich spürte, wie sich ein leichtes Zittern anbahnte.
„Ich habe mich mit meinen beiden besten Freundinnen verkracht, und da dachte ich … ich hätte … ich bräuchte …“ Irgendwie hatte es in meinem Kopf besser geklungen.
„Mit deinen Freundinnen?“, hakte Joshua nach. Ich nickte. „Ach so.“ Ein merkwürdiger Unterton schwang bei dieser Aussage mit. Dann holte er sein Handy raus und tippte darauf herum.
Gerade als ich ihn fragen wollte, was los war, hörte ich quietschende Reifen, gefolgt von panischem Türknallen von Auto und Haus. Das kam von Robins Haus.
Ich runzelte die Stirn. „Da stimmt was nicht“, murmelte ich und ging direkt zu Robins Zaunseite. Es gab zwischen unseren Gärten keine Pforte, weil Frau Ebert, meine Vermieterin, wenig begeistert von diesem Vorschlag gewesen war. Um dennoch keine Weltwanderung unternehmen zu müssen, wenn wir uns besuchen wollten, hatten Robin und ich etwas improvisiert.
Ich rüttelte an den heimlich gelockerten Zaunlatten und hatte sie im Nu so weit, dass ich zwischendurch schlüpfen konnte. Auf der anderen Zaunseite drehte ich mich zu Joshua um. „Kommst du mit?“
Er friemelte an seinen Ohrstöpseln herum und antwortete, ohne mich anzusehen: „Nee, lass mal.“
Ein Scheppern aus Robins Haus verhinderte, dass ich darauf etwas erwidern konnte. Ich rannte zu Robins Terrassentür und trommelte wild dagegen. „Robin, ich bin es, Miriam! Ist alles okay bei dir?“
Nur Sekunden später öffnete er, abgehetzt und planlos. „Eva hat Wehen bekommen und ist von der Arbeit direkt ins Krankenhaus“, schoss er los. „Sie hat mich gerade angerufen. Sie wollte nur ein paar Sachen erledigen, obwohl sie längst im Mutterschutz ist. Das war wohl zu viel. Jetzt habe ich vergessen, wie der Abstand zwischen den Wehen ist, aber recht kurz, glaube ich. Dabei sagt man doch, wenn die Wehen beim ersten Kind einsetzen, kann man noch quer durch Deutschland fahren, bis das Baby kommt. Zumindest haben sie das beim Geburtsvorbereitungskurs erzählt. Eva ist außerdem zu früh dran, eigentlich hätte sie noch drei Wochen Zeit bis zur Niederkunft. Oder vier. Warte mal, welche Woche ist sie? Fünfunddreißig plus? Oder war es sechsunddreißig plus? Also siebenunddreißig? Ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall ist es kein Problem für das Baby, nur unerwartet für uns. Und jetzt muss ich ihr die Tasche bringen, die sie schon gepackt hatte mit den ganzen Sachen fürs Wochenbett und fürs Stillen und was sie in den ersten Tagen so braucht. Aber ich kann diese Tasche nirgends finden!“
Stille. Es war faszinierend, dass Robin selbst in einer Situation, in der jede Minute zählte, zu seinen typischen Ausschweifungen neigte. „Na dann los, suchen wir sie!“, rief ich und rannte an ihm vorbei nach oben ins Schlafzimmer.
Okay, ganz ruhig, Miri. Frauenlogik. Eva war eine gut strukturierte Frau. Wenn ich sie wäre, wo würde ich die Kliniktasche hinstellen? Robin tauchte hinter mir auf. „Ich schaue im Schrank, du unterm Bett“, dirigierte ich.
„Hab ich schon!“, rief Robin verzweifelt. „Ich habe das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Ich fasse es nicht, dass ich zur Geburt meines eigenen Sohnes zu spät-“, wimmerte er.
„Das wirst du nicht!“, fuhr ich dazwischen. Er war gerade ein Wrack, verständlich, aber jetzt musste er konzentriert bleiben. „Schau einfach noch mal nach!“
Wir durchsuchten alle Schränke in allen Räumen. Es konnte nicht wahr sein, dass wir diese Tasche nicht fanden. Außer Atem und ohne weitere Ideen standen wir schließlich im Wohnzimmer. Ich sah zu Robin, dessen Unterlippe bereits bebte. Tränen hatten sich in seinen Augen gesammelt. Robins Augen waren hellblau, kein so kräftiges Blau wie bei Viki. Seine Farbe war viel dezenter. Insgesamt war Robin in seiner ganzen Erscheinung sehr dezent: Helle Haut, helle Haare, helle Augen und stets in hellen Klamotten gekleidet. Das Einzige, was nun überhaupt nicht in dieses Schema passte, war seine Brille, die einen kräftigen schwarzen Rahmen hatte. Diese Brille fiel so sehr auf, dass Robin dahinter beinahe verschwand.
„Fahr.“ Behutsam legte ich ihm eine Hand auf die Schulter. „Fahr zu ihr. Du musst jetzt bei ihr sein. Ich werde weitersuchen und euch die Tasche bringen.“ Bevor Robin etwas sagen konnte, schob ich ihn raus. „Bist du in der Lage zu fahren, oder soll ich dich fahren?“
„Nein, geht schon. Ich kann fahren“, erklärte Robin und fingerte mit zittrigen Händen seine Autoschlüssel aus der Hosentasche.
„Okay, ich habe genug gesehen. Du fährst nicht. Ähm … warte hier.“ Damit sprintete ich hinters Haus und scannte die Gärten ab. Ich hatte Glück. „Joshua, komm, wir brauchen deine Hilfe!“, brüllte ich rüber und machte direkt kehrt.
Robin war mittlerweile kreidebleich.
„Komm.“ Ich führte ihn zu seinem Auto. In diesem Moment kam Joshua den Buchenweg entlanggerannt. Himmel noch eins, war der gut in Form, wenn er außen rumgelaufen und so schnell hier war.
„Was ist?“ Er rang nicht einmal nach Atem, als sei er gerade lässig her geschlappt.
„Du musst Robin ins Krankenhaus fahren. Eva liegt in den Wehen, und er ist fahruntauglich.“ Ich deutete auf das verstörte Etwas alias Robin neben mir. Notsituationen ohne seine Eva zu händeln war nicht gerade seine Stärke. „Ich suche noch die Kliniktasche, komme dann nach und nehme dich wieder mit zurück.“
„Wie kommst du darauf, dass ich jetzt Zeit dafür habe? Ich muss zur Uni“, ätzte Joshua. Unglaublich. Entschlossen nahm ich Robin die Autoschlüssel ab, marschierte zu Joshua und drückte sie ihm in die Hand. „Tu es einfach.“ Er warf mir einen feindseligen Blick zu, gab dann aber nach und setzte sich in Robins Auto.
Ich schob Robin Richtung Beifahrertür, als der sich plötzlich wieder umdrehte und mich in den Arm nahm. „Danke, Miriam, danke.“
Etwas unsicher streichelte ich ihm über den Rücken. Eigentlich hatte ich nichts gemacht. „Ist schon okay.“ Dann schob ich ihn ins Auto. „Und jetzt geh Papa werden.“
Kaum vom Hof, rief ich Eva an – keine Ahnung, warum ich nicht schon eher auf die Idee gekommen war. Sie ging nicht ran. Vermutlich war sie in einer Untersuchung oder hatte gerade zu sehr mit den Wehen zu kämpfen. Ich hoffte, dass Robin es noch rechtzeitig schaffen würde. Wie ich ihn kannte, würde er es sich nie verzeihen, wenn er die Geburt seines Sohnes nicht miterleben könnte.
Resigniert ging ich zurück ins Haus. Diese Tasche musste doch irgendwo zu finden sein. Doch auch der zweite Suchdurchlauf brachte keinen Erfolg. Schließlich kramte ich eine alte Sporttasche aus dem Kleiderschrank und stopfte all das rein, von dem ich glaubte, dass Eva es brauchen könnte, dann machte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus.
Bereits auf dem Parkplatz rief ich Robin an, der versprach, sofort nach draußen zu kommen, um die wichtige Fracht abzuholen. Schnell entdeckte ich einen etwas genervt dreinschauenden Joshua, der wie ein junger Gott mit Sonnenbrille und Stöpsel in den Ohren an Robins Familienkutsche lehnte, was schon beinahe widersprüchlich wirkte. Der Parkplatz neben ihm war glücklicherweise frei.
„Können wir jetzt gehen?“, war Joshuas erste Reaktion, nachdem ich ausgestiegen war.
Statt zu antworten, öffnete ich den Kofferraum. „Kliniktasche?“, fragte ich nur und hievte die Tasche aus meinem Auto. Dann stellte ich mich neben Joshua an den Van, der nun spürbar widerwillig die Ohrstöpsel rausnahm. „Steht dir, so ein Minivan“, witzelte ich, um die Stimmung zu lockern. Ja, ich hatte ihn angeranzt. Deswegen konnte er aber jetzt nicht mehr verärgert sein, oder? „Schon Kinder in Planung?“ Joshua reagierte nicht. „Ach, komm schon.“ Ich stupste ihn in die Seite. „Lach doch mal.“
Das war ihm zu viel. „Wie denn? Wegen diesem Krempel habe ich meine Vorlesung verpasst.“ Er schüttelte den Kopf.
„Dieser Krempel nennt sich Menschen helfen.“
Joshua verschränkte die Arme vor der Brust. „Dein Lieblingsnachbar kommt“, murmelte er. Ich sah auf und erblickte Robin, der auf uns zuwetzte.
„Wie geht es Eva?“, rief ich ihm entgegen.
„Gut so weit“, erklärte Robin außer Atem, als er bei uns angekommen war. „Sie liegt in den Wehen, die kommen regelmäßig alle sieben bis acht Minuten. Schleimpfropf ist bereits abgegangen, Muttermund aber noch nicht weit geöffnet. Ein bis zwei Zentimeter oder so. Wir warten jetzt auf den Blasensprung, aber es wird alles wunderbar werden. Die Hebamme hat mir angeboten, später mal nach dem Kopf des Babys zu fühlen, solange der Kleine noch in seiner Behausung ist. Das wird mit Sicherheit ein unglaubliches Erlebnis. Ich bin schon so aufgeregt.“ Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Joshua leidend das Gesicht verzog, ließ mir aber nichts anmerken.
„Das glaube ich dir.“ Damit überreichte ich ihm die improvisierte Kliniktasche.
„Ach, wunderbar, Miriam, ganz toll. Vielen Dank, liebe Nachbarin. Aber eigentlich wäre das nicht nötig gewesen. Ich hatte vergessen, dass die Kliniktasche die ganze Zeit im Auto war. Eva hat es mir überlassen, sie irgendwo hinzustellen, und ich hatte mir überlegt, dass das Auto der beste Platz wäre, falls ich zu kopflos bin, wenn es losgeht …“
Ungläubig beobachteten Joshua und ich, wie Robin den Kofferraum öffnete und einen kleinen lila Koffer rausholte. „Danke noch mal, ihr zwei. Ihr wart wirklich spitzenmäßig. Ich schulde euch was. Erinnert mich daran, wenn wir alle in ein paar Tagen wieder zu Hause sind. Zu dritt.“ Er strahlte mit der Sonne um die Wette.
„Nicht der Rede wert“, entgegnete ich bescheiden.
Robin nahm mich noch mal in den Arm, winkte Joshua, dann war er wieder verschwunden.
Ich wandte mich Joshua zu. „Komm, ich bring dich nach Hause.“
Einen unangenehm langen Teil der Fahrt verbrachten wir schweigend, bis ich es nicht mehr aushielt. „Robinist übrigens mein Lieblingsnachbar.“
Joshuas Miene blieb undurchschaubar. „Naja, wenn du dir zwanzig Minuten lang hättest anhören müssen, wie toll du bist, würdest du auch davon ausgehen“, brummte er.
„Robin findet dich toll?“, fragte ich begeistert.
„Nein, dich.“
„Joshua, ich habe einem Freund in Not geholfen. Ich hätte ihm genauso geholfen, wenn wir nicht befreundet wären. Und er ist manchmal etwas überschwänglich in seiner Dankbarkeit. So ist er eben. Sei deswegen nicht angepiekt, okay?“
„Bin ich nicht. Es nervt, dass ich meine Vorlesung verpasst habe und nicht einmal gefragt wurde. Die war wichtig.“
„Das kann ich verstehen. Tut mir leid.“ Ich warf einen flüchtigen Blick in sein versteinertes Gesicht. „Was hältst du davon, wenn ich dich als Dankeschön zu einem Eis einlade?“
„Nein, danke.“
„Ach stimmt, das mit dem Zucker. Sorry, das hatte ich schon wieder vergessen.“ Ärgerlich schlug ich mir vor die Stirn. „Kaffee?“, schlug ich alternativ vor und merkte im selben Augenblick, wie dämlich das klang angesichts der Tatsache, dass die Außentemperatur nur unwesentlich unter der Temperatur von trinkbarem Kaffee lag. „Ich meine, Eiskaffee? Ach nee, das ist wieder mit Eis.“
Ein kleines Lachen durchbrach den eingemeißelten bösen Ausdruck in Joshuas Gesicht. Das war schon mal ein Teilerfolg.
„Oder wir gehen in den Park? Die Vorlesung ist vorbei, dann hast du ja jetzt etwas Zeit.“
„Aber ich habe danach noch eine Vorlesung.“
„Der Tag ist gelaufen, Josh. Sieh es ein.“ Wieder entdeckte ich ein Schmunzeln in seinem Gesicht und spürte gleichzeitig, wie sehr es mich beflügelte, wenn mir das gelang. „Eine Runde Tretboot. Dann kannst du dir das Trainieren heute auch gleich sparen.“
Endlich sah er mich an. „Du hast keine Ahnung, was und wie ich trainiere, oder?“
„Keinen Schimmer. Also, was sagst du?“
Für einen Moment sagte er nichts, während ich mir schon beseelt ausmalte, wie wir lachend in so einem Tretbootteil durch die Gegend schipperten, uns gegenseitig mit Wasser bespritzten und …
„Ich halte das für keine gute Idee“, unterbrach er meine Gedanken. „Und ich möchte nachher noch zur Vorlesung.“
So viel zu meinen Tagträumereien. „Okay. Aber was ist denn plötzlich mit dir los? In einem Moment bist du so, im anderen so. Ich verstehe dich nicht.“
Unmerklich schüttelte er den Kopf. „Lass es einfach“, kam es matt von ihm.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Was war das bitte für eine Antwort? Und was war das überhaupt für eine Art, mit jemandem umzugehen? War er wirklich nur wegen der verpassten Vorlesung sauer oder hatte es doch noch etwas mit Niklas zu tun? Warum sagte er nicht einfach, was los war?
Ich schmollte. Joshua schwieg. So fuhren wir schmollend und schweigend nach Hause.
Bevor er sich jedoch fluchtartig aus dem Staub machen konnte – und die Schnelligkeit seines Ausstiegs verriet, dass er genau das vorhatte – fiel mir noch etwas ein.
„Moment.“ Joshua ließ kurz die Schultern sinken, und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, er stieß einen unausgesprochenen Fluch aus. Ich versuchte, mir nicht viel aus seiner offenkundigen Abwehrhaltung zu machen.
„Es ist für mich viel einfacher, dich zu verstehen, wenn ich weiß, was los ist.“ Ich wartete kurz, aber Joshua reagierte nicht. Seine Sonnenbrille spiegelte mein Gesicht und machte es mir unmöglich zu erkennen, was sich gerade in ihm abspielte. „Mal abgesehen davon, dass ich dich heute um deine Vorlesung gebracht habe. Habe ich etwas falsch gemacht?“ Den Blick abgewandt schüttelte er kaum erkennbar mit dem Kopf. „Auf jeden Fall kannst du mit einer super Geschichte aufwarten. Eine dramatische Rettungsaktion für eine Frau in den Wehen.“
Ihm entfuhr ein Schmunzeln, gegen das er sofort ankämpfte. „So war das nicht.“
„Das wissen die doch nicht“, erklärte ich lässig. „Füg noch eine Polizeisirene oder eine Verfolgungsjagd ein, und du bist der Held des Jahrgangs.“ Ich grinste.
Wieder schüttelte er den Kopf, dann nahm er seine Sonnenbrille ab und schenkte mir einen warmen Blick, den mein Körper mit einem Anstieg der Herzfrequenz quittierte.
„Was ist los?“, hauchte ich. „Bitte sag’s mir.“
Joshua öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, schüttelte den Kopf. Dann bedachte er mich wieder mit diesem zärtlichen Blick, in den ich eintauchen konnte. Die Welt blieb stehen.
„JOSHUAAA!“, polterte es in genau dem Moment und ließ mich zusammenfahren. Auch Joshua stellte erschrocken mit einem Schritt normalen Abstand zwischen uns her, der irgendwie geschrumpft war.
Nebenan stand seine Tante, ihre Brille auf dem Kopf, und wedelte mit einer Heckenschere herum. Das hatte beinahe etwas von einem Ausschnitt aus einem Schocker-Splatter-Film. „Wo warst du denn? Du wolltest mir doch bei der Gartenarbeit helfen?“
„Nach der Uni, habe ich gesagt“, rief er zurück, während sich seine ganze Körperhaltung veränderte. Dann wandte er sich wieder an mich. „Heute ist einfach kein guter Tag, okay?“ Damit war er verschwunden. Ich glaubte ihm kein Wort. Etwas lag ihm auf der Seele. Oder hatte es mit seiner Ex-Freundin zu tun?
„Einen schönen guten Mittag, Kindchen“, vernahm ich die raue Stimme von Herrn Kieslmeyer, bevor ich die Chance hatte, in einen Zustand des Unverständnisses zu verfallen.
Lächelnd ging ich zu dem netten Herrn in Hell- und Dunkelbeige. „Hallo, Herr Kieslmeyer. Bei der Wärme draußen?“
„Ja, naja, ich wollte nur die Zeitung reinholen, damit ich gleich etwas zum Lesen habe.“ Er hüstelte kurz. „Wie war dein Tag bislang?“
Recht motivationslos erzählte ich ihm von dem Erlebnis mit Robin. Dennoch hörte er interessiert zu. Als ich geendet hatte, grinste er tief in seine Wangen hinein. „Und wann wirst du mir erzählen, was mit dem Jungen von nebenan war?“
Nachtigall, ik hör dir trapsen. Da war es mal wieder. Für Herrn Kieslmeyer war ich durchschaubar wie Frischhaltefolie und vermutlich genauso formbar. Da ich nicht wusste, was ich ihm sagen sollte, blieb ich schweigsam.
„Das sah gerade recht vertraut zwischen euch beiden aus. Sigrid hätte beinahe einen Schlag bekommen.“
„War es aber nicht. Niemand braucht einen Schlag zu bekommen“, murrte ich. Herr Kieslmeyer zog die Augenbrauen bis unter seinen Strohhut. „Das war nur … keine Ahnung, was das war. Keine Ahnung, was überhaupt irgendwas ist.“
Das Grinsen meines kauzigen Nachbars blieb in seinem Gesicht. „Verstehe.“