Читать книгу Es bleibt in der Nachbarschaft - Isabel Renner - Страница 8

Kapitel 3

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„Der steht auf dich“, erklärte Viki ein paar Tage später, als ich ihr auf der Fahrt zu Nadja in Kürze von Joshuas Verhalten erzählte. „Ich habe es dir von Anfang an gesagt, als er dich angesehen hat wie Schokoladeneis, und heute sage ich es dir wieder: Der steht auf dich.“

„Er mag kein Schokoladeneis“, gab ich trocken zurück.

„Dann eben ein Proteinshake. Ist doch egal. Du weißt, was ich meine.“

„Hm“, machte ich und brachte meinen Wagen vor einer roten Ampel zum Stehen.

Viki tippte sich überlegend mit ihren frisch manikürten Fingernägeln auf die akkurat geschminkten Lippen. „Viel wichtiger ist die Frage, warum er jetzt damit anfängt, so offensichtlich zu flirten. Heimlich habt ihr ja schon immer geflirtet …“

„Das stimmt nicht!“, protestierte ich.

„Ach nein?“ Viki schob ihre übergroße Sonnenbrille in ihre blonde Mähne und sah mich mit ihren stahlblauen Augen prüfend an. „Die ständigen Blicke? Das vage Lächeln, wenn ihr dachtet, dass es keiner sieht? Das Anschmachten? Klingelt es da bei dir?“

„Das kam hauptsächlich von ihm!“ Wobei ich noch nie verstanden hatte, warum er mich ansah, wenn Viki neben mir stand, die eindeutig zu den schönsten Menschen zählte, die ich je gesehen hatte. Ich hingegen war solider Durchschnitt.

Viki lachte glockenhell auf. „Als wenn du sie nicht genossen hättest, seine Blicke. Als wenn du ihn nicht angeschmachtet hättest.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Habe ich nicht. Ich weiß, was sich gehört.“

„Süße, jetzt mach dir nicht ins Hemd. Nadja ist nicht hier.“ Spitzbübisch sah sie mich an. „Gib’s zu. Du hast es genossen – und du hast es auch ein bisschen erwidert.“

Die rote Ampel fixierend schwieg ich geflissentlich. „Vielleicht“, murrte ich schließlich.

„Du untertreibst maßlos, meine Teure, aber gut. Lassen wir es mal so stehen. Ich habe nie verstanden, was du an diesem Knilch findest, aber irgendwas muss er ja haben. Du bist immerhin nicht die Einzige, die auf ihn steht.“

„Wenn man den Gerüchten glauben darf, ist er wieder Single.“ Bei diesen Worten mied ich bewusst Vikis Blick, denn mit Sicherheit war darin ein ganzes Silvesterfeuerwerk zu sehen.

„Sagt wer?“

„Herr Kieslmeyer.“

„Dann ist es kein Gerücht, sondern Fakt.“ Sie hielt kurz inne, und ich konnte förmlich spüren, was für Gedanken ihren Kopf fluteten. „Es ist trotzdem nicht einfach. Er ist so jung, und du bist so alt …“

„He!“ Ich knuffte sie in die Seite. „Pass auf, was du sagst, du bist immerhin fast ein Jahr älter als ich.“ Wir lachten beide.

TUUUT!, machte es hinter uns, und ein flüchtiger Blick auf die Ampel verriet, dass wir gerade zu einer Verkehrsbehinderung geworden waren.

„Außerdem steht er unter der Fuchtel seiner Tante, die dich nicht leiden kann …“, überlegte Viki weiter, während es hinter mir weiterhupte, dieses Mal in unterschiedlichen Oktaven. Langsam fuhr ich an.

„Ich würde nicht sagen, dass sie mich nicht leiden kann. Sie kann es nur nicht leiden, wenn ich mit ihrem Neffen spreche. Oder ihn ansehe. Oder mich in seiner Nähe befinde.“ Ich brach ab und seufzte. „Aber das sind nicht die einzigen Gründe …“

Viki beugte sich etwas zu mir. „Das ist perfekt und erklärt auch alles. Bestimmt steht er auf starke Frauen und will dir jetzt zeigen, dass er bereit ist, erobert zu werden. Verstehst du, so eine Rapunzel-Nummer. Er ist Rapunzel, eingesperrt von seiner Tante in einem Turm ohne Ein- oder Ausgang und braucht die Heldin, die ihn befreit“, erklärte sie theatralisch gestikulierend, was mich wieder zum Lachen brachte.

„Willst du damit sagen, dass ich meine Haare auf ihn schmeißen soll?“

Viki rollte mit den Augen. „Nein, er ist doch Rapunzel. Lass es einfach drauf ankommen. Geh auf ihn zu. Schau, was sich hinter seiner obercoolen, angeberischen Fassade verbirgt.“

Das gefiel mir schon besser, wenngleich ich nicht der Typ war, der loszog und sich einen Mann krallte. „Viki, ganz ehrlich, warum rätst du mir dazu? Willst du sehen, wie ich untergehe?“ Ich wusste natürlich, dass das nicht der Grund war. Wir waren seit dem Kindergarten die besten Freundinnen, aber manchmal war Viki etwas zu skandalliebend, zumindest wenn es nicht um ihr eigenes Leben ging.

An der nächsten roten Ampel drehte sie sich zu mir und sah mich liebevoll an. „Warum besprechen wir Joshua jetzt und hier? Warum nicht in zehn Minuten, wenn wir bei Nadja sind?“ Sie ließ mir keine Zeit zum Antworten. „Genau. Weil du nicht hören willst, was sie zu dem Thema zu sagen hat. Du willst hören, was ich dazu meine. Und ich meine, dass da was zwischen euch ist, dem dringend auf den Grund gegangen werden sollte. Und zwar so richtig tief. Trotz allem!“ Sie zwinkerte mir frech zu.

Und obwohl ich wusste, was sie mit ‚trotz allem‘ meinte, bauten sich sofort entsprechende Bilder vor meinem geistigen Auge auf. „Sag doch so was jetzt nicht!“, rief ich und schlug mir die Hände vor mein glühendes Gesicht. Und so schnell war ich wieder ein Teenager.

Viki lachte. „Ist doch so! Ich sage nicht, dass du etwas mit ihm anfangen sollst, nur, dass es nicht schadet, wenn du es mal drauf ankommen lässt. Dann wirst du sehen, was du willst.“

Ich nickte.

„Außerdem würde mich interessieren, ob der kleine Prahler auch was im Bett taugt. Meiner Erfahrung nach steckt hinter so einer großen Klappe nicht viel. Und wenn du das erst einmal weißt, ist der Reiz sowieso weg. Glaub mir.“

Vielleicht war da etwas dran. Wieder begann es hinter mir zu hupen. Mit einer merkwürdigen Mischung aus Entschlossenheit und Unbehagen entschuldigte ich mich bei dem Autofahrer hinter uns und setzte unseren Weg fort.

Etwa zwei Wochen später genoss ich meinen beginnenden Sommerurlaub, indem ich in ein Buch vertieft in meinem Vorgarten saß, als Joshua nach Hause kam. Seine Laune war miserabel. Er knallte sämtliche Türen, die sich in seinem Weg befanden, warf seinen Rucksack durch die Gegend und verschwand laut fluchend im Haus. Nach etwa einer Viertelstunde kam er wieder nach draußen und stellte sich regungslos in die Sonne.

„Na, jetzt besser?“, fragte ich ihn, ohne darüber nachzudenken.

Überrascht sah Joshua mich an. „Sitzt du schon die ganze Zeit da?“

Ich nickte, lächelte ihn an und schlug mein Buch zu.

„Oh“, entgegnete er nur und kam zu mir an den Zaun. „Arbeit verhauen“, erklärte er knapp und stützte die Unterarme auf den Latten ab.

Automatisch stand ich auf und ging zu ihm. „Bist du dir sicher, dass du sie verhauen hast? Meistens ist das Gefühl schlechter als das Ergebnis.“

Joshua nickte. „Ja, wenn man leere Seiten abgibt, kann man sich da schon ziemlich sicher sein.“

„Oh. Das tut mir leid für dich. Willst du darüber reden?“, schlug ich in Ermangelung besserer Ideen vor.

„Nicht wirklich.“ Wir schwiegen. „Aber danke.“ Die Sanftheit, die daraufhin in seinem Blick erschien, ließ mein Herz erneut dezent aus dem Takt geraten.

Warum fühlte ich mich derart zu Joshua hingezogen? Seine unmittelbare Nähe machte es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Hatte das die ganze Zeit in mir geschlummert? Vielleicht steht er auf starke Frauen und möchte erobert werden, hörte ich Vikis Stimme in meinem Kopf. „Wenn du möchtest, kannst du rüberkommen. Wir könnten einen Eistee trinken oder so. Vielleicht bringt dich das auf andere Gedanken?“, hörte ich mich fragen.

Schweigend sah er mich an. Genau konnte ich nicht deuten, was in ihm vorging. „Bist du dir sicher, dass das in Ordnung ist?“

„Natürlich, warum sollte es das nicht sein?“ Ich verstand seine Unsicherheit nicht – oder wollte sie nicht verstehen.

Joshua fuhr sich durch sein dunkles Haar. „Wirklich?“, erkundigte er sich noch einmal.

Ich runzelte die Stirn. „Ja, wirklich. Wenn du nicht anderweitig eingespannt bist oder deiner Tante helfen musst …“ Kaum ausgesprochen, presste ich die Lippen zusammen. Es sollte salopp klingen, hörte sich aber vermutlich eher bissig an. Außerdem war es vollkommen ungeschickt, das Thema ausgerechnet jetzt auf seine Tante zu lenken.

Doch zu meiner Erleichterung lachte Joshua. „Ja, ich weiß. Sie kann manchmal schwierig sein. Aber hey, ich sage nichts und halte die paar Semester mit ihr aus, das ist am einfachsten. Und sie kommt erst heute Abend wieder, also da habe ich den Rücken frei.“ Er zwinkerte und kam etwas näher. Unweigerlich umhüllte mich sein besonderer Duft. Mein Herz und meine Atmung beschleunigten sich. „Es klingt so, als gebe es bei dir etwas, worüber du reden möchtest.“

Da war er wieder, dieser intensiv durchdringende Blick, der mich noch um den Verstand brachte, wenn er nicht damit aufhörte. Unauffällig krallte ich meine Finger ineinander. „Ja“, quäkte ich und räusperte mich schnell. „Ich meine, ja, schon.“

Oh Gott, ich wusste nicht, wie lange ich diesem Blick noch standhalten konnte.

„Okay, ich muss jetzt noch was für die Uni tun. Wie wäre es anschließend?“, fragte er.

Ich brachte keinen Ton mehr heraus und nickte einfach, vertieft in seine graugrünen Augen.

Er nickte auch. „Bis nachher.“

Keine zwei Stunden später saßen wir mit einem Glas Wasser auf meiner Terrasse. Seit dem Gespräch am Gartenzaun war ich so nervös, dass ich zweimal hatte duschen müssen, und auch jetzt fühlte ich mich wieder schweißdurchtränkt. Ich wusste nicht, wo ich meine Arme und Hände lassen sollte, ohne dass es beabsichtigt wirkte, und fühlte mich insgesamt in meinem Körper verloren.

Joshua hingegen schien tiefenentspannt. Gut gelaunt plauderte er über seinen Sport, seine Religion (Ernährung) und die kleinen und großen Wehwehchen seines Autos, während in meinem Kopf so viel Betrieb herrschte, dass ich Mühe hatte, ihm überhaupt zu folgen.

Danach erzählte er von seinem Studium und seinen Karriereplänen. Er hatte nämlich noch Großes vor. Er sprach von Auslandssemestern, davon, die Welt zu sehen und in verschiedene Betriebe hineinzuschnuppern. Seine Augen strahlten, während er davon sprach, viel mehr als bei den vorherigen Themen. So interessant und aufregend es auch klang, wie er sich die nächsten zehn Jahre ausmalte, waren sie vor allem eines: das ziemliche Gegenteil meiner nahen Zukunftspläne. Automatisch wurde ich schweigsamer.

Wenn der Zweck dieses Treffens sein sollte, herauszufinden, was da zwischen uns war, war es bislang etwa so aufschlussreich wie ein Stepptanz auf einer Scheibe Käse. Ich wusste noch immer kein bisschen mehr. Nichts schien einen Sinn zu ergeben.

Was wollte ich von diesem Mann, und was wollte er von mir? Warum saßen wir an diesem Tisch und unterhielten uns? Nach meinem Empfinden waren wir weit davon entfernt, Freunde zu sein, denn wir hatten nichts gemeinsam. Aber wären wir einfach nur Nachbarn, würde Joshua nicht hier sein. Am wahrscheinlichsten war also, dass dieses Gespräch als Deckmantel für etwas diente, das unter der Oberfläche verborgen lag. Aber wer fühlte es, und wie stark war es?

„Tut mir leid“, beendete Joshua abrupt meine Gedanken. Verwundert sah ich auf und bemerkte eine leichte Besorgnis in seinem Gesichtsausdruck. „Ich langweile dich, oder?“

Für einen Augenblick war ich so perplex, dass ich nur mit den Augen klimpern konnte. „Ähm, wie … wie kommst du darauf?“

Joshua drehte sein Wasserglas auf der Stelle. „Weil nur ich rede.“ Er mied meinen Blick. „Ich weiß eben nicht, was ich erzählen soll.“ Fasziniert beobachtete ich den Mann mir gegenüber, den ich zum ersten Mal verlegen erlebte. Da er sonst vor Selbstbewusstsein strotzte, machte ihn diese Unsicherheit gerade anbetungswürdig. „Was interessiert dich denn so?“

„Ist schon gut, ich höre dir gerne zu.“

Seine Lippen formten ein zaghaftes Lächeln. „Ich würde aber auch gerne etwas über dich erfahren.“ Diese Worte waren ausreichend, eine Ladung Schmetterlinge durch meinen Bauch flattern zu lassen.

Innerlich atmete ich einmal tief durch und erzählte ihm dann ein wenig über meinen Werdegang und meine Arbeit als Raumausstatterin. Es war beinahe verunsichernd, wie gebannt Joshua mir zuzuhören schien. Als würde ich ein äußerst spannendes Seminar abhalten. Ob sich in seinem Kopf dasselbe Kino abspielte wie bei mir?

Natürlich stellte er mir Fragen zu meinen Plänen für die Zukunft. Diese Fragen versuchte ich zu umgehen, hielt mich mit meinen Antworten vage und bedeckt, auch wenn der Tonus klar mitschwang. Vielleicht würde er auf diese Weise nicht sofort bemerken, wie wenig Gemeinsamkeiten wir hatten. Ich fürchtete nämlich, sonst sein Interesse zu verlieren. Interesse an dieser Unterhaltung, an diesem Treffen und an mir im Allgemeinen. Und ich war noch nicht bereit, aussortiert zu werden.

Nichtsdestotrotz unterhielten wir uns recht gut, wodurch auch ich gelassener wurde. Um es mir bequemer zu machen, streckte ich die Füße von mir und streifte dabei versehentlich Joshuas Bein.

Sofort war die unbekümmerte Stimmung dahin.

Ich sprang auf. „Puh, ganz schön warm. Ich hole uns mal ein Eis.“ Damit eilte ich ins Haus.

„Ich habe nur Magnum classic! Mandel und Raspberry ist leider schon aus!“, rief ich hinter mich, während ich das Eisfach durchwühlte und dabei die Kälte genoss.

„Für mich lieber kein Eis“, hörte ich es so plötzlich hinter mir, dass ich ruckartig hochschreckte und mir dabei den Kopf an der oberen Eisfachkante stieß. Tapfer veratmete ich den Schmerzensschrei und nahm zwei Magnum aus dem Eisfach. Erst jetzt drehte ich mich zu Joshua um, der so dicht neben mir stand, dass ich es auf meiner Haut fühlen konnte. Mein Puls hämmerte laut in meinen Ohren, als sich unsere Blicke ineinander verhakten, und mein Mund wurde trocken. Die Luft sirrte. Ich zwang mich, ihn nicht zu packen und an mich zu ziehen, nicht in seinen Augen zu lesen, dass er genau das von mir wollte und ihm am besten gar nicht mehr in seine graugrünen Augen zu schauen. Nie wieder.

Mit aller Kraft wandte ich mich ab und räusperte mich. Erst jetzt, wo er sie zurückzog, merkte ich, dass Joshuas Hand an meiner Taille gelegen hatte. Ich musste mich zusammenreißen. „Leider habe ich nur das Magnum classic“, wiederholte ich einfallsreich. „Kannst dich bei Robin bedanken. Der isst immer die mit Mandel.“

„Wer?“ Joshua ging einen Schritt zurück.

„Na, Robin.“ Er antwortete nicht gleich, darum stutzte ich. „Von nebenan?“, fragte ich langsam.

Das Grundstück von Robin und seiner Frau Eva grenzte auf der hinteren Seite an meines. Er war Buchhalter, sie arbeitete in einem großen Pharmakonzern. Ihre Beziehung verlief völlig gradlinig: Sie lernten sich kennen, fanden sich gut, fanden sich besser, kamen zusammen und heirateten. Robin war herzensgut, lieb und verlässlich, wenngleich er kein Mensch war, der mit spannenden Geschichten aufwarten konnte. Ich genoss seine Gesellschaft. Wenn in meinem Leben zu viel Chaos herrschte, brachte mich ein Kaffee bei Robin grundsätzlich wieder runter.

„Ach ja.“ Joshua nickte und ging wieder einen kleinen Schritt zurück. „Ich wusste nicht, dass er öfter hier ist.“

Während sich mein Herzschlag langsam wieder beruhigte, wog ich den Kopf hin und her. „Immer mal wieder. Meistens bin ich drüben.“ Schweigen. „Äh, Eis?“ Ich hielt eine der Tüten hoch. Joshua schüttelte den Kopf und sah Richtung Robins Haus.

Erst jetzt begriff ich und senkte den Arm. „Robin ist ein Freund. Einfach nur ein guter Freund. Und seine Frau wird bald ihr erstes Kind bekommen“, erklärte ich ruhig.

„Ja, stimmt. ‘tschuldige. Ich bin gerade … ich weiß selbst nicht.“ Er rieb sich den Nacken. „Warum ist nur er hier?“

Verwundert legte ich den Kopf schief. Mit einer solchen Frage hatte ich nicht gerechnet. Lag es an mir oder schwang in dieser Frage ein Hauch von Eifersucht mit? „Ähm, naja. Robin hat zuerst allein hier gewohnt, ich kenne ihn also schon länger, und Eva arbeitet so viel, dass ich sie kaum zu Gesicht bekomme.“ Noch immer mied Joshua meinen Blick. Ich verengte die Augen. „Warum interessiert dich das?“, fragte ich mit diesem ganz bestimmten Unterton.

Joshua presste die Lippen zusammen. „Einfach so“, lautete schließlich seine Antwort, die er sich mit Sicherheit nicht einmal selbst glaubte. Mir rutschte eine Augenbraue nach oben. Das sah Joshua natürlich und lachte auf. „Wirklich“, bekräftigte er noch einmal.

„Okay …“, sagte ich gedehnt. Es entstand eine Pause. „Eis?“ Erneut hielt ich eins hoch.

In Joshuas Gesicht grub sich ein tiefes Schmunzeln. „Immer noch nicht.“

„Oh, hattest du das gesagt?“ Er nickte. „Ist es in Ordnung, wenn ich eins esse?“

„Ich habe damit kein Problem. Du bist nicht die Erste, die in meiner Gegenwart Eis isst. Glaub mir, ich komme damit klar.“ Bei den letzten Worten war er wieder auf mich zugetreten. Seine Stimme hatte diesen tiefen, verführenden Unterton, der mir den Atem raubte. Meine Knie wurden daraufhin immer weicher. Wenn er so dicht vor mir stand, setzte etwas in mir aus.

„Gut“, sagte ich möglichst fest und ließ das zweite Eis rasch wieder im Gefrierschrank verschwinden.

Unschlüssig sah ich auf meine Eistüte. Joshuas Nähe hatte meinen Magen auf die Größe eines Reiskorns schrumpfen lassen, weswegen die Lust auf Eis jäh verflogen war. Doch da meldete sich dieses kleine Stimmchen in mir, das mir dringend empfahl, das Eis trotzdem zu essen, und wenn es nur der Ablenkung diente.

Durch die tatterigen Hände etwas ungeschickt, fummelte ich das Eis aus der Verpackung und biss knackend in die kalte Schokolade. Leider splitterte dabei ein Stück von dem Schokoladenüberzug ab und fiel auf mein Oberteil, wo es umgehend schmolz.

„So ein Mist“, murmelte ich und eilte zur Spüle, um den Fleck mit einem Küchenlappen auszuwaschen. Mein grandios illoyales Magnum hatte ich unterwegs kopfüber in ein leeres Glas gestellt. Es sollte sich erst einmal überlegen, auf wessen Seite es stand, bevor ich es weiter aß.

„Zieh das Oberteil doch aus“, riet Joshua mir, nachdem er mit verschränkten Armen mein beflecktes Tanktop einer fachkundigen optischen Analyse unterzogen hatte.

Verunsichert schaute ich auf und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. War das eine Aufforderung, eine neutrale Meinung oder machte er sich über mich lustig?

„Wie … meinst du das?“

Die Mischung aus vielsagendem Lächeln und einer kaum erkennbaren Röte auf seinen Wangen war eigentlich Antwort genug. „Ich an deiner Stelle würde es tun“, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu.

Das war zu viel für mich. Unauffällig krallte ich mich ans Spülbecken und schluckte alle Wünsche, Sehnsüchte und Gefühle, die sich gerade einen Weg in mein Handeln bahnen wollten, herunter.

„Schon klar“, gab ich zurück, wobei das Reden nur noch eine Farce war. Wir hätten uns auch über Zirkusmäuse unterhalten können, unsere Körper sprachen ihre eigene Sprache. „Ich weiß, dass du gern die Hüllen fallen lässt. Das hast du letztes Jahr eindrücklich bewiesen.“ Ich wollte mich zwingen, weiter mein Oberteil zu säubern, doch nachdem ich mir unbedacht seinen Anblick wieder ins Gedächtnis gerufen hatte, war das nicht mehr möglich.

„Ich brauche mich für meinen Oberkörper nicht zu schämen“, erklärte Joshua leise und kam gefährlich nahe auf mich zu. Es schnürte mir beinahe die Luft ab, mein Herz galoppierte, ich zitterte und schwitzte, mein Mund hingegen wurde staubtrocken.

„Ist das so?“, krächzte ich kaum hörbar. „Ich weiß gar nicht mehr, wie dein Oberkörper aussah. Den habe ich schon so lange nicht mehr gesehen.“ Es sollte lustig klingen, doch als ich meine eigenen Worte hörte, war klar, dass es kein Witz, sondern eine Aufforderung war.

Joshua kam noch näher und legte seine Hände an meine Hüfte. „Das kannst du ja ändern“, flüsterte er. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper.

Ohne dass ich darüber nachdachte, griff ich nach dem unteren Bund seines T-Shirts und zog Joshua so dicht an mich heran, dass unsere Nasenspitzen sich berührten. Wir atmeten beide schwer. Ich spürte seine Wärme an meinem ganzen Körper. Ich wusste, dass es nur noch Millisekunden bis zum völligen Kontrollverlust waren.

Aber noch war es nicht zu spät. Ich konnte den Ausweg nutzen. Ich musste den Ausweg nutzen.

Es kostete mich alle Kraft, die ich besaß, in diesem Augenblick stark zu bleiben, vernünftig zu bleiben. Ich biss mir von innen auf die Lippe und schob ihn sacht ein Stück zurück, ließ sein T-Shirt los und trat einen Schritt nach hinten.

Ernüchtert atmete ich durch und fuhr mir durch die Haare. Es durfte nicht wahr sein, dass ich mich in der Gegenwart dieses Menschen so wenig zusammenreißen konnte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Joshua.

Anstatt etwas zu sagen, nickte ich, besann mich, schüttelte den Kopf, nickte dann aber wieder.

Irgendwie schien Joshua mein Kopfgewackel zumindest in Teilen verstanden zu haben. „Geht es dir zu schnell?“ Dann schien ihm ein Gedanke zu kommen. „Du wolltest sowieso noch reden.“

Mir dämmerte, dass ich etwas in dieser Richtung gesagt hatte. Nachdenklich sah ich ihn an. „Stimmt. Worüber auch noch gleich?“

Joshua lachte auf. „Na, darüber, dass es niemanden mehr gibt, der etwas dagegen haben könnte, dass wir uns treffen?“

„Du meinst deine Tante?“

„Nein, ich meine den Grund auf deiner Seite.“

Den Grund auf meiner Seite.

Und genau in diesem Augenblick fiel mir ein, worauf er hinauswollte, und jetzt wurde mir auch klar, warum dieses Treffen auch von Joshuas Seite alles andere als freundschaftlich verlaufen war. Er dachte ...

Kalter Schweiß brach auf meinem gesamten Körper aus.

„Warum bist du nicht mehr mit Niklas zusammen?“ Genau das.

Mir wurde schwindelig. „Ich ... ähm …“, stammelte ich unbeholfen. „Wir … es …“

„Ja?“ Abwartend sah er mich an. Ich hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit und hasste die Realität gerade. Ich wollte sie nicht kennen. Ich wollte so unwissend sein wie er. Ich wollte mit ihm in diese wahnsinnig aufregende neue Welt eintauchen. Wollte mich fallen lassen. Aber das ging nicht.

Also räusperte ich mich und versuchte, die Schultern zu straffen. „Wir sind noch zusammen. Da gibt es nichts zu besprechen.“

„Oh“, machte Joshua und schien nachzudenken. „Habt ihr Probleme?“, fragte er schließlich.

„Nein“, gab ich unbedarft zurück.

Joshuas Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ich dachte … dann verstehe ich nicht … Wo ist er denn? Ich habe ihn lange nicht gesehen.“

Ich kratzte mich am Kopf, dann erklärte ich Joshua, dass Niklas gerade eine Fortbildung machte und deswegen unter der Woche nicht da war. Die Wochenenden haben wir meistens bei ihm verbracht, und dazu lernte er für die Prüfung. „Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Du warst so mies drauf, ich wollte dich aufmuntern. Freundschaftlich. Glaube ich. Aber irgendwie ist es aus dem Ruder gelaufen, keine Ahnung, warum.“ Das alles war eindeutig gelogen. Hilflos hob ich die Schultern. „Es tut mir leid.“

Ich konnte sehen, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten. Seine Gedanken schienen abzuschweifen, als versuchte er, sich einen Reim auf all das zu machen. „Okay, ja natürlich. Freundschaftlich.“ Er nickte. „Ich denke, du hast genug Freunde. Herrn Kieslmeyer, Robin, und nicht zu vergessen deinen festen Freund.“ Er sah mich nicht an. „Es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Ich möchte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“ Damit wandte er sich ab.

„Warte“, sagte ich leise. Tatsächlich blieb Joshua stehen.

Das wäre der perfekte Augenblick, reinen Tisch zu machen. Ihm zu sagen, dass er sich nicht abgewiesen fühlen sollte, denn die ganze Situation war meine Schuld, weil ich nicht mit offenen Karten gespielt hatte. Ich hatte Vikis Rat befolgt, besser gesagt den Rat, den ich von Viki hören wollte, und hatte Joshua vor den Kopf gestoßen. Ich sollte mich entschuldigen. Er sollte sich nicht wegen meiner Fehler verhöhnt fühlen.

Doch leider hatte ich keine Idee, wie und wo ich anfangen sollte. Und ehe ich meinen Mund aufbekam, verschloss sich Joshuas Blick. Es war vorbei.

„Es tut mir leid, wenn ich missverständlich war“, sagte ich dennoch matt. „Ist alles gut zwischen uns?“

„Schon“, gab Joshua wenig glaubhaft zurück und richtete sich auf. „Dann nehme ich an, dass ich euch bald wieder zusammen im Garten sehen werde.“

Bevor ich antworten konnte, drehte er sich um und ging.

Es bleibt in der Nachbarschaft

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