Читать книгу Es bleibt in der Nachbarschaft - Isabel Renner - Страница 6

Kapitel 1

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„Brauchst du Hilfe?“, hörte ich eine mir sehr wohlbekannte Stimme und erstarrte. Joshua. Ausgerechnet. Ich ließ die immens schweren Umzugskartons, die ich gerade laut ächzend von der Stelle zu bewegen versucht hatte, Kartons sein und drehte mich ungläubig um.

Da stand er, der einst so nette Kerl von nebenan in voller Lebensgröße, mitten auf meiner Auffahrt. Sein Blick ruhte abwartend auf mir. Kein Anzeichen von Hohn oder Gehässigkeit darin zu erkennen. Er schien wirklich nur seine Hilfe anzubieten.

War doch nett.

Auf der anderen Seite, was bildete sich dieser Mistkerl ein? Ein Jahr lang hatte er sich größte Mühe gegeben, mir aus dem Weg zu gehen. Er hatte nichts mit mir zu tun haben wollen. Und davor …

Das war eine andere Geschichte. Tatsache war, dass dieser Typ zwei Gesichter hatte, und ich würde nicht mehr auf seine scheinheilige Freundlichkeit reinfallen.

Schon bei diesen Gedanken wallten augenblicklich Frust und Ärger in mir auf. Alles, was ich wegen ihm durchgemacht und zu verdrängen versucht hatte, sprudelte unaufhaltsam in mein Bewusstsein. Und nun war er hier, wodurch ich zum ersten Mal seit einem Jahr die Chance hatte, es loszuwerden. All das, was ich ihm seit dem bescheuerten Vorfall mit seiner bescheuerten Tante an seinen bescheuerten Kopf knallen wollte, konnte endlich gesagt werden. Entschlossen holte ich tief Luft, wusste aber nicht, wo ich überhaupt anfangen sollte. Zu viel wollte gleichzeitig heraus.

„Von dir?“, fragte ich schließlich, dann machte ich ein „Pffff“, gefolgt von einem „Verzichte“.

Nachdem das sehr eloquent klargestellt worden war, wandte ich mich wieder meinen Kartons zu. Schlagfertigkeit gehörte definitiv nicht zu meinen Stärken. Geschäftig öffnete ich die oberste Kiste und kramte darin herum, als suchte ich etwas. Joshua schien verstanden zu haben, denn zu meiner Erleichterung hörte ich, wie er wieder ging.

Zugegeben, es war ärgerlich, dass ich meine bislang erste und einzige Chance auf Klärung so einfach hatte verstreichen lassen, aber wichtiger war, dass er mir nicht in die Quere kam. Jetzt nicht mehr.

„Lieber breche ich mir alle Knochen im Leib, als mir von dir helfen zu lassen, du eingebildeter Blödmann“, fluchte ich und begann, den obersten Karton wieder zu verschließen. Er hatte seinen Zweck erfüllt.

Leider war mein kleiner verbaler Seitenhieb lauter gewesen als beabsichtigt, denn die sich entfernenden Schritte stoppten abrupt.

„Hast du ein Problem?“, rief Joshua.

„Pfffff“, machte ich nur wieder dieses eigenartige Geräusch und überflog die Garage nach weiteren Beschäftigungsmöglichkeiten. Die eigens von mir gepackten Kartons ins Haus zu schleppen, war keine Option. Wäre ich in der Lage gewesen, auch nur einen davon zu bewegen, würde ich nicht in diesem Schlamassel stecken. Es war nämlich noch nicht vorbei. Joshua kam die Auffahrt wieder hoch.

„Hast du ein Problem?“, fragte er erneut, während er unaufhaltsam auf mich zukam.

Okay, offensichtlich wollte er Konfrontation. Die konnte er haben. Wütend drehte ich mich zu ihm um und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Warum fragst du nicht deine Tante, was mein Problem ist? Ihr teilt doch sonst alles so innig miteinander“, polterte ich das Erste heraus, das mir in den Sinn kam.

Viel zu dicht blieb Joshua vor mir stehen und raubte mir damit den Atem. Seine graugrünen Augen waren erbarmungslos auf mich gerichtet, sein Blick fest. Mein Herz begann zu rasen, meine Wangen brannten, die Wut war schlagartig verraucht.

Nein, das durfte nicht sein. Ich hatte diesen Teil selbst nach einem Jahr und trotz der Geschehnisse offensichtlich nicht zum Schweigen bringen können. Der Geruch seines Deos lag dezent in der Luft. Ich musste stärker sein.

„Wovon redest du bitte?“, hörte ich ihn von irgendwoher fragen.

Verzweifelt kratzte ich das letzte bisschen Zorn zusammen, das ich finden konnte, und knallte ihm geflissentlich ein „Vergiss es einfach“ an den Kopf. Anschließend tat ich, als würde ich abwinken, fuhr herum, sammelte meinen Schlüssel ein und stapfte energisch an ihm vorbei zum Haus.

Wütend auf Joshua, weil er immer noch so ignorant war, und wütend auf mich, weil er immer noch diesen Einfluss auf mich hatte, riss ich die Tür auf und feuerte meine Crocs in die Ecke. Nur einen Augenblick später spürte ich, wie mich jemand am Handgelenk packte. Ich wirbelte herum.

„Was willst du?“, bellte ich Joshua an.

„Bei deinem starken Abgang hast du den hier vergessen.“ Er hielt meinen Kuschel-Hoodie hoch, den ich eben hatte liegen lassen. Ich biss mir auf die Lippen, um nichts Trotziges zu sagen. „Was ist dein Problem? Ich wollte dir nur helfen!“ Er ließ den Pulli wieder sinken. Zwischen seinen dunklen Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet, und wieder war er mir viel zu nah.

Sofort riss ich mich aus meiner Erstarrung, ignorierte seine Nähe und vor allem die Reaktion meines Körpers auf ihn.

Er konnte unmöglich vergessen haben, was vor einem Jahr gewesen war. „Das weißt du ganz genau. Du hast mich vor deiner Tante dargestellt, als wäre ich eine kranke Irre, die keine Grenzen kennt und ein Nein nicht akzeptiert“, erinnerte ich ihn. „Hast du eine Ahnung, wie erniedrigend das war? Und dank ihr weiß auch die ganze Nachbarschaft davon. Dabei stimmt das nicht mal! Aber dir war das natürlich egal. Du hast es nicht richtiggestellt. Du hast dich nicht entschuldigt. Ich bin froh, dass ich hier endlich wegziehen kann. Weg von deiner Tante, weg von dir. Weg von deinem Riesenego und deiner verqueren Wahrnehmung. Du bist ein mieser Hosenscheißer, der lieber bei Mama am Rockzipfel hängt, als Rückgrat zu zeigen und für seinen Mist geradezustehen!“ Am liebsten hätte ich weitergesprochen, aber leider ging mir in diesem Moment die Puste aus, und ich musste erst wieder zu Atem kommen.

In Joshuas markantem Gesicht arbeiteten die Kiefermuskeln. Die Falte zwischen seinen Brauen hatte sich weiter vertieft. Zorn funkelte aus seinen Augen. Aber wenn er glaubte, er könnte mich einschüchtern, irrte er sich gewaltig. „Solch mächtigen Sprüche ausgerechnet von dir!“, knurrte er mich an. „Von derjenigen, die alle Männer um den Finger wickelt! Erzähl mir nichts über richtiges Verhalten. Als wenn du so viel besser wärst!“

Das schlug dem Fass den Boden aus. „Hast du sie noch alle? Im Gegensatz zu dir bin ich in der Lage, meine Schlachten selbst zu kämpfen. Ich brauche niemanden, der meine Angelegenheiten für mich regelt.“

„Es war eine Entscheidung! Es war das Beste!“

„Ja, für dich auf jeden Fall! Überraschung, Joshua denkt mal an sich, wo er das sonst nicht schon zur Genüge tut.“ Ich schüttelte den Kopf. „Tu nicht so ritterlich. Du bist ein kleiner, feiger, egoistischer Wurm, mehr nicht.“

„Du nennst mich feige?“

Ich reckte das Kinn. „Genau das tue ich.“

Etwas flackerte in seinen Augen auf, dann wurde sein Blick entschlossen. „Ach ja? Ist das auch feige?“ Kaum gesagt, hatte er meinen Hoodie weggeworfen, den ohnehin viel zu geringen Abstand zwischen uns mit einem Schritt überbrückt, meinen Kopf in die Hände genommen und seine Lippen hart auf meine gepresst.

Es bleibt in der Nachbarschaft

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