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Kapitel 2

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Ein Jahr zuvor

Missmutig sah ich aus dem Fenster. Der Rasen, den ich vor nicht einmal einer Woche im Schweiße meines Angesichts gemäht hatte, hatte wieder eine neue Rekordhöhe erreicht. Das durfte doch nicht wahr sein. Warum wuchs das Gras im Sommer so schnell? Wo wollte es hin? Wollte es zur Sonne? Da würde es doch eh nur verbrennen. Warum wollte man immer nah an dem sein, was einem nicht guttat? Wem wollte das Gras etwas beweisen? Als wenn diese übertriebene Wachstumsnummer bei den anderen Pflanzen Eindruck schinden würde. Hoch oder niedrig, es blieb Gras. Einfache Halme ohne Blätter, Blüten, Zweige oder gar Früchte.

Seufzend lehnte ich meine Stirn ans Fenster. Was waren das denn für gestörte Gedanken? Noch dazu völlig unnütz. Egal, wie gehässig ich dem armen Gras gegenüber war, ich würde es nicht daran hindern, fröhlich weiterzuwachsen. Und meiner Mäharbeit würde ich dadurch auch nicht entkommen.

Seufzend drehte ich mich um, schlappte in meinen Blumenflipflops hinaus in die mörderische Sonne und redete mit verschränkten Armen Tacheles mit meinem Vorgarten: „So. Von mir aus mähe ich dich heute noch mal. Aber ich habe dich im Blick, und wenn ich dich nächste Woche wieder mähen muss, wirst du durch einen Steingarten ersetzt. Also reiß dich zusammen. Hab’ ich mich klar ausgedrückt?“

„Ah, wie ich höre, hast du wieder die Steingartendrohung in petto, Kindchen“, vernahm ich erfreut eine bekannte heisere Stimme zu meiner Rechten. Diese Stimme gehörte dem herzensguten Herrn Kieslmeyer, ein ‚rüstiger Rentner‘, der mich immer ‚Kindchen‘ nannte und der mit Abstand tollste Mensch war, den man sich als Nachbar vorstellen konnte.

„Guten Morgen, Herr Kieslmeyer“, grüßte ich freundlich und ging zu ihm an den Holzlattenzaun.

„Dir auch einen guten Morgen, mitten am Vormittag“, grüßte er schelmisch zurück und lächelte. Herr Kieslmeyers Gesicht faszinierte mich immer wieder. Es war überzogen von unzähligen und ungewöhnlich vielen Fältchen. Kleine, dunkle Knopfaugen lugten aus etwas eingefallenen Augenhöhlen, die sich hinter einer feinen, dünnglasigen Brille mit einem silbernen Rahmen verbargen. Seine Haare waren schneeweiß und flaumig. Heute versteckten sie sich unter dem obligatorischen Strohhut, den er stets bei der Gartenarbeit aufhatte. Außerdem trug er eine beige Stoffhose, von denen er schätzungsweise ein Dutzend Stück besaß, und ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln. Schließlich befanden wir uns im Hochsommer.

„Wächst Ihr Rasen auch so schnell oder ist es nur meiner?“, erkundigte ich mich aus reinem Frust heraus.

Nachdenklich betrachtete Herr Kieslmeyer das Grün seines Vorgartens. „Ja, wenn du mich so fragst, Kindchen, würde ich sagen, dass im Gegensatz zu meinem Rasen dein Rasen wohl gerade einen Anflug von Größenwahn erleidet.“

Amüsiert spitzelte ich an ihm vorbei. Sein Rasen hatte exakt dieselbe Länge wie meiner. Das war nicht weiter verwunderlich, da ich seinen Rasen immer mitmähte, seit ich entsetzt Zeuge geworden war, wie er seinen Rasen tatsächlich mit einer Sense (!) gekürzt hatte. Unzählige Verletzungs- und Unfallmöglichkeiten waren vor meinem inneren Auge erschienen, die ich nicht tolerieren konnte. Seit ich seine Nachbarin war, hatte Herr Kieslmeyer also genau einmal selbst seinen Rasen gestutzt.

„Da ist eine Verschwörung im Gange, sage ich Ihnen“, schloss ich.

Herr Kieslmeyer lachte kurz und räusperte sich gleich daraufhin.

„Ach, einen schönen guten Morgen, Walter. Guten Morgen, Miriam“, trötete es gut gelaunt hinter mir. Es war Frau Meinders, meine Nachbarin von der anderen Seite. Sie war klein und kräftig, mit gut verschlossenen Kleidungsstücken und trug ihr grau meliertes Haar in einem Dutt an ihrem Hinterkopf. Ihre Brille konnte man bei ihr an vier verschiedenen Plätzen vorfinden: auf ihrem Kopf (selten), auf ihrer Nase (meistens), auf ihrer Nasenspitze (leider zu häufig) oder an einer goldenen Kette um ihren Hals (wie jetzt gerade). Sie war außerdem etwa im selben Alter wie Herr Kieslmeyer, weswegen sie annahm, dass es zwischen ihnen automatisch ein besonderes Band gab – eine Art innere Verbundenheit unter den Menschen fortgeschrittenen Alters zwischen all den jungen Hüpfern und Familien in dieser Nachbarschaft.

„Guten Morgen“, gaben Herr Kieslmeyer und ich mehr oder weniger synchron zurück.

„Entsetzliches Frauenzimmer“, murmelte er jedoch wie üblich kaum hörbar in seine weißen Bartstoppeln. Er hatte offensichtlich eine andere Meinung zu diesem ‚besonderen Band‘. Nur mühsam konnte ich ein Kichern unterdrücken. Vielleicht war Frau Meinders im Grunde ihres Herzens ein guter Mensch. Aber sie hatte leider die Angewohnheit, sich unablässig den Mund über ihre Mitmenschen zu zerreißen. Diese Eigenschaft wurde mit der Zeit sehr anstrengend, zumal sie über jeden etwas zum Schwätzen fand. Die einzige Ausnahme bildete eben Herr Kieslmeyer, über den sie noch nie ein schlechtes Wort verloren hatte. Ich neigte gerne dazu, ihn mit diesem Phänomen aufzuziehen.

„Heute Vormittag sind alle bei der Gartenarbeit, was?“, strahlte sie uns an.

„Natürlich, solange die Temperaturen noch erträglich sind“, rief Herr Kieslmeyer heiser herüber.

Wir nickten uns alle höflich zu. In diesem Augenblick trat Joshua im Hintergrund in den Garten. Er grüßte knapp in unsere Richtung und sagte etwas zu seiner Tante. Auf dem Weg zu seinem Wagen sah er zu mir. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, das von einem Zwinkern begleitet wurde. Dann setzte er sich ins Auto und fuhr davon.

Was? Was war das denn?

Ein kurzer Moment verstrich, dann lehnte ich mich zu meinem Nachbarn. „Ich habe gerade nicht zugehört. Hat Frau Meinders noch etwas zu uns gesagt?“

Er stieß ein kleines, heiseres Lachen aus. „Keine Sorge, Kindchen.“ Unter seinem amüsierten Blick wollte ich mich gerade an die Arbeit machen, als er mir noch etwas zuraunte: „Die Freundin hat er übrigens nicht mehr. Sie haben sich vor ein paar Wochen getrennt.“

Ich zuckte nur mit den Schultern, bevor ich verschwand.

Tss, wen interessierte das denn?

Etwa zwei Stunden später war aller Rasen gemäht und alles Unkraut gezupft. Die Sonne hatte beinahe den Zenit erreicht, was weiteres Arbeiten unmöglich machte. Erschöpft und verschwitzt lehnte ich mich an den Gartenzaun und fächerte mir die backofenwarme Luft zu. Herr Kieslmeyer hatte bereits vor einer Dreiviertelstunde die Segel gestrichen und sich ins Haus zurückgezogen. Nun kam er allerdings wieder heraus, um sich mein Ergebnis anzuschauen.

„Sehr gute Arbeit, Kindchen. Du weißt, dass du das nicht hättest tun müssen, nicht wahr?“

Ich winkte ab. „Habe ich doch gerne gemacht.“

Er lachte kurz. „Binde mir doch keinen Bären auf.“

„Gut, es ist nicht mein Traumjob, aber lieber schufte ich, als dass Sie mit diesem monströsen Hexenwerkzeug herumhantieren und sich wer weiß was absäbeln.“

„Du hast dir jetzt auf jeden Fall eine Erfrischung verdient. Ich habe nur leider nichts im Haus“, beteuerte er zerknirscht.

Ich richtete mich wieder auf. „Schon gut, grämen Sie sich nicht.“

Er nickte und öffnete den Mund, doch statt seiner Antwort vernahm ich wieder Frau Meinders: „Kann ich euch einen Eiskaffee anbieten?“ Unsicher sahen wir uns an. „Der Joshua hat gerade welchen gemacht.“

„Sehr gerne!“, rief Herr Kieslmeyer auffällig schnell zurück, und bevor ich ihn mit einem mahnenden Blick bedenken konnte, hatte er sich schon in Bewegung gesetzt. „Kommst du, Kindchen?“

Keine fünf Minuten später saßen wir zu viert auf den stilvollen Holzgartenstühlen von Frau Meinders unter ihrem riesigen grünen Sonnenschirm, der angenehmen Schatten spendete. Herr Kieslmeyer rechts, Frau Meinders links und Joshua mir gegenüber. Während Frau Meinders Herrn Kieslmeyer in ein Gespräch zu verwickeln versuchte, zog die Information über Joshuas Beziehungsstatus in meinem Kopf seine Bahnen. Mit leichtem Unbehagen sah ich an mir herunter. Neben meinen Blumenflipflops trug ich eine ebenfalls geblümte Hotpants und ein schlichtes Oberteil mit Spaghettiträgern, das allerdings bereits schweißgetränkt war. Joshua hingegen sah aus wie aus dem Ei gepellt.

Frustriert trank ich einen Schluck aus meinem Longdrinkglas. Wenigstens würde mir der Eiskaffee etwas Abkühlung verschaffen. Doch dieser Genuss hielt nicht lange an, denn sofort legte sich eine Übermenge Bitterstoffe penetrant über meine Geschmacksnerven und betäubten diese. Ich würgte den Schluck hinunter und konnte nur mit Mühe ein ausgiebiges Schütteln unterdrücken. Dieses Gebräu schmeckte mehr nach Pferdehufbad als nach Eiskaffee. Dennoch beherrschte ich meine Gesichtszüge, was gut war, denn in diesem Moment fing Joshua meinen Blick auf und schenkte mir ein unauffälliges Lächeln.

Schnell rührte ich in meinem Glas herum. Eigentlich sollte es mir egal sein, was er über mich dachte und wie er mich fand. Er war viel zu jung für mich und außerhalb meiner Liga. Er wohnte bereits seit einem Jahr nebenan, und ich hatte wirklich kein Interesse an ihm. Zumindest gab ich mir alle Mühe, keins zu haben.

Als er nebenan einzog, hatte er gerade seine Ausbildung zum Bürohengst abgeschlossen und strebte ein weiterführendes Studium an. Was genau hatte ich vergessen, aber es war irgendwas Langweiliges. Steuern, Jura oder so. Es war etwas, das nicht zu jemandem passte, der – ganz im Trend – jede freie Minute in seinen ‚Body‘ investierte. Das Resultat seiner körperbedachten Lebensweise konnte sich sehen lassen und ließ in mir Komplexe erwachen, die ich eigentlich nicht haben brauchte. Ich hatte nämlich das unverschämte Glück, von Natur aus mit einem sportlich anmutenden Körper ausgestattet worden zu sein, wenngleich ich gänzlich unsportlich war. Und wenn man meine Mitte außer Acht ließ, die leider einen leichten Hang zur Auspolsterung hatte, brauchte ich mich vor Joshua nicht zu verstecken. Warum also fühlte ich mich schlecht? Das war doch albern.

„Schmeckt der Eiskaffee?“, hörte ich ihn in diesem Augenblick fragen, was mich völlig aus meinen Gedanken riss.

„Danke, sehr gut“, antwortete Herr Kieslmeyer höflich. An seiner Stimmlage hörte ich jedoch eine kleine Flunkerei heraus und grinste ihm verschwörerisch zu. Erst dann wanderte meine Aufmerksamkeit allmählich zu Joshua. Ich hätte mich beinahe an meiner eigenen Frechheit verschluckt, als ich bemerkte, dass er auch von mir eine Antwort erwartete.

„Äh, ja. Genau. Schmeckt wirklich gut“, log ich ebenfalls, rang mir etwas Ähnliches wie ein Lächeln ab und fand es mindestens zwei Grad wärmer als noch vor einer halben Minute. Joshua nickte, scheinbar mit der Antwort zufrieden. Dennoch ließ er mich nicht aus den Augen. Ich fühlte mich ins Visier genommen, wie ein Raubtier, das seine Beute fixiert. Ein ungeahnt wohliger Schauer überkam mich.

Frau Meinders hatte inzwischen den Gesprächsfaden wieder aufgenommen, und ich versuchte so zu tun, als würde ich der Unterhaltung folgen. Zwischendurch konnte ich es mir nicht verkneifen, einen flüchtigen Blick in Joshuas Richtung zu werfen. Doch jedes Mal bemerkte er es und sah mich auch an. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, dass er genau so wenig Ahnung hatte, worüber sich seine Tante mit Herrn Kieslmeyer unterhielt, wie ich.

Als würden wir unsere eigene Unterhaltung führen. Nonverbal.

So schmeichelhaft und aufregend das auch war, hoffte dennoch etwas in mir, dass er mich nur ansah, weil ich vielleicht Grasreste im Gesicht oder in den Haaren hatte und er nicht wusste, wie er es mir sagen sollte. Oder vielleicht bot ich schlicht einen solch katastrophalen Anblick, dass er deswegen nirgendwo anders hinsehen konnte.

„… oder, Miriam?“, hörte ich Frau Meinders. Drei Augenpaare waren auf mich gerichtet, und ich hatte keine Ahnung, was sie gesagt haben könnte, dabei hatte ich doch die ganze Zeit Interesse vorgegaukelt. Mir blieb also nichts anderes übrig, als zu raten oder irgendetwas zu sagen.

„Ich muss noch Wäsche machen.“

Fassungsloses Schweigen. Fragend sah Frau Meinders zu Herrn Kieslmeyer, dann zu Joshua.

„Ich auch“, kam es daraufhin von ihm. Und wieder bohrte sich sein Blick in meinen.

„Oh“, machte ich nur. „Dann sehen wir uns ja später im Garten zum ... Wäscheaufhängen.“

„Sieht so aus.“

Stille.

Frau Meinders räusperte sich. „Aber denk dran, dass wir zuerst zusammen einkaufen wollten, Joshua.“ Süßlich lächelte sie in meine Richtung. „Dann wird das wohl nichts mit dem Treffen im Garten nachher.“

„Himmel, bei der möchte ich nicht wohnen“, murmelte mein Lieblingsnachbar, als wir uns nach dem wohl geschmacklosesten Eiskaffee der Welt auf dem Rückweg befanden. Joshua hatte uns in aller Ausführlichkeit und stolz wie ein Pfau erklärt, wie er den Kaffee in seiner extra-spezial-super-duper Kaffeemaschine zubereitet und wie er das Eis vegan und komplett zuckerfrei zubereitet hatte. Komplett. Zuckerfrei. Das war sehr löblich, doch leider war meine Zunge nicht geübt darin, Geschmack in kalten, zuckerlosen Süßgetränken zu entdecken. Als Herr Kieslmeyer ihn um etwas Zucker bat, brachte Joshua uns einen Zuckeraustauschstoff, von dem er so begeistert war, wie es ein Vertreter dieses Produktes kaum mehr hätte sein können. Als er die Packung neben mir auf den Tisch stellte, berührte er unauffällig meinen Rücken.

„Wenn es dir nicht schmeckt, musst du das nicht trinken“, raunte er mir dabei ins Ohr.

Mit aufsteigender Hitze im Gesicht versuchte ich ihm zu versichern, dass alles wunderbar sei. Doch obwohl ich löffelweise von dem Süßmittel in meinen Eiskaffee rührte, konnte ich geschmacklich kaum einen Unterschied feststellen. Die Unsensibilität meiner Geschmacksnerven tat mir furchtbar leid.

Dennoch hatten wir unseren Eiskaffee heroisch runtergelöffelt, und ich beschloss, zu Hause als Erstes meinen Zuckertopf leer zu essen – einfach aus Prinzip.

„Manchmal frage ich mich, was mit diesem Jungen nicht stimmt“, riss Herr Kieslmeyer mich aus meinen Gedanken. Er hatte so leise gesprochen, dass ich mir nicht sicher war, ob er wirklich mit mir sprach, oder ob sich versehentlich ein Gedanke verbalisiert hatte. Er kratzte sich an seinem flaumigen Kopf.

„Was meinen Sie?“

„Nun ja, dieser Junge ist immer so angespannt und verbissen, dass ich das Gefühl habe, in seiner Gegenwart regelrecht zu verknittern. Der Beweis steht vor dir. Sieh mich doch nur mal an.“ Mit gespieltem Entsetzen starrte er mich an und deutete auf sein Gesicht.

„Sie sind wunderschön“, versicherte ich ihm warmherzig und nahm seine Hand, was ihn auflachen ließ.

„Der Bengel ist so versessen darauf, immer der Beste zu sein, alles zu können und alles zu wissen. Das gefällt mir nicht. Das ist nicht gesund.“

„Er ist versessen auf seine Karriere“, ergänzte ich.

Er schüttelte kaum merklich den Kopf. „Karriere. Das ist nebensächlich. Glaub mir, Kindchen, wenn du alt und grau bist wie ich, interessiert sich niemand mehr für deine Karriere.“ Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, also sah ich ihm schweigend dabei zu, wie er seine Gedankengänge formulierte. „Der arme Wicht versteht nicht, was wirklich wichtig ist im Leben.“

Gleichzeitig sahen wir hinüber zum Haus der beiden Meinders.

„Und was wäre das? Liebe?“, fragte ich zynisch, weil es mir die einfachste aller Antworten schien.

„Aber natürlich, was denn sonst?“, antwortete Herr Kieslmeyer, und die Überraschung ließ seine Stimme noch heiserer klingen.

Als ich wieder zu ihm sah, lag ein Ausdruck hinter seinen Brillengläsern, den ich bei ihm noch nie gesehen hatte. „Alles, was der Junge macht, ist nur der lächerliche Versuch, sich nicht mit der Liebe auseinandersetzen zu müssen. Liebe macht Angst, und Liebe tut weh, aber sie gibt auch Kraft. Sie nimmt, und sie schenkt. Sie ist in der Lage zu verändern. Sie ermöglicht Dinge, die wir uns nicht einmal in unseren kühnsten Träumen ausmalen können. Und Liebe macht uns immer zu einem besseren Menschen.“

„Nicht immer“, widersprach ich leise.

Er musterte mich. „Spricht da die Erfahrung aus dir, Kindchen?“

Ich zuckte nur mit den Schultern und schüttelte resigniert den Kopf. Manchmal war es gut und richtig, gegen die Liebe anzukämpfen, nicht wahr? Vor allen Dingen, wenn sie sich an einen Platz zu drängen versuchte, der schon besetzt war. Denn ich hatte bereits jemanden gefunden, den ich liebte. Sogar sehr. Und doch ...

Wie war es möglich, dass sich dennoch ein anderer Mann in meinem Herzen hatte einnisten können – wenn auch nur ein kleines bisschen?

Bevor Herrn Kieslmeyer weitere Fragen einfielen, straffte ich die Schultern und stellte ihm eine: „Wie wäre es, wenn wir uns gleich mit unseren Zuckertöpfen im Garten treffen und sie zusammen leer löffeln?“

Herr Kieslmeyer stieß ein Lachen aus, das mehr wie ein Husten klang, und winkte ab. „Ach, bis ich einen von denen gefunden habe … Und es ist mir zu warm. Die Sonne hat mir schon viel zu lange meinen Kopf aufgeheizt.“ Er deutete auf seinen nicht vorhandenen Sonnenhut. „Ich gehe lieber wieder rein. Nichts für ungut, Kindchen.“

Etwas später stand ich mit meinem Waschkorb im Garten. Eigentlich hätte ich nicht waschen müssen, aber meinem mangelnden Einfallsreichtum war es geschuldet, dass ich nun doch Wäsche machte.

In der Nachmittagshitze begann ich, sie aufzuhängen. Sie brachte etwas Abkühlung, wenn ich – natürlich rein zufällig – mit ihr in Berührung kam.

Gerade als ich nur kurz einen meiner Röcke auf mein Gesicht gelegt hatte und die seichte Frische genoss, hörte ich seine Stimme. „Du machst ja tatsächlich Wäsche.“

Erschrocken riss ich mir den Rock vom Gesicht. Am Zaun stand Joshua, lediglich bekleidet mit Shorts und Flipflops – lange Zeit sein üblicher Look, sobald das Thermometer über die Nullmarke kletterte. In der Nachbarschaft war dieser Anblick allerdings nicht gern gesehen gewesen, sodass er mit der Zeit etwas zurückhaltender wurde, was seine Freizügigkeit anging. Aber bei den aktuellen Temperaturen war oben ohne unvermeidbar.

Trotz der frischen Kühle in meinem Gesicht fühlte ich bereits die Hitze meine Wangen durchströmen. „Natürlich mache ich Wäsche.“ Demonstrativ hing ich den Rock auf. „Denkst du etwa, ich hätte gelogen?“, gab ich spielerisch provokant zurück.

Joshua schmunzelte und zuckte mit den Schultern. „Es sah so aus, als hättest du das gesagt, um davon abzulenken, dass du mit deinen Gedanken gerade ganz woanders warst.“

„Du hast mich also so genau beobachtet, ja?“

Er grinste. „So sehe ich die Leute nun einmal an.“

„Mhm“, machte ich und griff nach einem neuen Wäschestück. „Red’ dir das nur ein.“

Als Antwort zwinkerte er mir zu. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, und ich versuchte mich wieder auf mein Wäschestück zu konzentrieren.

Er flirtete, oder? Und ich flirtete. Das war neu. Auch eine Berührung, wie die von vorhin, hatte es vorher nicht gegeben.

Warum tat er das auf einmal? Und warum tat ich das?

Bevor einer von uns allerdings noch etwas sagen konnte, schallte es von hinten: „Joshuaaa! Kannst du mir mal bitte mit den schweren Tüten helfen?“

Entschuldigend hob er die Schultern und war damit auch schon verschwunden, um seiner Tante zu Hilfe zu eilen. Mir fiel darauf nichts weiter ein, als mit dem Kopf zu schütteln. „Entsetzliches Frauenzimmer“, murmelte ich Herrn Kieslmeyers Worte und legte mir ein nasses Shirt aufs Gesicht.

Es bleibt in der Nachbarschaft

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