Читать книгу Es bleibt in der Nachbarschaft - Isabel Renner - Страница 9
Kapitel 4
Оглавление„Ich wollte ihn nur näher kennenlernen“, rechtfertigte ich mich vor meinen Mädels, als wir später am Abend bei Nadja auf der Terrasse saßen. Ihr Mann war dankenswerterweise zu einem Kumpel gegangen, damit wir ungestört reden konnten.
„Bitte nicht! Du hast doch Niklas“, kam es direkt von Nadja.
Viki ignorierte das. „Das hast du sehr gut gemacht. Und jetzt erzähl mal, taugt er was im Bett?“
„Keine Ahnung, ich war nicht mit ihm im Bett, und ich will auch nicht mit ihm ins Bett“, gab ich bestimmt zur Kunde, bemerkte aber sofort eine immense innere Auflehnung – ich log. „Ich würde nie etwas tun wollen, das Niklas verletzt“, setzte ich nach. Das war nicht gelogen.
„Natürlich würdest du das nicht, Süße. Das wissen wir doch.“ Viki tätschelte meinen Arm und schob die Unterlippe vor, als würde sie ein tobendes Kind zu beruhigen versuchen. „Du willst nur deinen Nachbarn näher kennenlernen, um herauszufinden, ob sich ein Schokoladenkern hinter diesem aufgemotzten Ego verbirgt.“ Sie zwinkerte mir vielsagend zu.
„Ich glaube, dass es mir in gewisser Weise guttun würde, normalen Kontakt mit ihm zu haben.“
„Wenn ich dir einen Rat geben darf“, mischte sich Nadja wieder dazwischen. „Tu das nicht. Du bist mit Niklas zusammen. Du bist mit ihm glücklich. Setz das nicht aufs Spiel.“ Mit ihren großen rehbraunen Augen sah sie mich an.
„Ich möchte mich nur mit ihm unterhalten“, intervenierte ich. „Dabei setze ich nichts aufs Spiel.“
„Er wird verletzt werden. Und du wirst verletzt werden. Und Niklas wird verletzt werden. Da kann nichts Gutes bei rauskommen“, beharrte sie.
„Wir könnten Freunde werden“, versuchte ich es halbherzig.
Nadja schüttelte den Kopf. Ihr rotes Haar glänzte in der Sonne. „Keiner von euch beiden ist an einer Freundschaft interessiert.“
„Was macht dich da so sicher?“
Nadja seufzte. „Sonst wärt ihr längst befreundet.“
In dem Ausdruck in Vikis Gesicht konnte ich lesen, dass sie das genauso sah, und ich wusste, dass die beiden recht hatten. Mit Robin war es ganz anders. Nie waren wir uns beabsichtigt oder unbeabsichtigt nähergekommen. Nie hatte es auch nur eine eigenartige Situation zwischen uns gegeben. Nie herrschte so etwas wie Eifersucht wegen Eva oder Niklas. Zwischen Robin und mir, das konnte ich reinen Gewissens sagen, war gar nichts.
„Im Grunde muss ich aber gerade deswegen mit ihm befreundet sein.“
Empört schnappte Nadja nach Luft. „Nein, das musst du nicht. Brich den Kontakt ab. Lösch seine Nummer. Zieh dich zurück. Ganz einfach.“
„Eben nicht“, konterte ich.
„Oh, jetzt verstehe ich, worauf sie hinauswill“, gab Viki äußerst erfreut von sich und grinste mich an. „Guter Schachzug.“
Nadja wurde ungehaltener. „Könnte mich jemand aufklären?“
Das übernahm Viki. „Das ist doch logisch, Süße. Wenn Miri jetzt den Kontakt abbricht, bleibt die ganze erotische Anziehung unausgesprochen im Raum stehen. Und da sie Nachbarn sind und sich jeden Tag sehen, wird die Spannung zwischen den beiden immer größer. Und schließlich“, sie machte eine dramaturgische Pause, „reicht etwas Alkohol und eine schummrige Umgebung und sie treiben es wie die Karnickel. Stimmt‘s?“
Ich wog den Kopf hin und her. „Streich den Alkohol und die schummrige Umgebung. Das scheint so schnell bei uns zu gehen. Es wäre vorhin ja beinahe schon passiert“, ergänzte ich unter Nadjas entsetztem Blick.
„Das kann doch nicht euer Ernst sein. Habt ihr euch gar nicht im Griff?“
„Es tut mir leid.“ Liebevoll nahm ich ihre Hand und drückte sie kurz. Das Thema Untreue war das Einzige, mit dem man die sonst so ruhige und besonnene Nadja auf die Palme bringen konnte.
„Versteh doch bitte, dass das alles nicht so einfach ist. Wir können uns nicht einfach aus dem Weg gehen, uns nicht mehr sehen und uns vergessen. Wir sind Nachbarn und sehen uns ständig, gerade im Sommer. Was auch immer da zwischen uns ist, es kann kein Gras drüber wachsen.“
Viki nickte bekräftigend, und nach einem prüfenden Blick auf uns beide und einigen Momenten offensichtlich angestrengten Nachdenkens seufzte Nadja tief.
„Tja, wenn das so ist, habe ich dem wohl nicht viel entgegenzusetzen.“ Sie sah mich noch einmal eingehend an. „Aber ich bin trotzdem strikt dagegen, Miriam. Das kann nicht gut gehen. Alle drei werden verletzt werden.“ Ich schwieg. Nach einer Weile tätschelte Nadja meine Hand. „Ich hoffe, dass ich mich irre.“
„Ich auch“, flüsterte ich.
Am nächsten Tag legte ich in meinem Vorgarten ein kleines Beet an. Den Rasen hatte ich halbwegs im Griff, Zeit also, auf das nächste Level aufzusteigen: Blumen. Von Herrn Kieslmeyer inspiriert hatte ich mir sogar einen Strohhut gekauft, wenngleich meiner längst nicht so authentisch war wie seiner. Ich wollte Chrysanthemen einpflanzen. Abreisebereit standen sie in ihren Töpfchen neben mir und warteten darauf, dass ich ihr neues Zuhause herrichtete, als ein grüner Wagen auf meine Auffahrt fuhr – Niklas.
Ich hatte ihn durch das viele Lernen die ganze Woche über nicht gesehen und war nach dem Treffen mit Joshua noch ziemlich durch den Wind. Da ich nicht wusste, wie ich ihm begegnen sollte, war ich froh, mich unter meinem Sonnenhut ein wenig verstecken zu können.
„Hallo, mein Engel. Schön, dich endlich wiederzusehen“, begrüßte Niklas mich liebevoll und hockte sich zu mir auf den Rasen. Nach einer liebevollen Begrüßung half er mir ohne weitere Worte beim Einpflanzen.
Niklas war ein großer, breitschultriger Mann mit blonden Haaren und einem gepflegten, blonden Vollbart. Trotz seines maskulinen Auftretens war er ungeheuer sanftmütig und strahlte eine Ruhe aus wie ein Berg. Vermutlich, weil er wusste, dass er kräftemäßig den meisten Männern weit überlegen war – wie bei Bud Spencer.
„Das sind wirklich schöne Blumen“, sagte er lobend.
„Ja, ich finde sie so schön unkompliziert.“
Etwas belustigt sah er mich an. „Du meinst, so wie Rosen eingebildet und Lilien falsch sind?“
Begeistert strahlte ich meinen Freund an, der einmal mehr verstanden hatte, wie ich funktionierte. „Genau! So viele Blumen werden übersehen oder nicht wertgeschätzt, weil ihre Einfachheit ihnen als Nachteil ausgelegt wird. Ich finde das nicht in Ordnung.“ Liebevoll betrachtete ich die an Gänseblümchen anmutenden Blumen, die nun hübsch in meinem Beet standen. „Als Kind hatte ich sogar ein Gänseblümchen- und ein Löwenzahnbeet“, erzählte ich in Erinnerungen versunken. „Ich fand es schon damals nicht richtig, dass diese hübschen Pflanzen regelmäßig dem Rasenmäher zum Opfer fielen. Also habe ich meine Sandkastenschaufel genommen, sie ausgebuddelt und heimlich in Mamas Blumenbeet gemogelt“, schwelgte ich weiter. „Leider hielt meine Mutter diese Pflanzen natürlich für Unkraut und rupfte sie raus. Das war für mich so schlimm, dass ich die Pflanzen weinend aus ihrem Eimer geholt und wieder einzupflanzen versucht habe. Da verstand meine Mutter, wie wichtig mir diese einfachen Blumen waren und ließ mich gewähren. Damit standen in ihrem fancy Blumenbeet ein paar geduldete Untermieter.“ Bei dem Gedanken daran musste ich lächeln. „Zu meinem sechsten Geburtstag habe ich dann von meinen Eltern Gartenutensilien für Kinder und mein eigenes Beet bekommen. Sie sagten, dass ich mir in der Gärtnerei selbst Pflanzen aussuchen dürfte.“
„Aber du wolltest keine Pflanzen aus der Gärtnerei“, mutmaßte Niklas.
Ich schüttelte den Kopf. „Gänseblümchen und Löwenzahn waren für mich völlig ausreichend. Ich brauchte und wollte nie etwas Extravagantes.“
Zärtlich sah Niklas mich an, dann stand er auf und hielt mir seine Hand hin. Ich ergriff sie und ließ mich von ihm hochziehen. „Du bist wirklich was ganz Besonderes, Miri“, sagte er und schlang die Arme um meine Hüfte. „Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe.“
„Wohl viel eher, dass ich dich gefunden habe, und noch viel eher, dass du mich nicht aufgegeben hast, als ich dir …“
„… dass ich dich gefunden habe“, betonte Niklas nachdrücklich.
Als ich gerade etwas Spitzfindiges entgegnen wollte, erregte ein Geräusch meine Aufmerksamkeit. Nebenan war Joshua aus dem Haus gekommen. Mein ganzer Körper versteifte sich augenblicklich.
Warum hatte er das nicht fünf Minuten eher tun können oder am besten gar nicht?
Es war erst einen Tag her, dass wir uns nahegekommen waren. Prompt versetzte mich mein Gedächtnis in die Situation von gestern. Seine Hände, die Wärme seines Körpers, das Geräusch seiner Atmung, stopp! Ich zwang mich, die Realität anzuerkennen, nämlich die, dass mich der Mann, mit dem ich mir gestern alles hätte vorstellen können, turtelnd mit meinem Freund sah – wie er es vorausgesagt hatte.
Mir wurde schlecht.
Joshua grüßte uns knapp und unverfänglich im Vorbeigehen und lief dann die Straße runter. Er hatte sich nichts anmerken lassen. Störte es ihn tatsächlich nicht, mich so vertraut mit Niklas zu sehen? Das würde bedeuten, dass er doch nichts für mich empfand. Oder überspielte er seine Gefühle?
Und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass nicht er seine Gefühle überspielte, sondern ich meine. So ein Dreckmist. Wann war denn das passiert?
Nachdem Joshua außer Sicht war, grinste ich Niklas schief an, während der noch immer herzerwärmend zu mir herabsah. War das jetzt möglicherweise der Augenblick, meinem Freund zu stecken, dass ich mich in den viel zu jungen Nachbarn verliebt hatte?
„Du hast mir gefehlt, Miri. Ich liebe dich“, flüsterte Niklas leise.
Nein, das war er eindeutig nicht.
„Oh. Ja, ähm, ich dich auch“, stammelte ich und ließ mich verwirrter denn je von ihm küssen, denn es war das erste Mal, dass er das zu mir gesagt hatte. Er hätte dafür keinen ungünstigeren Zeitpunkt wählen können.
Als ich später wieder allein war, schrieb ich Joshua. Ja, ich hatte einen Freund, aber auch Joshua hatte irgendwie einen Platz in meinen Gedanken und meinem Herzen. Das durfte er ruhig wissen. Außerdem wollte ich herausfinden, was er beim Anblick von Niklas und mir gedacht hatte. Und was er für mich fühlte.
Na, alles gut bei dir? Warst du einkaufen?
Joshuas Antwort kam bereits nach wenigen Minuten:
Alles bestens. Nee, habe mich mit einer Kommilitonin getroffen.
Mein Magen wollte sich umdrehen. Auf diese Reaktion hätte ich gefasst sein müssen. Was erwartete ich denn? Dass er schmachtend und leidend an seinem Fenster vergehen würde, so wie ich es an seiner Stelle getan hätte? Aber vielleicht störte es ihn wirklich nicht, mich mit Niklas gesehen zu haben. Es konnte schließlich durchaus sein, dass er nichts für mich empfand und der Moment gestern nur eine Gelegenheit für ihn gewesen wäre.
Mir hätte klar sein müssen, dass ich mich spätestens jetzt zurückziehen musste. Ich sollte Nadjas Rat befolgen, keine Freundschaft, kein Kontakt, Nummer löschen und auf Niklas konzentrieren. Ich war bereits zu weit gegangen, und Niklas wäre mit Sicherheit unendlich verletzt, wenn er wüsste, was gestern zwischen Joshua und mir passiert war und seither in Dauerschleife durch meinen Kopf lief. Nur leider war mir gerade erst bewusst geworden, dass ich bereits in Joshua verliebt war. Und es ist eine altbekannte Weisheit, dass jeder Verliebte ein Narr ist. So auch ich.
Am Abend waren meine Ladies zur Krisensitzung angereist.
„Niklas hat mir heute zum ersten Mal gesagt, dass er mich liebt“, verkündete ich als Erstes.
Nadja klatschte freudig in die Hände. „Das ist wundervoll, Süße. Ich habe ein gutes Gefühl bei euch beiden. Das wird was ganz Großes.“ Sie überschlug sich beinahe.
„Nicht so schnell“, grätschte ich hastig ein, bevor sie noch mehr solcher Sachen von sich gab und ich mich noch miserabler und zwiegespaltener fühlte, als ich es ohnehin schon tat.
Viki und ihre Skandalspürnase witterten es. „Uh, ich wette, das wird gut. Was hast du gemacht, du kleines Luder?“
Schuldbewusst sah ich die beiden an. „Ich habe mich in Joshua verliebt.“ Dramatisch ließ ich die Schultern sinken und wartete auf ihre schockierten Reaktionen. Doch stattdessen tauschten sie einen Blick und sahen wieder zu mir. „Was?“, fragte ich gedehnt.
„Ich dachte, jetzt kommt was Neues“, gab Viki enttäuscht von sich. „Das mit Joshua hat echt ‘nen langen Bart.“ Nadja sagte nichts, nickte aber zustimmend.
„Was meint ihr? Ich habe jetzt erst herausgefunden, dass ich in ihn verliebt bin. Das ist ganz neu.“ Meine Verwirrung wuchs.
Die zwei waren nach wie vor die Ruhe selbst. „Sorry, Süße, aber wir dachten, das wüsstest du längst“, erklärte Viki ungerührt.
„Nein, das …“ Ich versuchte, mich und meine Gedanken zu ordnen. „Das war heute die Erkenntnis.“
„Okay.“ Viki zuckte unbeeindruckt mit den Achseln, und Nadja sah mich mitfühlend an.
„Und seit wann wisst ihr das schon?“
Joshua oder vielmehr meine Gefühle für ihn schienen Viki langsam anzuöden. „Seit du ihn das erste Mal erwähnt hast, würde ich sagen. Oder, Nadja, was meinst du?“ Nadja nickte. Meine Augen wurden größer. „Können wir jetzt das Thema wechseln? Ich habe da nämlich jemanden kennengelernt ...“
„Moment!“, unterbrach ich sie. „Eine Frage hab’ ich noch. Warum wisst ihr das und ich nicht?“
Wieder tauschten Viki und Nadja einen Blick, und wieder spielte Viki den Erklärbär. „Tja, also wenn ich mich richtig erinnere, hattest du ihn damals wie folgt beschrieben: Eigentlich ist er ein ganz süßer Kerl. Viiiiiel zu jung natürlich und ich habe auch überhauuuupt kein Interesse an ihm, aber er ist wirklich niedlich, weil er immer ganz, ganz arg männlich tut und einen auf Poser und dicke Hose macht, aber das nur Fassade ist und außerdem hat er etwas total Tapsiges an sich. Wie ein Welpe, der gerade zum ersten Mal läuft.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Viki mich an. „Ich bitte dich. Und dazu dein verklärter Blick …“
„So albern hab’ ich das überhaupt nicht gesagt“, maulte ich etwas verlegen.
„Wir dachten, dass es dir spätestens in dem Moment selbst klar war“, ergänzte Nadja mit mütterlichem Unterton.
Ich schüttelte den Kopf. Darüber musste ich erst mal nachdenken.
Für eine Sekunde war es still, dann nahm Viki das Gespräch wieder auf. „Also, jedenfalls, zu dem Typen, den ich kennengelernt habe. Er ist ein hohes Tier im Verlagswesen …“
„Stopp, stopp, warte mal kurz.“ Es tat mir leid, aber Vikis Traummannprahlerei musste noch eine Runde in die Warteschleife, bis ich alles begriffen und verarbeitet hatte.
Erwartungsgemäß rollte sie mit ihren wunderschön geschminkten, blauen Augen. „Was gibt es denn noch? Und mach hinne, ich treffe mich gleich noch mit Noel – das ist übrigens sein Name.“ Sie warf Nadja einen schelmischen Blick zu, als hätte ich nicht gemerkt, dass sie eine Information von ihrem neuen Lover übermittelt hatte.
„Aber damals hatte ich wirklich kein Interesse an ihm. Außerdem hatte er eine Freundin, und ich habe Niklas kennengelernt.“ Ich wusste nicht, wie ich die Frage formulieren sollte, die in mir brannte. „Also hääää???“
Das brachte die Mädels zum Lachen, und die Stimmung entspannte sich. Dieses Mal war es Nadja, die für Aufklärung sorgte. „Naja, mit Joshua schien es so zu sein, dass da zwar etwas war, sich aber nicht weiterentwickeln konnte. Ähnlich einem Ei, das nicht weiter bebrütet wird. Ohne Brüten und Wärme kommt kein Küken raus.“
„Das ist eine sehr verstörende Metapher, Süße“, meinte Viki und griff sich ihr Handy. Vermutlich, um Noel zu schreiben, dass es etwas später werden würde, weil sie ihrer begriffsstutzigen Freundin noch ihre eigenen Gefühle beibringen musste.
„Finde ich auch“, sagte ich.
Nadja zuckte entschuldigend mit den Achseln. „Sorry, mir ist so auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Jetzt müssen wir da alle kurz durch.“ Sie holte tief Luft und erklärte dann weiter: „Es war also anzunehmen, dass deine Gefühle für Joshua in diesem Stadium bleiben würden, als du Niklas kennengelernt hast. Bei Niklas war nämlich alles genauso, wie es sein sollte. Ei gelegt, gebrütet, Küken – also die Liebe – geschlüpft. Bei Joshua schien es hingegen schließlich ein Steinei zu sein, das man mit noch so viel Wärme nicht mehr ausbrüten kann.“
Vikis und mein Gesicht nahmen gleichsam verständnislose Züge an. Viki hatte sogar ihr Handy weggelegt. Wenn Noel warten konnte, musste es schlimm sein, was Nadja von sich gab. Diese redete sich unterdessen weiter um Kopf und Kragen. „Ihr habt das doch beide schon gehabt. Wenn aus einer Verliebtheit nichts wird, vergehen die Schmetterlinge im Bauch zwar irgendwann, aber immer, wenn ihr diese Person wiederseht, wisst ihr, dass da mal was war. Es kann aber auch nie mehr etwas richtig Großes daraus werden. Das Ei ist da, aber es ist … wie aus Stein.“
„Ja, klar. Das berühmte Gefühlssteinei“, witzelte Viki. „Das haben schon die Philosophen der Antike gelehrt.“
Ich musste kichern. „Hey, Viki, wie viele Steineier hast du denn schon in deiner Vitrine?“, scherzte ich ohne Rücksicht auf Nadja, der es sichtlich unangenehm war, dass wir uns über ihre Metapher amüsierten.
„Du meinst in meiner Gefühlsvitrine? Keins, tatsächlich. Ich war noch nicht unglücklich verliebt.“ Und mit dieser Aussage hatte es aufgehört, lustig zu sein. Zumindest für mich. „Wie viele Steineier stehen in deiner Gefühlsvitrine, Miri?“ Dass sich Viki gerade mit ihrem erhabenen Liebesleben, in dem sie stets die Prinzessin war, latent unbeliebt gemacht hatte, hatte sie nicht bemerkt.
Bevor ich ins Schmollen verfallen konnte, weil ich bei der Anzahl meiner unerwiderten Verliebtheiten keine Vitrine mehr, sondern schon ein Hochregallager für Steineier benötigen würde, das von einer aufstrebenden Aktiengesellschaft unterhalten werden musste, die seit meiner Kindheit fröhlich florierte und expandierte, schritt Nadja ein.
„Okay, Mädels, ich habe einen blöden Vergleich gebracht. Schon klar. Aber erstens hat Viki sehr wohl ein Steinei. Ich erinnere da an Liam.“ Er war Vikis erster Freund, und es kam dem Hochverrat gleich, seinen Namen zu erwähnen. Über alle anderen Beziehungen und Männer konnte sie lachen, über ihn nicht. Wie aufs Stichwort verfärbte sich Vikis Gesicht puterrot. Doch Nadja bemerkte das nicht. „Und zweitens geht es um Gefühle im Allgemeinen, die man mal hatte und irgendwann nicht mehr. Wenn man zum Beispiel verliebt war, den anderen Menschen dann aber lange Zeit nicht gesehen hat. Oder wenn ihr einen Ex-Freund von euch trefft. Dann ist da doch nicht nichts. Ihr wisst, dass ihr mal Gefühle für diesen Menschen hattet – das Steinei.“
„Naja, aber im Fall von verflossenen Beziehungen wohl eher Steinküken, schließlich waren sie nach deiner Logik ja schon ausgebrütet“, murmelte ich. „Oder kann sich das Küken auch wieder zurückentwickeln, wenn …“
„Was bildest du dir eigentlich ein?“, feuerte Viki plötzlich gegen Nadja und fuhr mir damit über den Mund. Überrascht sahen wir sie an. „Du hast von Männern und Gefühlen überhaupt keine Ahnung, also misch dich bei anderen nicht ein, Naddel!“
Während Viki zur Feuerfurie mutierte, blieb Nadja gewohnt gelassen. Und das, obwohl Viki sie gerade mit dem Spitznamen angesprochen hatte, den Nadja hasste. „Ich habe einen Mann und eine Beziehung. Damit sollte ich autorisiert genug sein, über Männer und Beziehungen sprechen zu dürfen. Findest du nicht?“ Da hatte sie recht. Sie hatte einen Mann und eine Beziehung.
Der Unterschied lag allerdings im Detail, denn Nadja war schon immer mit ihrem Gerrit zusammen. Sie kamen am selben Tag in unseren Kindergarten, und im Grunde waren sie seitdem ein Paar. Bis auf einmal hatten sie nie schwere Krisen durchmachen müssen, weil sie einander immer achteten, schätzten und sich ausnahmslos liebten. Streng genommen konnte Nadja also bei unseren Männergeschichten aus ihrer Schaumstoff-Wattebäuschchen-Beziehungsweltperspektive tatsächlich nicht ganz mitreden.
Wutschnaubend sah Viki Nadja an. Gerade als sie zum Gegenschlag ausholen wollte, schritt ich lautstark dazwischen. „Schluss jetzt, ihr zwei!“, brüllte ich.
Es wirkte. Die beiden hielten inne.
Ich wandte mich an Viki. „Mensch, Süße. Wie lange soll das noch so weitergehen, dass wir Liams Namen nicht erwähnen dürfen? Du hast ihn in die Wüste geschickt, obwohl du ihn geliebt hast, weil er deinen Ansprüchen nicht genügte. Es waren deine Prioritäten. Es war deine Entscheidung.“
„Nein!“, rief Viki. „Ich wurde gezwungen.“
„Von wem?“
„Von der Gesellschaft. Ansehen, Status und Prestige. Ich konnte mich mit ihm nirgendwo sehen lassen, weil er nichts vorzuweisen hatte.“ Sie versuchte, kühl zu klingen, doch ihre Stimme zitterte. Nun tauschten Nadja und ich einen Blick.
„Wie gesagt, es sind deine Prioritäten. Niemand verurteilt dich dafür“, erklärte ich. „Aber steh dazu. Wenn du mit den Konsequenzen nicht leben kannst, solltest du deine Prioritäten vielleicht überdenken. Ich meine, du hast den einzigen Mann, den du je wirklich geliebt hast, in die Wüste geschickt.“
„Hör auf!“, schrie Viki. Ihre Unterlippe bebte.
Aber dieses Mal nicht. Seit Jahren gab es Streit und Ärger, wenn eine von uns vergessen hatte, die Liam-Klippe zu umschiffen. Außerdem wurde jeder neue Mann in ihrem Leben unbewusst mit Liam verglichen, und bislang war noch jeder gescheitert und infolgedessen auch jede Beziehung. Das würde vermutlich ewig so weitergehen, wenn nicht jemand einschritt. In diesem Fall ich.
„Und du liebst ihn auch jetzt noch!“
„Ich habe gesagt, du sollst aufhören!“ Wütend warf Viki ihr Handy nach mir. Zum Glück konnte sie nicht zielen. Das Handy verfehlte mich, auch ohne, dass ich ihm auswich, um locker einen Meter. Viki atmete schwer, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Laut schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. Nadja und ich setzten uns neben sie und nahmen sie in den Arm.
„Sag es“, flüsterte ich schließlich.
„Ich kann nicht“, schluchzte sie unglücklich.
Ich legte meinen Kopf auf ihre zarte Schulter. „Du musst, Süße. Du musst dich davon befreien.“
Eine Weile geschah nichts. Man hörte nur Vikis gelegentliches Schniefen. Schließlich tauchte sie aus ihren Händen wieder auf, schnäuzte sich, richtete sich auf und sagte es: „Ja, ich liebe Liam. Er ist weder Steinei noch Steinküken, er ist ein Küken und quicklebendig.“ Sie dachte kurz nach, während Nadja und ich ihr noch immer die Schulter tätschelten. „Kein Mann, den ich bisher kennengelernt habe, war wie er. Ich liebe ihn. Ich liebe Liam, und nur ihn.“
„Uuuuund?“, trieb ich sie behutsam noch etwas an.
„Und ich habe einen riesigen Fehler gemacht, ihn gehen zu lassen. Der größte Fehler, den ich bislang gemacht habe.“
Endlich war es raus. Sie hatte es zugegeben. Wir alle fühlten uns erleichtert, und Viki wahrscheinlich am meisten.
„Warum hast du ihn nicht wieder zurückgeholt?“, fragte Nadja.
Viki zuckte die tief hängenden Schultern. „Keine Ahnung. Ich dachte, es vergeht. Ich dachte, ich lerne jemanden Besseres kennen. Ich dachte, er würde um mich kämpfen. Falscher Stolz.“
In diesem Moment kam mir ein wahnwitziger Gedanke: „Hey, warum holst du ihn dir nicht jetzt zurück?“ Nadja und Viki sahen mich wortlos an. Dieser Vorschlag war entweder brillant oder eine saudämliche Selbstmordmission. Aber vielleicht gab es noch eine Chance für sie.
Es brauchte eine Stunde und eine dreiviertel Flasche Rotwein, bis Viki einen Versuch wagte und Liam unter unserem Support anrief.
Die gute Nachricht war, dass Liam tatsächlich noch die Nummer von damals hatte und sie ihn erreichte. Nach zehn Jahren war das nicht selbstverständlich. Außerdem schien er sich über Vikis Anruf sehr zu freuen.
Die für Viki den Boden unter den Füßen wegreißende Nachricht war, dass er inzwischen glücklich mit seiner Traumfrau verheiratet und Baby Nummer zwei auf dem Weg war. Für ihn war Viki ein Steinei.
Es war schmerzhaft mitzuerleben, wie Vikis Herz endgültig zerbrach.
Ich brachte sie wenig später nach Hause. Auf der ganzen Fahrt sprach sie kein einziges Wort. Es tat mir unendlich leid, sie zu diesem Geständnis und dieser Aktion überredet zu haben. Damit hatte ich ihr die letzte kleine heimliche Hoffnung auf ein Happy End mit ihrem Liam genommen.
Ich spürte, wie schwarze Zeiten auf unsere Freundschaft zukamen, und fühlte mich elend.
Allein zu Hause wurde es noch schlimmer. Ich machte mir einen Tee mit Lavendel, der leichtes Einschlafen versprach, und machte es mir mit meinem Handy auf dem Sofa gemütlich. Die Chats mit meinen Freundinnen mied ich und öffnete stattdessen einen anderen.
Na, lernst du gerade fleißig?, tippte ich unüberlegt und sendete die Nachricht an Joshua. Ich brauchte jemanden zum Reden, etwas Ablenkung.
Nur wenig später kam seine Antwort: Natürlich, wie immer ;) Und was macht ihr?
Ihr. Da war es. Entweder wollte er mich ärgern oder mir zeigen, wie wenig ihn die Situation von heute Nachmittag gestört hatte.
Ich versuche mich gerade etwas abzulenken, mein Abend war nicht so gut.
Obwohl er die Nachricht gelesen hatte und ständig online war, verging über eine halbe Stunde, ohne dass Joshua antwortete. Es ärgerte mich, dass ich ihn überhaupt angeschrieben hatte. Ich wollte mich besser fühlen, wollte aufgemuntert werden, stattdessen fühlte ich mich nun noch schlechter. Ich hätte Niklas schreiben sollen. Er wusste, wie man eine Frau behandelte. Aber leider schwirrte mir nur Joshua im Kopf herum.
Niedergeschlagen erklärte ich den Tag für beendet und machte mich bettfertig. Ich schickte Niklas eine Gute-Nacht-Nachricht, auf die ich sofort eine herzliche Antwort bekam. Morgen würde ich ihn anrufen oder zu ihm fahren, wenn er Zeit hatte, und ihm von der ganzen Geschichte mit Viki berichten. Er würde mich in den Arm nehmen, und danach wäre die Welt schon gar nicht mehr so schlimm.