Читать книгу Taugenixen - Isabel Rohner - Страница 5
ОглавлениеProlog
Die Dunkelheit breitete sich wie ein Samttuch über den Klippenweg. Die Nachtluft war lau. Nur eine leichte Brise wehte über die Anhöhe. Von weit unten donnerte die Brandung. Wellen schlugen in regelmäßigen Abständen gegen die Felsen.
Der Schatten unter der alten Pinie stand reglos da und wartete. Warten war schon immer eine seiner Stärken gewesen. Zeit spielte keine Rolle. Früher oder später würde sein Opfer kommen. Wie immer. Auf eine Zigarette am Meer. Oder auf einen schnellen Fick. Je nachdem. Ob der Rekord heute fiel? Fünf Minuten hatte es gestern gedauert, der Schatten hatte auf die Uhr gesehen. Dann war erst der eine wieder im Dunkeln verschwunden und nach weiteren zwei Minuten der andere. Geredet hatte keiner der beiden. Sie hatten sich aufeinander gestürzt wie junge Hunde, der Schatten hatte es genau beobachtet.
Das passte zu ihm! Aber was sollte es. Bald hätte dieser Mistkerl keine Gelegenheit mehr dazu. Denn schon sehr bald würde dieser Mann sterben. Vielleicht schon heute. Er hatte schon viel zu lang gelebt.
Der Schatten unter dem Baum zog ein Messer aus der Manteltasche und fuhr fast zärtlich mit dem Finger über die Klinge. Er konnte förmlich spüren, wie es sich anfühlen würde, wenn er ihm damit die Kehle durchschnitt. Konnte die weit aufgerissenen Augen sehen, die ihn im Moment seines Todes ansehen würden, mit diesem Blick, wie ihn Hühner haben, bevor man ihnen den Hals umdreht. In diesem Moment, wo selbst einem so primitiven Geschöpf klar wird, dass es keine Chance mehr hat. Das Blut würde aus der Halsschlagader rinnen wie Wasser. Sein Herz würde ihn in den Tod pumpen. Der Schatten freute sich schon lange auf diesen Moment, er konnte es kaum erwarten, horchte gespannt auf jedes Geräusch.
Schritte näherten sich. Entspannte, lockere Schritte.
Er ahnte also wirklich nichts. Er fühlte sich sicher. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit. Auf das Timing kam es an, auf nichts anderes.
Durch die Zweige der Pinie war er nun deutlich zu sehen. Er blieb auf der Anhöhe stehen. Für einen kurzen Moment flackerte sein Gesicht auf, als er sich eine Zigarette anzündete und einen langen Zug nahm.
Offensichtlich wartete er heute auf niemanden. Sonst hätte er sich bereits sein Sakko ausgezogen. Das hatte er bisher immer getan. Menschen waren Gewohnheitswesen. Und dieser Mann hasste Knitterfalten.
Der Schatten umklammerte den Griff des Messers fester. Wenn der Kerl heute auf niemanden wartete, dann wäre es soweit: Dann war heute die Nacht der Nächte.
Langsam und vorsichtig löste er sich von seinem Platz im Schutz der Pinie. Jedes Knacken würde ihn verraten. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Die Anhöhe war jetzt nur noch wenige Schritte entfernt. Nur noch wenige Meter.
Der Mann stand fast in Reichweite, den Blick auf das nachtblaue Meer unter den Klippen gerichtet, blies er Rauchringe in Richtung Wasser.
Der Schatten näherte sich und hob das Messer. Das Mondlicht ließ die Klinge kurz aufblitzen, doch der Mann an der Klippe sah nicht, was in seinem Rücken geschah. Der Schatten holte aus. Dann hörte er Schritte.
Jemand kam auf die Anhöhe. Schnell ließ die Gestalt das Messer sinken und huschte genauso schnell wieder zu den Bäumen. Der Mann auf der Klippe war reglos geblieben. Er hatte sich nicht einmal umgedreht. Er hatte nichts bemerkt. Erst jetzt, als der zweite sich näherte und ihn mit einem kehligen »Hallo Fremder« begrüßte, fuhr er herum und zog eilig sein Sakko aus. »Endlich«, raunte er. Dann stürzten sich die beiden aufeinander und warfen sich ins Gras. Der Schatten konnte nichts mehr erkennen. Hörte nur das Stöhnen, Atmen und Keuchen.
Nach etwas mehr als fünf Minuten verließ erst der eine und nur wenige Augenblicke darauf der andere den Platz über den Klippen.
Ich kann warten, dachte die Gestalt im Schatten der Pinie. Es ist nur eine Frage der Zeit.