Читать книгу Dorran - Isabel Tahiri - Страница 6
Haselsprung
ОглавлениеDie wochenlange gute Ernährung und sein neuer Wasserschlauch erlaubten Dorran, gut voran zu kommen. Er wanderte bereits drei Wochen, es war jetzt Ende Juli, als er einen Freund gewann. Sein Weg führte ihn am Waldrand entlang, als er plötzlich ein Jaulen und Fiepen hörte. Er folgte den Geräuschen und fand an einem Baum einen Sack hängen, der sich bewegte.
Vorsichtig nahm er ihn herunter und sprach mit sanfter Stimme auf ihn ein. „Du brauchst keine Angst zu haben, ich helfe Dir mein Kleiner, wer hat Dich denn bloß in den Sack gesteckt. Ganz ruhig, ich mach es jetzt auf.“ Als er ihn öffnete sprang ein winziger Hund heraus, der sofort über seine eigenen Füße stolperte. Er fühlte sich heiß an und winselte. Das Kerlchen hatte bestimmt Durst. Dorran nahm den Wasserschlauch zur Hand, und goss sich davon etwas in seine Handfläche und hielt es dem Hündchen hin. Der schleckte alles brav auf und verlangte nach mehr. Nach ein paar Händen voll legte sich der Kleine auf seinen Schoß, und schlief sofort ein. Denn, dass es ein Männchen war, hatte er gleich gesehen.
Was sollte er jetzt machen, er konnte ihn doch nicht allein im Wald zurücklassen. Dazu war er zu klein, ihn mitnehmen? Ja, das hielt Dorran für eine gute Idee, dann hatte er Gesellschaft unterwegs. Aber in dem Fall brauchte das Hündchen einen Namen. Dorran überlegte eine Weile, während er den schlafenden Welpen betrachtete. Sein Fell war sehr hell, fast weiß und lockig, er hatte sehr große Pfoten, kein kleiner Hund also. Wie könnte er ihn nennen? Ihm fiel kein geeigneter Name ein, er musste ihn besser kennenlernen. Das Hündchen öffnete die Augen und sprang auf, es lief mal hier und mal dort hin. „Komm, Hund.“ Dorran forderte ihn auf mitzukommen, und der Hund folgte ihm brav.
Der Welpe rannte immer ein paar Schritte vor und blieb dann wieder etwas zurück. Dorran war gezwungen sich ständig nach ihm umzusehen, das zerrte an seinen Nerven. Nach ein paar Stunden war er es leid, er lief einfach weiter und beachtete den Winzling nicht mehr. Als er selbst eine Rast einlegte und gerade ein Stück Wurst abschnitt, tauchte der Kleine wieder auf. „Da bist Du ja, Du alter Streuner.“ Als Dorran das sagte, kam es ihm plötzlich genau richtig vor. „Gut, Du sollst Streuner heißen. Komm her.“ Streuner kam sofort und schnupperte an der Wurst. Dorran teilte sie am Ende gerecht auf. Jetzt musste er entweder ein Kaninchen fangen, oder im nächsten Dorf etwas Fleisch erwerben. Mit Streuner an seiner Seite benötigte er deutlich mehr Nahrung. Von da an waren die beiden unzertrennlich, sie schliefen nachts eng beieinanderliegend im Wald oder in einer Scheune. Dorran konnte richtig tief schlafen, Streuner passte gut auf und weckte ihn beim kleinsten Geräusch.
Es war nicht so teuer, wie er erwartet hatte, den Hund durchzufüttern. Oft bekam der hübsche Streuner auch etwas von den Bauern geschenkt. Mal ein bisschen Leber hier, eine Wurst dort, auch mal einen Markknochen. Einige der Bauern sagten, dass er bestimmt einen guten Wachhund abgeben würde. Manche machten ihm sogar ein Angebot für den Hund. Aber trennen wollte Dorran sich keinesfalls von Streuner, er betrachtete ihn als seinen Freund. Auch das Futterproblem löste sich beinahe von selbst. Je größer der Hund wurde, desto selbstständiger wurde er auch. Im Herbst, Streuner war inzwischen ziemlich gewachsen, brachte er Dorran erstmals einen großen Feldhasen und legte ihn zu dessen Füßen ab. Dorran schätzte, dass er inzwischen ein halbes Jahr alt war, für einen so jungen Hund war das sehr früh, um selbstständig zu jagen. Aber erfreulich war es dennoch, Streuner hatte für sie beide etwas zu Essen besorgt.
Er zog dem Hasen das Fell ab, und holte die Eingeweide heraus, die er an Streuner verfütterte. Auch das abgezogene Fell gab er dem Hund zurück, der eine Weile damit spielte und es dann zerriss. Danach war es uninteressant.
Ihre Beziehung spielte sich ein, Streuner jagte für sie Beide, und sie kamen gut voran. Auf den Bauernhöfen kauften sie nur noch Milch und Dauerwürste, etwas Brot und ab und zu mal ein Stück Rindfleisch. Streuner jagte fast ausschließlich Hasen. Einmal erwischte er einen wilden Truthahn, ein seltenes Festmahl für die beiden Wanderer. Der Hund hatte jetzt im Oktober wohl seine endgültige Größe erreicht, er ging Dorran bis zur Hüfte, der Babyspeck war verschwunden. Streuner wirkte eher mager, er wuchs einfach zu schnell, die Muskulatur musste sich erst noch ausbilden. Ende Oktober kamen sie in das Dorf Haselsprung. Nur zehn Häuser groß, ein paar Scheunen, Ställe und Pferche. Um das Dorf herum lagen ein paar Felder, die aber natürlich schon abgeerntet waren. Hier gab es eine junge Witwe, die, um ihr Auskommen zu verbessern, ein Zimmer zu vermieten hatte. Sie stellten sich vor, Dorran und der große Streuner. Die Witwe war einverstanden, ihnen für den Winter eine Unterkunft zu gewähren. Zwei Wertsteine pro Monat und täglich eine warme Mahlzeit für sich und Streuner. Das war sehr preisgünstig, Dorran nahm das Angebot mit Freuden an. Streuner durfte sogar ins Haus.
Das Leben bei Melanie, so hieß die Witwe, gestaltete sich angenehm. Dorran half ihr mit dem Holz, er spaltete und hackte es zurecht, um es anschließend auf der Veranda des kleinen Hauses zu stapeln. Sie kochte Suppen und Eintöpfe für ihn und Streuner. Er fühlte sich wohl, genau, wie der Hund auch. Dorran konnte die Pause gut gebrauchen, seine Beine waren in der Zeit des Wanderns muskulöser geworden, aber er war insgesamt erschöpft. Er genoss die Ruhe.
Als er sich bei Melanie umsah, erkannte er viele Dinge, die repariert werden mussten. Man merkte deutlich, dass der Mann fehlte. Also reparierte er ein paar Dinge für sie, die vor dem Winter dringend erledigt werden mussten. Das Dach hatte eine undichte Stelle, das Ofenrohr musste gereinigt, der Brunnen von Laub befreit werden, lauter Kleinigkeiten, aber sie war ihm dankbar dafür. Seit ihr Mann gestorben war, musste sie allein zurechtkommen. Die Dörfler wollten ihr, der Zugereisten aus Bergtal, nicht unter die Arme greifen. Außer ein paar unsittlichen Anträgen von den Ehemännern der anderen Frauen, hatte sie keine Hilfe aus dem Dorf bekommen. Dorran stellte fest, dass die Menschen hier auch nicht anders waren, als in Bergdorf, stur und fremdenfeindlich. Nach Keilberg, hatte er gedacht, dass nur die Leute aus seinem Heimatdorf so ein merkwürdiges Verhalten an den Tag legten. Die Keilberger waren alle nett zu ihm gewesen, keiner hatte ihn schief angesehen oder versucht ihn auszuschließen. Aber dieses Verhalten gab es wohl überall, Bergdorf war da keine Ausnahme gewesen.
Als man dann im Januar wegen der Kälte und dem Schnee nicht mehr richtig hinaus konnte, selbst Streuner machte nur kurz sein Geschäft und kam dann wieder hinein, landeten sie schließlich in ihrem Bett. Er war völlig ahnungslos, aber Melanie lehrte ihn alles was er je brauchen würde. Und Dorran war begierig darauf zu lernen. Sie verstanden sich in jeder Hinsicht gut. Ihr Zusammenleben war von Freundlichkeit und den gemeinsamen Stunden im Bett geprägt. Als dann der Frühling kam, erwartete Melanie ein Kind. Dorran war erst erschrocken darüber, aber nach einer Weile gewöhnte er sich an den Gedanken. Ja, er freute sich schon auf dieses Kind. Schwanger zu werden, damit hatte Melanie nicht gerechnet, war sie doch in den fünf Jahren ihrer Ehe, nicht mit einem Kind gesegnet worden. Aber als sie sah, dass Dorran sich freute, söhnte sie sich mit dem Gedanken aus, zumal er ihr versicherte, bei ihr bleiben zu wollen.
Sie heirateten und im August, Dorran war inzwischen siebzehn, brachte Melanie eine Tochter zur Welt, die den Namen Melissa bekam. Dorran verliebte sich auf den ersten Blick in die Kleine. Er trug sie oft herum und erzählte ihr Geschichten. Als sie ihn das erste Mal anlächelte, weinte er vor Freude. Das Leben war angenehm mit Frau und Tochter, sie hatten viel Freude aneinander. Die kleine Melissa war sein ganzer Stolz, er führte sie regelmäßig aus und kaufte die schönsten Stoffe, aus denen Melanie dann wunderschöne Kleidchen nähte. Später würde er diese Zeit, als sehr zufrieden und glücklich bezeichnen. Melanie war eine unkomplizierte Frau und er jung genug, um zu genießen, was das Leben ihm gerade bot.
Ein paar Jahre gingen sorglos ins Land. Er jagte mit Streuner, reparierte was anfiel, spielte mit seiner Tochter und vertrug sich wirklich gut mit Melanie. Wenn sie einmal etwas anderes als das bisschen Stoff kaufen mussten, was aber selten vorkam, Melanie war eine sehr bescheidene Frau, hatte er ja ein Vermögen an Wertsteinen in seinem Besitz. Dann wurde seine Frau krank, der Arzt, der aus Mittelstadt gerufen wurde, diagnostizierte Schwindsucht. Sie siechte vor Dorrans Augen dahin. An Melissas fünftem Geburtstag war Melanie schon sehr schwach. Die Krankheit raffte sie in kürzester Zeit dahin. Und bereits im September war er ein trauernder zweiundzwanzigjähriger Witwer, mit einer kleinen Tochter und einem großen Hund.
Nach dem Winter erinnerte sich Dorran, warum er damals aus Bergdorf weggegangen ist. Er wollte seine Leute, sein Volk suchen. Mit sechzehn war er von Zuhause weggegangen, jetzt war er fast dreiundzwanzig Jahre alt. Er könnte wieder Richtung Norden gehen, aber Melissa war noch zu klein, erst fünfeinhalb. Ein oder zwei Jahre wird er wohl noch warten müssen. Aber Streuner war sechs, in zwei Jahren wird er zu alt sein, um jeden Tag kilometerweit zu marschieren. Eine echte Zwickmühle. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, ein Notar traf ein und beanspruchte das Haus für die Familie des ersten Ehemannes. Er versuchte nicht einmal, sich dagegen zu wehren. Er verlangte zwei Wochen Zeit und traf seine Vorbereitungen.
Dorran kaufte sich ein Pferd und einen geschlossenen Wagen, stattete ihn mit dem Hausrat des kleinen Häuschens aus, setzte seine Tochter hinein und rief nach Streuner. Er sah sich noch einmal um, hier war er glücklich gewesen. Seine Tochter ist in diesem Haus auf die Welt gekommen, seine Frau gestorben. Es fiel ihm dennoch überraschend leicht, wegzugehen. Er war wieder unterwegs, diesmal aber luxuriös mit Pferd und Wagen, nicht mehr zu Fuß. Selbst Streuner fuhr viel Strecken im Wagen mit, er wollte nah bei Melissa sein, die er hingebungsvoll liebte. Das ganze Frühjahr und den Sommer hindurch fuhren sie von Ort zu Ort. Sie hielten in kleinen Ortschaften, Dörfern, auf Bauernhöfen, überall wo es Menschen gab. Dort las Dorran den Leuten Briefe vor und schrieb auch welche für sie. Im Gegenzug erhielten sie Nahrungsmittel, mal eine Decke oder auch abgelegte Kleider für Melissa. Dem Kind gefiel die Reise, sie wirkte immer glücklich und ausgeglichen. Er hatte es sich anstrengender vorgestellt mit einem kleinen Mädchen zu reisen, aber seine Tochter war pflegeleicht.
Im September kamen sie dann in die Hauptstadt von Bergland, Mittelstadt. Die vielen Leute erschreckten ihn und auch Streuner hatte so seine Probleme. Die meiste Zeit blieb er im Wagen und wirkte unglücklich. Sie mussten hier wieder weg. Ende September verließen sie Mittelstadt ohne Bedauern und bewegten sich weiter in nördlicher Richtung. Melissa fand die Stadt furchtbar, so laut und unübersichtlich, ihre kleine Welt bestand aus ihrem Zuhause, dem geschlossenen Wagen, Papa und Streuner. Damit fühlte sie sich wohl. Sie hatte die lange Reise bis jetzt als großes Abenteuer empfunden. Aber Papa wollte irgendwo den Winter verbringen. Er hat gesagt, dann sei es zu kalt zum Reisen. Ihr hätte es nichts ausgemacht, sie fror selten. Da Papa das wusste, konnte es eigentlich nur um Streuner gehen. Sie erinnerte sich, dass er im Winter immer nur hinausgegangen ist, um sein Geschäft zu machen. Aber bevor Streuner frieren würde, wäre sie zu manchen Zugeständnissen bereit. Dennoch war sie froh, als Papa sie wieder auf den Wagen setzte und die Stadt verließ.
In Kirchberg weinte der vierjährige Daniel am Bett seiner Mutter, sie war so kalt und gab ihm keine Antwort, sosehr er sie auch mit dem Finger anstupste, sie rührte sich nicht, was soll er denn nur tun. Es klopfte an der Tür, er rannte fast erleichtert hin, ein Erwachsener wird ihm helfen können. Die alte Nachbarin stand davor, einen Topf mit Suppe in der Hand. Als er ihr erzählte, dass Mama sich nicht mehr rührte, stellte sie den Topf auf den Küchentisch und befahl ihm sich auf einen Stuhl zu setzen. Sie würde nach Mama schauen. Als sie zurückkam, weinte sie ein bisschen, nahm ihn bei der Hand und zog in zur Tür.
„Was ist mit Mama?“ Fragte er.
Die Nachbarin sah ihn mitleidig an. „Sie ist gestorben, mein Kleiner, Du kommst jetzt erst einmal mit zu mir, bis wir wissen, was jetzt aus Dir wird. Ich muss dem Pfarrer Bescheid geben, der wird schon wissen, was zu tun ist.“
Der Pfarrer redete etwas von Familie suchen und Waisenhaus, beides hörte sich für Daniel nicht besonders gut an. Eigentlich wollte er nur zurück zu seiner Mama, aber das geht nicht, sagt die Nachbarin, sie sei tot. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit entwischte er in der nächsten Zeit der alten Frau und trieb sich am Dorfrand oder im Wald herum. Sie mussten ihn erst einmal finden, bevor sie ihn wegbringen konnten.