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Eine Heimat in Kirchberg

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Im Oktober schneite es das erste Mal, nicht viel und nicht lang andauernd, aber der Winter stand vor der Tür, sie brauchten eine feste Unterkunft. Als sie durch Kirchberg kamen, hörte Dorran von einem kleinen Haus mit Garten, das zu vermieten war. Es lag außerhalb des Dorfes, direkt am Waldrand, etwas abgelegen vielleicht, aber ideal für Streuner. Er mietete es bis zum Frühjahr, wobei der Vermieter es ihm auch gerne verkauft hätte, aber dafür war Dorran noch nicht bereit. Sein Ziel war immer noch der Norden, seine Leute.

Melissa spielte fast immer draußen, Papa musste arbeiten, für den Winter, sagte er, da war ihr langweilig im Haus. Sie ging meist zu ihrem Lieblingsplatz im Wald, einem Großen aufrecht stehenden Stein, um den ein kleines Stück Blumenwiese einen freien Platz im Wald schuf. In der zweiten Woche in Kirchberg traf sie Daniel das erste Mal, ihm gefiel es hier auch gut. Also beschlossen die beiden Kinder, sich jeden Tag an diesem Platz zum Spielen zu treffen. Daniels Mama ist genau so gestorben wie ihre eigene, an der Schwindsucht. Was auch immer das für eine Krankheit war, hatte sie doch jedem von ihnen die Mutter geraubt. Weder Melissa noch Daniel erzählten irgendjemanden von ihrem geheimen Treffpunkt, also blieben sie wochenlang ungestört.

Bis Dorran genug Holz und Vorräte zusammen hatte, war es Mitte November. Melissa, für die wenig Zeit blieb im Moment, spielte viel draußen, er musste sie immer wieder ermahnen einen Mantel anzuziehen. Dieses Mädchen fror niemals, war durch und durch gesund. Trotzdem machte er sich Sorgen, war doch ihre Mutter der Schwindsucht erlegen. Melissas Verlust, glaubte er nicht auch noch ertragen zu können. Jetzt da er alles beisammen hatte, nahm er sich fest vor, mehr auf sie zu achten. Durch einen glücklichen Zufall erfuhr er von einem durchreisenden Buchverkäufer und erwarb sämtliche Werke von ihm. Das waren exakt drei Stück, um genau zu sein. Eine Beschreibung des Berglandes, eine Bibel und ein Buch ohne Titel, das Deckblatt fehlte. Er verwahrte sie sorgfältig, um im Winter seiner Tochter Lesen und Schreiben beizubringen. Später an diesem Tag ließ er Melissa im Haus zurück und ging mit Streuner jagen. Der Hund erwischte einige Kaninchen, Dorran erlegte ein Reh mit einem seiner Pfeile. Er schleppte alles nach Hause, um es zu salzen und zu räuchern. Ein wenig von dem Reh würde er für einen Braten verwenden. Ja, er hatte genaue Vorstellungen, aber als er daheim ankam, war Melissa weg.

Streuner war aufgeregt und sprang um ihn herum, wo konnte sie nur sein.

„Wir müssen Melissa suchen, Streuner, Such!“ Der Hund rannte los, geradewegs in den Wald hinein. Dorran hinterher. Nach ein paar Metern sahen sie Melissa schon, sie saß ohne Mantel im Gras und pflückte etwas, und sie war nicht allein. Neben ihr saß ein Junge, etwa in ihrem Alter, der ebenso wie Melissa keinerlei Überkleidung trug. Die beiden unterhielten sich angeregt und schauten erst auf, als Streuner in ihre Mitte sprang. Melissa begrüßte den Hund, der Junge sprang auf und ging ein paar Schritte zurück.

Melissa beruhigte ihn. „Du brauchst keine Angst haben, das ist Streuner, mein Hund. Er tut Dir nichts, Daniel, das erlaube ich nicht.“ Daniel kam wieder näher heran, blieb aber dennoch in einem gewissen Abstand zu Streuner stehen.

Dorran erreichte endlich seine Tochter und ihren neuen Freund. Besorgt und zugleich etwas verstimmt fragte er seine Tochter. „Was hast Du Dir denn dabei gedacht, ohne Mantel hinauszugehen, Melissa. Du könntest Dir den Tod holen, es ist Winter.“

Das Mädchen lächelte ihn süß an. „Ach Papa, ich friere nicht, aber wir können gerne wieder hineingehen, kann Daniel auch mitkommen?“

Seit diesem Tag war Daniel fast täglich in ihrem Haus zu finden. Dorran versuchte herauszufinden, wohin der Junge gehörte, aber der schwieg eisern. Mitte Dezember erschien der Pfarrer von Kirchberg an seiner Haustür. Er wünschte eine Unterredung. Dorran bat ihn herein und erfuhr dann Daniels Geschichte. Sein Vater ein Holzfäller sei im letzten Winter im Wald umgekommen, seine Mutter an der Schwindsucht verstorben und der Junge seitdem Waise. Die Familien im Dorf kümmerten sich natürlich um ihn, aber jeder hatte eigene Kinder, deshalb hätten sie beschlossen, ihn in die Hauptstadt ins Waisenhaus zu bringen. Seither verschwand der Junge immer wieder, und tauchte erst auf, wenn es bereits Abend war, und niemand mehr in die Hauptstadt gehen würde. Dorran betrachtete seine Tochter, die mit Daniel gerade irgendein Spiel spielte. Ein sonderbares Gefühl überkam ihn, das arme Kind hatte niemanden mehr auf dieser Welt. Er hatte den Jungen inzwischen ins Herz geschlossen, schon allein der Gedanke an ein Waisenhaus erschien ihm falsch. Der Pfarrer erwartete wohl eine Antwort von ihm, denn er sah Dorran auffordernd an. Und er gab sie ihm. „Lassen sie ihn hier, ich ziehe ihn mit meiner Tochter zusammen auf. Hat er noch irgendwelche Sachen?“

So kam es, dass Dorran länger in Kirchberg blieb, als er wollte. Daniel und Melissa waren unzertrennlich, sobald der Junge begriffen hatte, dass er hier bleiben kann, öffnete er sein Herz und wurde sehr zutraulich. Der große Streuner wurde allmählich alt, er konnte also sowieso nicht weiterreisen, der Hund lag die meiste Zeit am Kamin und ging nur noch ungern nach draußen. Aber Dorran war erst sechsundzwanzig, er sagte sich, dass er noch jede Menge Zeit hatte, sein Volk zu suchen.

Streuner starb eines Nachts einfach so, er schlief am Abend ein und wachte am Morgen nicht mehr auf. Dorran war untröstlich und beweinte seinen Freund. Sogar Daniel hatte den Hund inzwischen in sein kleines Herz geschlossen und weinte um ihn. Die siebenjährige Melissa jedoch schluchzte herzzerreißend, der fünfjährige Junge umklammerte sie die ganze Zeit, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Der Hund war ihr ganzes Leben über immer da gewesen, jetzt war er fort. Sie begruben ihn im Garten, nicht sehr tief, der Boden war schon gefroren, aber es würde schon gehen. Zur Sicherheit legte Dorran noch einen Hügel aus Steinen darauf.

Der Verlust von Streuner ging Dorran noch lange nach. Die Kinder verarbeiteten es zum Glück besser. Im Januar kam unterdessen der Pfarrer wieder, an der Hand ein kleines Mädchen. Er brachte es nicht fertig, ihn wieder wegzuschicken. Dorran nahm auch die kleine Diana auf. Ihre Mutter war bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben war, ebenso wie das Neugeborene.

Einen Ehemann gab es nicht. Er kümmerte sich um die Kinder und kaufte im Frühling das Haus. Mit drei Kindern im Alter von drei, fünf und sieben Jahren konnte er sowieso nicht fortgehen.

Im Mai traf er dann Henriette, sie hatte einen Besuch gemacht, bei einer Tante. Am Waldrand liefen sie sich, bei einem Spaziergang Henriettes, über den Weg. Sie hielt ihn für verrückt, denn sie hatte erfahren, dass er zwei Dorfkinder bei sich aufgenommen hatte. Und das sagte sie ihm auch. Er war entrüstet. „Meinen Sie, in einem Waisenhaus sind sie besser aufgehoben? Henriette, ich bitte Sie. Hier haben sie es gut, sie sind glücklich.“ Das schien sie einzusehen. Wann immer sie ihre Tante besuchte, schaute sie jetzt auch bei Dorran vorbei. Aber Henriette beachtete die Kinder meist nicht. Dorran befremdete das zwar, aber war verliebt, und sah darüber hinweg.

Als im September der Pfarrer wieder mit einem Kind vor der Tür stand, war gerade Henriette zu Besuch. Das kleine Mädchen war ein gutes Jahr alt und ganz allein auf der Welt. Was hätte Dorran machen sollen, er brachte es nicht übers Herz, es wieder fort zu schicken. Das war auch das Ende seiner kurzen Beziehung zu Henriette. Sie stellte ihn vor die Wahl, noch ein Kind oder sie, Henriette verlor, sein Herz und seinen Respekt.

Jetzt hatte er vier Kinder zu versorgen, an eine Reise war da nicht zu denken. Er war jetzt das dritte Jahr in Kirchberg. Melissa war zehn, Daniel acht, Diana sechs und jetzt die kleine Bella, ein süßes Kind mit goldenen Locken, sie war knapp drei.

Das Zimmer der Kinder wurde zu klein, er zog in den Hauptraum, und überließ sein Zimmer Daniel, den er sowieso bald von den Mädchen trennen musste. Sie machten zusammen sauber, kochten gemeinsam, halfen sich gegenseitig beim Frisieren und Anziehen. Melissa behandelte Bella manchmal wie eine Püppchen und machte ihr immer wieder neue Frisuren. Es ging laut und lustig zu, im Hause Dorran. Abends saß Dorran zufrieden im Wohnzimmer und hörte die Mädchen in ihrem Schlafzimmer kichern. Er war sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, indem er die Kinder aufnahm, sie würden es gut bei ihm haben. Wenn sie alt genug waren, es zu verstehen, würde er ihnen anbieten sie zu adoptieren, damit sie auch vor dem Gesetz eine echte Familie waren.

Melissa und Daniel konnten inzwischen gut Lesen und Schreiben, Diana erst ein paar Worte. Sogar Bella konnte schon einen Buchstaben, das große B ihres Namens. Den Winter über unterrichtete er die Kinder, und las ihnen vor. Das Buch ohne Namen, war eine Sammlung von Geschichten über die Zukunft. Sie lachten oft über die große Vorstellungskraft der Schriftsteller. Einer erzählte von großen Maschinen, die auf Schienen und mit Dampf betrieben, schneller als eine Pferdekutsche waren. Ein anderer machte alle Leute gleich, in seiner Zukunft gab es keine verschiedenen Haarfarben mehr. Wieder ein anderer Autor berichtete von riesigen Ungeheuern im Meer. Sie hatten großen Spaß beim Lesen. Das Buch war auf jeden Fall interessanter als die Bibel und inzwischen sehr zerfleddert.

Dorran

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