Читать книгу Die Stadt der Brillenmacher - Isabella Ben Charrada - Страница 7

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Eines Nachts fand ich Bella in einem Schlafsack, zusammengerollt wie ein krankes Tier. Zwischen Steinbrocken und neben einem kümmerlichen Strauch. Nicht weit von der Stadtmauer der Brillenmacher. Im Niemandsland.

Gehört hatte ich sie nur, weil sie vor dem Einschlafen immer wieder schluchzend und schniefend vor sich hinleierte: "Keiner hört mir zu – ich bin so allein!"

Zuerst erlauschte ich nur schwache Geräuschfetzen, die aber wie Lichtsignale aufblitzten und mich neugierig machten. Dann wurde es immer lauter, als drehe jemand ein Radio auf, und schließlich verstand ich alles ganz deutlich – und wurde wütend.

So ein Quatsch – "Keiner hört mir zu!" – Bella war ja nie zu mir gekommen. Ich wollte ja schon die ganze Zeit nichts anderes als zuhören, bei ihr sein. Wie konnte sie sagen, dass sie allein war! Und ich? Ich bin doch auch noch da!

Aber dann tat Bella mir leid, wie sie so verkrümmt dalag. Ich setzte mich zu ihr, flüsterte ihr ins Ohr: "Komm’ schon, ich bin doch hier. Du bist nicht allein. Erzähl’ mir alles!"

Dachte, nun fängt sie an – aber nein.

Sie wälzte sich hin und her, bis ihr der Reißverschluss des Schlafsacks über die Nase rutschte und prompt war sie in ihren Kinderalbtraum hineingeraten. Fiel von einer Brücke – fiel und fiel – in waberndes Zwielicht, und die Angst vor dem Aufprall presste auf Kehlkopf und Brustkorb.

Schnell zog ich den Schlafsack von ihrem Gesicht und schickte ihr einen Flugtraum. Nun flog sie über weite Landschaften – gemächlich, schwerelos und von Regenbogenvögeln begleitet.

Sie wurde ruhiger, liess das Zähneknirschen, landete an einer Quelle, die in der Sonne glitzerte und streckte sich im weichen Moos aus. Wassertröpfchen sprengten auf ihr Gesicht und dann sah und hörte sie mich – endlich.

Nachdem Bella noch viele Male stotternd und seufzend ein- und ausgeatmet hatte, machte sie den Mund auf, wieder zu, grinste schief und sagte dann: "Da bist du ja wieder!" – – "Als ich kleiner war, bist du immer dagewesen. Und dann habe ich dich verloren. Ich weiß nicht mehr genau, wann.

Als Mutti ihre Brille nicht mehr abnahm – als Vati wegging? Oder später?

Ich weiß nur noch, dass du nicht plötzlich verschwunden bist. Es wurde nur immer schwerer, dich zu hören und zu sehen. Neue, dunkle Bilder funkten dazwischen, löschten deine leuchtenden Farben hie und da aus, überdeckten immer größere Flächen mit Dämmer – eine schummrige Zärtlichkeit, die mich traurig machte. Dann wurde mehr und mehr undurchsichtig, fleckig, dunkelte ein, verdunkelte sich – Finsternis, die wie saugende Brunnenlöcher die Farben verschluckte. Nacht wurde Angst, und Angst wurde zu schwarzen offenen Mündern. Die schnappten: "Sei stille! Sitz nicht so krumm! Setz deine Brille auf! Sonst holt dich … "

Harte Stimmen, ein Zischen und Zubeißen.

Schwere Hände drückten auf mir, Ira.

Ich rannte und hetzte fort – Bewegung ließ alles als Hintergrund zurück.

Aber ein riesiger Schatten warf sich auf meinen Rücken.

Wieder und wieder kam ich zur Brücke, fühlte das Fallen, dem Aufprall nahe, Angst – Panik – nie Erlösung.

Ohne zu wissen, wie ich mein Gleichgewicht verloren hatte.

So fasse ich das heute in Worte ein – aber damals?

Nein, früher hatte ich keine Worte dafür.

Waren es Unterwasserklänge oder lautlose Bilder hinter geschlossenen Augenlidern, Kehlezuschnüren oder Zerren und Mitgerissenwerden?

Die, die ich einmal war, ist irgendwo dahinten – eingesperrt – Türen – Türen – große rostige Vorhängeschlösser. Wenn eine Tür endlich aufgerüttelt ist, wieder nur ein lichtloser Raum und ein neuer Türblock. Dumpf. Geschrumpft. Ich kann es nicht mit Worten greifen."

"Lass nur, Bella. Später einmal werden wir Türen und Fenster aufreißen – Licht und Farben in diese Räume hereineinlassen. Du wirst eine neue Sprache lernen – Bilderhören und Tönesehen. Lass nur alles heraus, wie es kommt. Ich bin kein Deutschlehrer – Worte sind für mich nur Spiegelscherben, Passepartout und Wolkenflitzer. – Erzähl weiter!"

"Rück’ ein bisschen ran, dann wird mir gemütlich.

Es ist schön hier. Grün – diamantweiß, warm. Zurückgehen ist für mich Totentanz."

"Nein Bella, eher Gräberausheben und Begraben. Loskommen und Loslassen, Annehmen und in den Arm nehmen. Freischaufeln. Eine Reise zu dir."

"Gut, dass du mich daran erinnerst. Ich habe immer noch den Blick durch meine dunkle Brille. Meine Augen haben sich noch nicht umgewöhnt – Brillenrand und – tönung sind noch als Nachbild in meinem Hirn. Obwohl ich gestern Abend dieses elende Gestell zertrampelt habe! Weggelaufen bin aus der Stadt der Brillenmacher! Und …"

"Langsam, langsam, Bella! Alte Oma ist kein D-Zug!"

"Ich lache ja!?

D-Zug – den gibt’s nicht mehr. Aber Tante Hedi, die Äppeltante, sagte das immer zu mir. Wenn ich an ihrem Rock zog, damit sie schnell mitkommt. "Bitte! Jetzt gleich!!" Ich wollte mein Staunen mit ihr teilen, es noch größer machen. Schob sie endlich ihr rechtes Bein vor, hörte ich den D-Zug dampfen und vorwärtsstampfen. Das passte zu meiner Vorfreude.

Freude – Worüber habe ich mich gefreut??

Wenn mir jemand zuhörte, mitkam, mit mir teilen wollte, Zeit für mich hatte, mir Geschichten erzählte und das Um-mich-herum erklärte. Schon immer hatte ich so viel zu erzählen, und so oft schnitt man mir die Worte durch. Ich fragte so gern – das war wie Anschleichen. Aber schnell hieß es wieder: SEI STILLE!

Reden wie ein Herantasten, Wärme suchen, nicht mehr allein.

Zuhören wie Staunen und Verzauberung und wer sein.

Ach, Ira, du sagst das so einfach: "Lass alles heraus!"

Ich muss zuerst einmal dieses "SEI STILLE" loswerden.

Hin und her, runter und tiefer, höher und treibend sind die Teilchen in meinem Kopf, kaleidoskopgeschüttelt."

"Bella, du hockst da wie auf einem Ameisenhaufen, drückst die armen Viecher platt und wunderst dich, dass sie dir in den Allerwertesten zwicken! – Fang doch am Anfang an! – Nein, nicht der Ordnung halber. Ich weiß doch, da fällt dir nur deine Mutter und ihr "Ordnung ist das halbe Leben" ein. – Weil’s einfacher ist, deshalb – ein Konzentrationspunkt, nichts weiter. Ja?"

"Na gut, aber was weiß ich schon über diesen Anfang?"

"Bella! Entweder willst du nun erzählen oder nicht!"

Schweigen. Bella war beleidigt. Sie wollte, dass ich über ihre Gehirnblähungen mitjammere. Aber nicht mit mir! Ich puste lieber den heißen Brei kalt, statt drumherum zu schleichen. Aber Bella?

Bella wollte zwar reden, aber doch nur darüber, dass sie nicht erzählen – nicht leben konnte. So ging das aber nicht!

Ich musste nachdenken und um Zeit zu gewinnen, bat ich unseren Traumjoker, sich um Bella zu kümmern. Er kam auch gleich angehüpft und verwickelte sie in allerlei Rau. Ich schaute noch einmal auf ihr Gesicht: die Augäpfel rollten unter den geschlossenen Lidern und so wusste ich: Bella hatte erstmal zu tun.

Die Stadt der Brillenmacher

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