Читать книгу Die Stadt der Brillenmacher - Isabella Ben Charrada - Страница 8
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Ich setzte mich ein Stück abseits in eine kleine Mulde, den Rücken gegen einen Stein. "Nur Bella kann mir alles erklären", kam mir in den Sinn. Also schlüpfte ich in Bellas Kopf, um ihren letzten Tag in der Stadt der Brillenmacher zu erleben.
"Erleben?" fragen Sie. "Ja!
Ich kann nicht nur zuhören, ich kann auch gleichzeitig all die Bilder in Bellas Kopf sehen und mich hineinfühlen. Jetzt, wo Bella nicht mehr in der Stadt ist.
Für euch Tagländer ist das Gehirn ja nur Schalt- und Steuerzentrale – Nervenzellen, die alle Eindrücke weiterleiten, koordinieren, lagern oder tatkräftig machen, wie mir unser Taglandkorrespondent erklärte.
Für uns aber ist es eher wie ein langer Gang mit unzähligen Türen. Hinter jeder eine gelebte Stunde oder auch nur ein paar Sekunden. Wenn ich eine Tür öffne, so bin ich mittendrin, sehe, rieche, höre und fühle mit.
Nun war ich also in der Stadt.
Wie sich alles verändert hatte seit meinem letzten Besuch!
War es schon so lange her?
Ja, es mussten viele Jahre vergangen sein.
Seitdem die Tagländer ihre Häuser und Stadtmauern mit Vernunftschirmen bestückt hatten, konnten wir nur noch in ihr Land, wenn wir gerufen wurden.
Aber wer rief uns schon?
Kinder, viele Alte, sogenannte Kopflose, einige Aufmucker. Und die hatten es schon schwer mit dem Rufen, bei all den Ratioapparaten.
Ab und an gelang uns eine List, denn so Mancher, der uns studierte oder klassifizierte, wurde von unserem Joker beschwatzt und ließ uns heimlich ein.
Vieles wusste ich nur vom Hören-Sagen.
Bella hatte mich so lange nicht mehr gerufen.
Ich wollte Bellas letzten Tag nicht nur erleben, sondern auch verstehen – aber wie sollte ich verstehen, wenn ich ihre Stadt kaum kannte! Beim letzten Besuch bei Bella war sie noch sehr klein, wusste wenig über ihre Umwelt. Wie konnte ich daran anknüpfen? Ach ja, unser Korrespondent fiel mir ein.
Mit einem Gedankenblitz schaltete ich mich zu ihm. Er war grad’ im Traum eines Studenten von der Universität „Überblick". Ich grinste in mich hinein, denn der Studiosus würde gleich eine kleine Stadtrundfahrt machen.
Fliro, unser Korrespondent, begann auch sofort: "Diese Stadt liegt am Strom Blee, 180 km vom Nordmeer und wird von einem kleinen Flüsschen, der Strela, durchquert, die sich hier- und dorthin verzweigt, in der Innenstadt zu einem großen und einem kleinen Becken aufgestaut ist und den Stadtpark säumt, bevor sie die Stadt verlässt.
Im Mittelalter entstand die Stadt um eine Burg herum, die durch eine Mauer befestigt war. Nach und nach wurden die umliegenden Dörfer von der Stadt eingemeindet, die Stadtmauer erweitert und um die Neuerwerbungen gezogen.
Aber komm, das schauen wir uns mal von oben an, Vorträge sind immer so langweilig", sagte Fliro und schon waren wir hoch über der Stadt, die mit dem Zick und Zack ihrer Mauer wie ein riesiger Stofffetzen mit ausgestanzten Rändern aussah.
Ich blickte auf die fünf Stadttore hinunter – eins zum Hafen, eins zur Autobahn nach Norden, eins nach Süden, eins nach Westen und eins nach Osten, und die Strassen schlängelten sich zur Stadt hinaus wie Krakenarme.
Die Mauer: ein Flickwerk – alte restaurierte Teile, lange Strecken Betonwall, aber mit Mosaiken und Mauergemälden, hie und da eine Statue und über allen Toren riesige Brillen mit goldenen Gläsern und nicht zu vergessen, überall, wie schwarze Warzen, die Vernunftschirme.
"Jedes Tor wird streng bewacht", hörte ich nun Fliro wieder, "man kommt nur mit Ausweisen hinein oder hinaus. Wenn Brillenlose in die Stadt wollen, werden sie gründlich kontrolliert. Es heißt, sie haben eine Augenkrankheit – nicht so wie die Blinden – nein, viel schwerwiegender. Sie müssen den Nachweis erbringen, dass sie nicht ansteckend sind und brauchen eine Sonderaufenthaltsgenehmigung, die selten gewährt wird. Im Zweifelsfall bringt man sie ins "Ausblickkrankenhaus auf die Quarantänestation oder weist sie ab."
Ich schaute wieder hinunter, sah all die Autos, Schiffe, Fahrräder, Busse, Bahnen und Menschen, ein Pulsieren, so dass mir fast schwindelig wurde.
Nord- und Hafentor waren ganz modern, in Glas und Stahl, die Tore selbst in Eisen mit Kupferbeschlägen.
"Jedes Tor wird von 10 Torhütern bewacht", meinte Fliro, " aber die Hauptarbeit machen die Computer. Niemand muss mehr die Tore eigenhändig öffnen oder schließen. Pünktlich um 6 Uhr früh sirrt es und die Tore schwingen auf und um 2 Uhr nachts wieder zu. Auch das Alarmsystem und alle Vernunftschirme werden vom Zentralcomputer "Schauklar XZ4" gesteuert."
Nicht weit vom Westtor sah ich die Hafenanlage: Lagerschuppen, bunte Kästen aufgestapelter Container, Kräne und Laufkatzen, Docks, Werften, moderne und ein paar Häuserzeilen alter Bürogebäude, Hafenbecken, Kaimauern, Brücken, Fähren, Schlepper, Schuten, Dampfer und Ozeanriesen im milchkaffeetrüben Wasser.
Als hätte jemand Bauklötzer ausgeschüttet – so sah alles von oben aus – und würde nun mit unsichtbaren Händen darin rumfuhrwerken.
Dort, wo die Stadtmauer einige Zickzacks aus Beton machte, neue Stadtviertel: Fabrikschlote und Rieseneier, dicke Türme – von Raffinerien und dem Gaswerk – graugeklotzt, qualmig – nah am Hafen. Weiter zum Süden hin das große Elektrizitätswerk – Drähtegewirr und Hochspannungsmasten, Riesenstecknadeln in verknäulten Fäden.
Zwischen Nord- und Osttor der Sender für Radio und Fernsehen mit seinen weißroten Antennen und dem Funkturm, der einen Lichtfinger über die Stadt kreisen ließ. Alles so fein und dünn wie Mikadostäbe.
Der Flughafen im Osten: Flugfelder im Schachbrettmuster, eine riesige Schachtel mit viel Glas – das Flughafengebäude und der Abfertigungsturm wie ein umgestülpter Zauberhut, aber nicht so schön bunt und mit Sternen, nein, auch Grau und Glas. Busse und kleine Wägelchen flitzten hin und her, Flugzeuge wurden aufgetankt, eines war gerade angekommen und Reisende schoben sich die Gangway hinunter. Da wurde beladen und entladen, Stewardessen in blau und gelb fuchtelten mit den Armen und winkten Passagiere heran. Eine Maschine hob ab, zog einen Bogen in den verhangenen Himmel und verschwand in den Wolken.
In diesen Randbezirken sah ich aber auch Wohngegenden: Ansammlungen von Hochhäusern – Kantklötze, kleinere und größere, kaum Bäume, Sträucher oder Rasen. "Grünanlagen nehmen zu viel Platz weg", fiel mir Fliro in meine Beobachtungen. "Dafür sind die Häuser mit psychologisch fein abgestimmten Brillenfarben getüncht, damit ihre Bewohner nicht trübsinnig werden. Und die Attraktion: alle zuasphaltierten Straßen, Wege und Pfade sind mit Fluorantrazit beschichtet und leuchten "sternig" in der Dunkelheit. – Schlafsilos werden diese Häuser auch von manchen genannt, weil tagsüber alles in die Stadt zur Arbeit strömt. Übrig bleiben ein paar Alte, Kranke, Hausfrauen, Kinder, Arbeitslose und die Aufmucker, die nicht zur Arbeit wollen – hocken da im Beton und werden ganz dumpf im Kopf oder randalieren, bekritzeln Wände und reißen Telefonhörer aus den Kabinen. Aber grad’ von hier rufen uns immer mehr Tagländer."
Es gab auch Stadtviertel, wo es grün und bunt von Blumen leuchtete, nicht nur aus dem Stadtpark.
Nahe am Nordtor, wo eine frische Brise vom Strom Blee herüberwehte, die Residenz der Brillenmacher und der reichen Kaufleute – vornehm wie eine alte Gräfin mit ihrem Edelsteinschmuck: Villen, gepflegte Gärten, Parks, Glitzern von Teichen und die von wiegenden Trauerweiden eingefassten Seitenarme der Strela.
Aber nicht weit von solcher Pracht Mietshäuser mit nässefleckigen Brandmauern, an denen Reklametafeln für Waschpulver oder neuartige Brillengestelle hingen. Ein trostloses Einerlei, nur die Strassen waren oft von alten Kastanienbäumen flankiert. Dazwischen ein altmodisches Gebäudeviereck. "Die Blick-nach-vorn-Kaserne", ließ sich Fliro wieder hören. "Alles arme ratiogeschüttelte Soldaten dort, die nur eines lernen: gehorchen und wie man am besten Menschen umbringt oder in Angst und Schrecken versetzt. Sollen die Stadt verteidigen – gegen Brillenlose und anderes "Gezücht" – obwohl die ja auch Tagländer sind. Aber ein Tagländer ist des anderen Feind – oder besser gesagt, eine Horde – hier die der Brillenmacher – der anderen Horde. Die Soldaten müssen auch dafür sorgen, zusammen mit der Polizei, dass keinem einfällt, seine Brille abzusetzen oder sich zusammenzurotten, mit den Nacktäugern zum Beispiel. Die Nacktäuger behaupten nämlich, man könne ohne Brille besser sehen und die Brillenmacher wollten nur durch den Zwang zum Brillentragen die Leute blind machen, ihnen das Geld aus der Tasche ziehen und das Kastensystem aufrechterhalten, wo viele arm und nur wenige reich sind, würden lügen, wenn sie die Stadt die der Brillenmacher nennen, wo doch die meisten Bewohner keine Brillenmacher, sondern nur einfache Brillenträger sind. Man sagt den Nacktäugern – die nur so heißen, aber doch ihre Brillen tragen, denn sonst säßen sie schon längst im Gefängnis – "Geht doch zu den Blinden oder Brillenlosen!" Aber sie haben ihre Anhänger, vor allem unter den Jugendlichen und deshalb wird jedem Soldaten und Polizisten eingeschärft: "Keine Gnade für Nacktäuger!"
Da drüben, in der Innenstadt, am großen Becken der Strela, steht das Polizeihochhaus "Scharfblick" – das höchste der Stadt mit seinen 35 Stockwerken und dem Zentralcomputer. Die Polizei hat in jedem Stadtteil mehrere Wachen und regelt alles, vom Verkehr in den Straßen bis zum kleinsten Verstoß gegen die Brillenmachergesetze. Immer auf der Lauer, eine dicke Spinne in ihrem Netz. Ich kann die Polizisten und Soldaten nur an ihren verschiedenen Uniformen unterscheiden. Es ist so schwer, in deren Köpfe zu kommen und Genaueres zu erfahren. Sie sind alle so schrecklich vernünftig", klagte Fliro.
Ich lugte zu dem hohen Block hinüber: verspiegelte Fensterfronten, damit man nicht hineinschauen konnte, Antennen auf dem Dach und ein Hubschrauberlandeplatz, unten schossen sirenenheulend und mit kaltblauem Aufblinken Polizeiautos aus den Tiefgaragen, und in einen Mannschaftsbus stiegen mit Helmen, Knüppeln und Schilden Bewaffnete ein. Ob die wohl gegen die Nacktäuger ausrückten?
So viele Häuser: Warenhäuser, an deren Fassaden Neonreklamen morsten, Bürohäuser, moderne, wieder in Stahl, Beton und Glas, aber auch ältere, mit verzierten Fassaden, gediegen – Schulgebäude, alte, düstere mit Höfen voller breitkroniger Bäume oder moderne Flachbauten mit asphaltierten Schulhöfen, ein paar Bäumen und Bänken. Sportplätze mit schwärzlichen Aschenbahnen, Fußballtoren oder lösrote Flächen, wo Weißgekleidete Tennis spielten. Hallen – Schwimmhallen, Turnhallen, Konzerthallen, Messehallen, eine glasgedeckte Markthalle in der Nähe des Bahnhofs. Krankenhäuser, auf deren Grünflächen Menschen in Bademänteln vorsichtig auf und ab gingen, ein Hinein und Hinaus von Krankenwagen und Tragen mit eingewickelten Gestalten wurden hastig vorwärtsgeschoben. Irrenhäuser, deren Bewohner keine Brillen tragen wollten und schrille Schreie ausstießen oder nur stumm vor sich hinstierten. Altenheime, vor denen Rentner auf Bänken saßen oder auf einen Stock gestützt über Kieswege schlurrten.
"In den Krankenhäusern werden die Bebrillten geboren – ohne Brille, natürlich", meldete sich Frilo, "man klopft ihnen auf den Rücken, damit sie ordentlich schreien, wiegt und misst sie, untersucht sie und windelt sie ein, schnell weg von der warmen Haut ihrer Mütter, auf eine Babystation, wo die Armen dann jämmerlich weinen. Alles wie am Fließband zwischen blitzenden Gerätschaften und allerlei Computern und Apparaten. Es werden Karteikarten von ihnen angelegt, sie werden gemeldet bei den Ämtern und alles wird vom Zentralcomputer gespeichert. Dann bleiben sie ein paar Jahre bei ihren Müttern oder kommen in eine Babykrippe, wenn die Mütter arbeiten müssen oder ins Waisenhaus, wenn sie keine Mütter haben. In dieser Zeit werden sie zum Brillentragen dressiert, zum Sprechen, Saubersein, Dankesagen und vor allem zum Gehorchen, wie bei den Soldaten. Dann geht’s in den Kindergarten, wo sie von Mitkindern und Kindergärtnerinnen weiter dressiert werden. Aber, wenn du meinst, das sei ein richtiger Garten für die Kinder – nein, schau bloß mal runter: wenig Grün vor diesen Häusern, ein paar armselige Spielgeräte und immer ein Zaun drumherum. Oder sie müssen in Reih und Glied spazieren gehen. Aber die Gärtner, da drüben, nahe am Westtor, hinter dem Friedhof, die pflanzen ja auch alles in Reih und Glied, da passt der Name Kindergarten wohl doch.
Weiter in die Schulen mit ihnen, wo ihnen beigebracht wird, wie ein Bebrillter zu sein hat. Auch über die stolze Geschichte der Brillenmacher lernen sie Daten: Kriege, Eroberungen und Gesetze; sie lernen Wissenschaften, Künste, Sport, fremde Sprachen (damit sie andere Tagländer verstehen und bespitzeln oder mit ihnen Handel treiben können, was fast aufs gleiche rausläuft). Sie werden regelmäßig untersucht, geprüft und eingeordnet. Manche kommen auf Sonderschulen, weil sie schwer dressierbar sind und keine Brillen mögen, trotz aller Anstrengungen der Eltern und Lehrer. Vielleicht sind sie auch krank oder mit einem Körperfehler zur Welt gekommen und passen deshalb nicht in die normalen Schulen.
Es gibt Volks-, Sonder-, Mittel- und Oberschulen. Da wird aussortiert und meist sind es die Kinder reicherer Eltern, die ihre Abschlussprüfung auf der Oberschule machen und dann zur Universität gehen.
Aus den Kindern werden Heranwachsende und die müssen sich dann ans Geldverdienen machen.
Eine Pyramide von Berufen und Tätigkeiten erwartet sie.
Ganz oben die Reichsten, die Brillenmacher. Dann die Kaufleute mit ihren fetten Bankkonten, die Reeder und Besitzer von Fabriken (wobei die Brillenmacher auch oft Besitzer von allerlei sind, was Geld einbringt), Eigentümer von Warenhäusern, Mietshäusern und noch vielem mehr. Ihr Geld legen sie bei den Banken an und deren Direktoren stehen auch ganz oben. Oder sie spekulieren damit an der Börse, gewinnträchtig, denn sie kennen sich aus oder kennen Leute, die ihnen gute Tipps geben können. Oder sie investieren: kaufen Neues, erweitern, treiben Handel über die Stadt hinaus.
Ganz unten die Arbeitslosen, die Ungelernten, die Alten, die in ihrem Leben auch schon unten oder vielleicht in der unteren Mitte waren und keine große Rente beziehen oder solche, die durch Spekulationen und Betrug, auf den sie hereingefallen waren, arm geworden sind. Die Irren, die Arbeitsunfähigen oder die, die keine Arbeit finden, die Mißgeborenen, die Blinden und Invaliden, auch viele Frauen, die ihre Kinder allein aufziehen müssen – all die – und so zahlreich sind sie – werden gedrückt und hinuntergepreßt in einen Sumpf, der sie Stück um Stück eingesaugt.
Die Arbeiter sind am oberen Rand dieser Basis, manche steigen auf zur Mitte, manche fallen hinab. Müssen in den Fabriken, Werften und anderswo die Dreckarbeit machen, alles Monotone, werden wie Menschenmaschinen gehandelt.
In der Mitte die kleinen Geschäfte, kleinen Gewerbetreibenden, Angestellten der Büros, die Fabriken und Geschäfte, alle, die Dienstleistungen erbringen in den vielen verschiedenen Einrichtungen und die mittleren Beamten der Stadtverwaltung. Darüber die höheren Angestellten, die höheren Beamten, dann Freischaffende, Ärzte, manche Künstler (die in Mode sind, andere kannst du auch ganz unten finden), gutbezahlte Journalisten, die den Ruhm der Brillenmacher zu pflegen wissen in Wort und Bild, Professoren und allerlei andere Spitzenverdiener.
Dann gibt es noch Gauner, kleine oder große Betrüger, Zuhälter und Verbrecherbosse, die viel Zaster und manchmal auch viel Macht haben, sich aber lieber unauffällig im Hintergrund halten und von dort aus ihre Machenschaften dirigieren.
In dieser Pyramide ist ein Gewimmel – der reinste Bienenstock. Es geht auf und ab wie in einem Paternoster, aber oben und ganz, ganz unten verändert sich nur wenig.
Vorbei die Kindheit. Keine Zeit mehr, in Muße zu leben, zu spielen, Streiche auszuhecken, vor sich hinzuträumen, im Zoo fremde Tiere zu bestaunen, ohne sich auch nur eine Minute zu langweilen, weil jeder Tag noch wie ein Wunder ist. Nun stehen sie da, diese Jugendlichen – oder besser gesagt, schwimmen in einem großen Kübel, werden über diese Pyramide ausgeschüttet und bleiben irgendwo hängen oder finden und finden keinen Platz. Die Eltern schieben und stoßen, drängeln und quetschen.
Mancher schafft es, das zu werden, was er möchte. Die meisten nicht. Viele werden das, was ihre Eltern von ihnen erwarten. Die Kinder von Reichen bekommen die guten Plätze, die anderen müssen eben sehen, wo sie bleiben, schließlich heißt es: "Bei uns kann jeder Brillenmacher werden!" – Was glatt gelogen ist.
Ein Hasten und Eilen, Gedrücktwerden oder Drücken durch den langen Gang der Jahre. Sie heiraten auf den Ämtern, bekommen Kinder in den Krankenhäusern oder liegen selbst dort, wenn ihr Körper streikt. Wählen ihren Oberbrillenmacher und seine Beisitzer und das Parlament aus Nicht-Brillenmachern, das sich in verschiedene Parteien aufteilt, die mit ihren unterschiedlichen Strategien und Meinungen, meist Vorurteilen, das Stadtvolk repräsentieren sollen. Da herrscht ein Gestreite und Geschreie – aber es läuft doch darauf hinaus, dass die Brillenmacher das Sagen haben.
Sie gehen in Kirchen oder Wirtshäuser, die Männer zu den Frauen im Vergnügungsviertel, die Frauen zu Ärzten oder Pfarrern. Reisen vom Bahnhof oder Flugplatz ab, aus Geschäftsgründen oder in den Urlaub oder auf Nimmerwiedersehen (was selten vorkommt). Sie fahren mit der U-Bahn von der Arbeit nach Haus’, von zuhause zur Arbeit und samstags mal zum Großeinkauf in die Stadt oder sonntags zum Ausflug in den Hafen.
Werden sie alt, ab in die Altenheime oder auf spezielle Krankenstationen – bis auf die Wenigen, die sich Besseres leisten können.
Werden sie unglücklich und kein Seelendoktor kann mehr helfen und sie reißen vielleicht sogar ihre Brillen runter, bleibt nur noch das Irrenhaus – weggeschlossen – ins Schauhaus.
Wollen sie nicht mehr oder können sie nicht mehr, sieht man sie als Pennbrüder und Pennschwestern herumschleichen. Oder sie werden Trinker oder Drogensüchtige, um nichts mehr sehen zu müssen und landen auch auf irgendwelchen Endstationen. Manche bringen sich auch um, weil sie keinen Ausweg mehr finden.
Werden sie Aufmucker, macht man ihnen das Leben schwer oder verschließt sie ins Gefängnis.
Zum Schluβ bleibt ihnen – je nach Kontostand des Verstorbenen oder seiner Familie – ein großes oder kleines Plätzchen auf dem Friedhof mit einem Marmorstein, auf dem ihr Name eingemeißelt ist, Geburts- und Todesdatum und oft ein sentimentaler Spruch aus ihren Kirchenbüchern.
Zu Lebzeiten redeten ununterbrochen Stimmen auf sie ein, was sie zu tun hätten. Aus den Pressehäusern die Zeitungsstimmen, aus den Funkhäusern die Unterhaltungs- und Politikerstimmen, aus dem Rathaus die "Du-sollst"-Stimme, aus den Kirchen Brillenmacher-Gottes Stimme. Aus den Bars des Weingeists Stimme, den Warenhäusern die "das-musst-du-haben"-Stimme, an den Arbeitsplätzen die "Tu das und nichts anderes"-Stimme, hinter den Bankschaltern die "Mehr-mehr"-Stimme, von ihren Eltern die "Fall bloss nicht auf"-Stimme und aus ihrer Wohnung die "Weiter hoch"-Stimme.
Ob sie wohl nun im Grabe endlich Frieden finden?
Fliros Bericht machte mir ganz schwarz vor Augen, aber ich dachte mit traumländischer Zärtlichkeit: ja, die Tagländer müssen ihre Träume wiederfinden, sonst ersticken sie noch an ihrer so gelobten Vernunft.
Ich schaute noch einmal auf die Stadt hinunter, ihr Muster aus grünen und bunten, steingrauen und schmutzigbraunen Flächen, den silbrig glitzernden Bändern der Strela, die feuchten Augen der Teiche und Becken, dem Punktegeschüttel von fahrenden Autos, Menschen, Lichtern, der Farbgirlande des Vergnüngungsviertels am Hafen, wo die Frauen zur Ware wurden, dem protzigen Blick-auf-Rathaus, schräg gegenüber vom Kontrollzentrum-Polizeihochhaus – nur durch ein paar Häuserblocks und Straßen getrennt – dem Bahnhof, ein Stück weiter und der Hauptpost mit ihrem Bauch voller Telegramme, Geschäftsbriefe, Grußkarten, Mitteilungen, Heirats- und Todesanzeigen, Liebesbriefe und Abschiedsbriefe und es blubberte darin von den vielen Telefonanrufen. Ich sah zum Zoo am Südtor hinüber mit seiner künstlichen Landschaft und den vielen Tieren in Käfigen, nicht anders als die Menschen in ihren Häusern.
Das Netzwerk der Straßen: Alleen, Prachtstraßen, Ringstraßen, Durchgangsstraßen, Chausseen, Spielwege, Geschäftsstraßen, Sackgassen; die dicke Ader der Hauptstraße, Nebenstraßen, Querstraßen, Gässchen, Zugangswege; miteinander verknotet durch große und kleine, runde oder viereckige Plätze. Die Nord-, Süd-, Ost- und Westautobahn mit wuchtigen Alleebäumen wies hinaus aus den Mauern. Der Hafen, die Blee und bis an die Nordautobahn das feine Viertel der Brillenmacher. Aber auf der anderen Seite der Nordautobahn, rundherum um die Stadt, bis zur Westautobahn, begrenzt von dem Grüngürtel dieser beiden Straßen und durchschnitten vom Grünstreifen entlang der Ost- und Südautobahn: um die Stadtmauer ein schmales Rund von Geröll und Steinhaufen, dann Niemandsland und danach eine endlos erscheinende Breite Abfall. Der Ring der Müllhalde – mit Bergen und Schluchten zerfetzter, verbeulter, vermoderter Dinge, aber auch Stummfilmszenerien wie in den Schaukästen der Museen: da ein halbes Wohnzimmer, dort ein Stück von einem Krankenzimmer. Papierreste wehten hoch, Möwen pickten in diesem Geschütter und flogen gellend wieder auf, Ratten wühlten im Brei von Unkenntlichem, ab und an ein Mensch, wie verloren in einem Albtraum, stolpernd und taumelnd. Fern am Horizont der mächtige Drahtzaun und nicht weit von der Straße nach Süden ein hohes Tor darin. Große Lastwagen der städtischen Müllabfuhr zogen an einem anderen Tor, fast gegenüber, aber in der Stadtmauer, ein und aus, fuhren auf Rampen in diese Schutt- und Schrottlandschaft, luden dampfende Ströme aus, schütteten neue Berge auf. Ich roch hochziehenden Gestank, hörte schleifendes Aufklatschen und metallisches Scheppern.
über der Stadt hing eine gelbgraue Dunstglocke. Ein ätzender Geruch hier oben und ich telepathierte Fliro: "Genug, genug! Ich kann nicht mehr!"