Читать книгу Gefunden! Ein Traumprinz für Jessica - Isabella Defano - Страница 6
3. Kapitel
ОглавлениеAls Jessica sich am nächsten Morgen auf den Weg zur Farm der Familie de Luca machte, überkamen sie erneut Zweifel. Soll ich den Job wirklich annehmen? Gut, sie würde auf diese Weise etwas Geld verdienen und hätte eine kostenlose Unterkunft, aber ehrlich gesagt verstand sie überhaupt nichts von Landwirtschaft. Sie war in der Stadt aufgewachsen. Was wusste sie also von Farmarbeit? Trotzdem hatte sie kaum eine Alternative. Der gestrige Besuch in dem Hotel hatte fast ihre gesamten Ersparnisse aufgebraucht. Selbst wenn sie wollte, hätte sie nicht mehr genügend Geld für eine Fahrkarte zurück nach Deutschland. Somit musste sie wohl oder übel erst einmal diesen Job annehmen und hoffen, dass man im Jugendamt schnell Informationen zu ihrer Mutter fand.
Bereits am frühen Morgen war Jessica wieder zum Jugendamt gefahren. Immerhin hatte sie versprochen, sie würde ihre Adresse dalassen, damit man mit ihr Kontakt aufnehmen konnte, sobald die Unterlagen auftauchten. Leider hatte Frau Gerber noch keine neuen Informationen. Bisher waren die Papiere nicht gefunden worden und so musste Jessica enttäuscht wieder gehen. Wer weiß, wenn sie gewusst hätte, wie anstrengend die Suche werden würde, ob sie sich dann wirklich auf den Weg nach Österreich gemacht hätte.
Als der Busfahrer als nächsten Halt die Farm der de Lucas ankündigte, fand Jessica in die Gegenwart zurück. Völlig erstarrt schaute sie aus dem Fenster. Sie hatte mit einer kleinen Farm gerechnet, so wie man sie im Fernsehen sah, doch dieses Haus war wie ein Palast. Das Herrenhaus bestand aus einem zweistöckigen Gebäude mit weißen Hauswänden und einem roten Ziegeldach. Zusätzlich befand sich auf der rechten Seite ein überdachter Balkon, der rundherum mit Glaswänden ausgestattet war. Vor dem Hauptgebäude lag ein schöner großer Garten mit Bäumen, Blumen und einer kleinen Ackerfläche. Lediglich das Chaos auf dem Rasen zerstörte das harmonische Bild, denn überall lagen Kartons und Einzelteile herum. Scheinbar wurde dort gerade etwas aufgebaut.
Als der Bus kurz darauf anhielt, stieg Jessica aus und ging langsam in Richtung des Torbogens, welcher direkt vor ihr lag. Kaum war sie durch den Bogen gegangen, konnte sie erneut ihren Augen nicht trauen. Das Haupthaus, welches sie schon von der Straße aus bewundern konnte, war ringsherum mit einem Zaun vom Rest des Grundstückes abgetrennt. Denn mit dem Herrenhaus und dem eingezäunten Garten war das Grundstück noch nicht zu Ende. Stattdessen befand sich auf der linken Seite eine große Grünfläche, die gerade von einigen Kindern zum Spielen genutzt wurde. Dazwischen war ein langer Weg, der immer weiter geradeaus führte. In der Ferne konnte Jessica einige Gebäude sowie große Hallen sehen und eine riesige Ackerfläche, wo gerade einige Leute arbeiteten.
Fassungslos und etwas geschockt sah sich Jessica um. Wo sollte sie jetzt hingehen? Es gab nirgendwo ein Schild und sie wusste nicht, wo sie diesen Verwalter finden konnte. Sie fragte sich, ob sie wohl eines der Kinder nach dem Weg fragen sollte. Aber sie waren gerade so in ihr Spiel vertieft, dass Jessica nicht stören wollte. Aus diesem Grund machte sie sich allein auf den Weg und ging immer weiter in das Grundstückinnere hinein. Dabei schaute sie sich regelmäßig um, in der Hoffnung, einen Erwachsenen zu treffen.
Voll beladen verließ Christian den Materialschuppen und ging zurück zum Haus seiner Eltern. Da er keine Lust verspürte, ständig hin und her zu laufen, hatte er gleich so viele Holzstücke wie möglich mitgenommen. Zwar konnte er dadurch nicht mehr sehen, wohin er lief, doch die Strecke zu seinem Elternhaus kannte er im Schlaf.
Gerade als er in den Weg zum Haus seiner Eltern einbiegen wollte, lief plötzlich jemand in ihn hinein.
„Verdammt!“, schimpfte Christian, als er sich plötzlich auf dem Boden liegend wiederfand. „Kannst du nicht aufpassen?“
„Es tut mir leid! Ich habe Sie einfach nicht gesehen.“
Fassungslos schaute Jessica auf den jungen Mann, den sie gerade umgestoßen hatte. Sie hätte besser aufpassen müssen und sich nicht ablenken lassen dürfen.
Kaum hatte sie sich entschuldigt, sah der Mann auf einmal zu ihr hoch. Kurze Zeit später stand er schnell auf und schaute sie fragend an.
„Wer sind Sie? Ich hab Sie hier noch nie gesehen.“
Noch immer beschämt von ihrer Ungeschicklichkeit, musste Jessica erst ein paar Mal tief durchatmen, bevor sie ihm antworten konnte.
„Mein Name ist Jessica Neumann. Ich bin hier wegen einer Stelle. Ich habe in der Stadt Frau Philipps getroffen. Diese hat mir erzählt, hier würde man Aushilfskräfte suchen. Naja, und ich bräuchte für kurze Zeit einen Job.“
Christian nickte kurz, dann sah er sich Jessica genauer an. Die Kleine ist wirklich hübsch, ging es ihm durch den Kopf, nur ihre Augen sahen irgendwie traurig aus. Kurz ließ Christian seinen Blick über ihren Körper schweifen. Doch dann rief er sich selbst zur Ordnung und sah sie wieder an. Als er ihren fragenden Gesichtsausdruck sah, beeilte er sich, zu antworten.
„Stimmt, es sollen neue Leute eingestellt werden.“
Jessica atmete erleichtert auf. Für einen kurzen Moment hatte sie schon gedacht, Frau Philipps hätte ihr falsche Hoffnungen gemacht.
„Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Herrn Philipps finde?“
Christian lachte kurz auf und nickte.
„Also erst einmal, ich heiße Chris. Es ist also nicht notwendig, dass du Sie zu mir sagst. Wir hier auf der Farm nehmen es nicht so förmlich, sondern sind eher wie eine große Familie. Wenn du den Weg hier weitergehst, kommt irgendwann der Hofladen. Du kannst ihn gar nicht verfehlen, denn der Name steht oben ganz groß am Gebäude. Gleich daneben befindet sich das Verwaltungsbüro und dort findest du auch den Verwalter.“
„Vielen Dank“, sagte Jessica schnell.
Dann fiel ihr Blick auf die Holzstücke, die nun ganz verstreut auf den Boden lagen.
„Das mit den Brettern tut mir leid. Ich hätte besser aufpassen müssen. Doch ich hatte nicht mit so einem großen Betrieb gerechnet und war einfach völlig fasziniert von der Umgebung. Soll ich dir beim Aufsammeln helfen?“
Christian schüttelte mit dem Kopf und winkte ab.
„Nicht notwendig, Jessica, das schaffe ich schon allein. Ich hätte ja auch aufpassen können.“
Dankbar nickte Jessica Christian noch einmal zu und ging dann weiter in die genannte Richtung. Währenddessen sah Christian ihr eine ganze Weile fasziniert hinterher. Bis er sich schließlich erneut selbst zur Ordnung rief, denn er hatte immerhin noch einiges zu erledigen. Er konnte jetzt keine Ablenkung gebrauchen.
Dank der genauen Beschreibung dauerte es nicht sehr lange, bis Jessica vor dem Verwaltungsgebäude stand.
„Dieser Chris hatte recht. Das Gebäude ist wirklich nicht zu verfehlen.“
Sowohl der Hofladen wie das Verwaltungsbüro waren in einem einstöckigen Gebäude mit rotem Ziegeldach untergebracht, dessen Fassade ein interessantes Steinmuster zeigte. Im Laden standen mehrere Tische und Stühle, an denen sich bereits einige Frauen fröhlich unterhielten. Gleichzeitig konnte Jessica einige Kinder ausmachen, die von einer jungen Verkäuferin kleine Tüten mit Süßigkeiten erhielten. Verwundert schaute Jessica auf dieses Bild. Irgendwie kam es ihr eher vor, sie wäre in einem eigenen kleinen Dorf und nicht auf einer Farm. Als einige der Frauen fragend zu ihr hinausschauten, ging Jessica schnell in das angrenzende Verwaltungsbüro hinein.
Kaum hatte sie das Gebäude betreten, kamen die alten Zweifel wieder hoch. Was mache ich eigentlich hier? Doch ihr blieb keine Zeit, näher darüber nachzudenken, denn schon kam eine junge rothaarige Frau auf Jessica zu.
„Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?“
Schnell nahm Jessica die angebotene Hand der jungen Frau, um diese zu begrüßen.
„Guten Morgen. Mein Name ist Jessica Neumann. Ich bin hier wegen eines Jobs.“
Fröhlich nickend führte die Frau Jessica weiter in das Gebäude hinein. Erst vor einer weißen Tür fast am Ende des Ganges blieb sie stehen und klopfte an.
„Hier ist das Büro unseres Verwalters Claas Philipps. Übrigens, mein Name ist Jenna Bade, ich bin hier die Gutssekretärin. Wenn Sie den Job bekommen, werden wir uns bestimmt noch öfter sehen.“
Nur mit halbem Ohr hörte Jessica den Erzählungen der Gutssekretärin zu. Sie war viel zu nervös. Was soll ich tun, wenn es mit dem Job nicht klappt? Immerhin habe ich hier in Österreich nicht mal eine Arbeitserlaubnis. Doch bevor Jessica noch einen Rückzieher machen konnte, ging plötzlich die Tür auf und ein großer grauhaariger Mann kam aus dem Büro heraus. Wie erstarrt sah dieser Jessica mit seinen blauen Augen an. Niemand sprach ein Wort, bis Jenna Bade die Stille durchbrach.
„Guten Morgen, Claas. Das ist Jessica Neumann. Sie ist hier wegen eines Jobs.“
Gleich darauf wandte sich die junge Frau wieder Jessica zu und lächelte sie freundlich an.
„Ich muss dann mal wieder an die Arbeit. Viel Glück!“
Mit diesen Worten verabschiedete sich Jenna Bade und ging wieder nach vorne.
Während Jessica der Sekretärin kurz hinterherschaute, sah Claas Philipps sie immer noch sprachlos an. Jetzt verstand er, was seine Frau gestern gemeint hatte. Auch er konnte das Gefühl nicht abschütteln, diese Frau schon einmal gesehen zu haben. Leider konnte sich Claas ebenfalls nicht erklären, wo dies gewesen sein konnte. Diese langen blonden Haare, die zu einem lockeren Zopf zusammengebunden waren, und diese Augen, die wie kleine Saphire aussahen, all dies kam ihm sehr vertraut vor.
Als sich Jessica wieder zu dem Verwalter umdrehte, schluckte dieser seine Verwirrung herunter und gab ihr zur Begrüßung die Hand.
„Frau Neumann, es freut mich, Sie kennenzulernen. Meine Frau hat mir bereits von der gestrigen Begegnung erzählt. Kommen Sie rein.“
Jessica nickte dem älteren Mann nur kurz zu und folgte ihm dann in sein Büro. Während sie hinter sich die Tür schloss, nahm Claas Philipps bereits an seinem Schreibtisch Platz. Freundlich zeigte er auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
Erleichtert setzte sich Jessica auf den angebotenen Stuhl. Scheinbar hatte die ältere Dame wirklich ihr Versprechen gehalten und ihren Mann informiert. Trotzdem blieben immer noch kleine Zweifel. Was genau soll ich hier eigentlich tun? Bisher hatte sie nur männliche Arbeiter auf dem Feld gesehen. Würde sie dort arbeiten müssen? Als kurz darauf der Verwalter das Wort an sie richtete, drängte Jessica ihre Fragen zurück.
„So! Sie sind also auf der Suche nach einem Job. Haben Sie schon einmal auf einer Farm oder mit Tieren gearbeitet?“
Jessica schüttelte mit dem Kopf und sah den Verwalter an.
„Nicht direkt. Bei uns im Internat gab es ein paar Pferde und Vogelhäuser. Doch sonst bin ich mit Tieren nicht näher in Berührung gekommen. Ich bin eher ein Stadtkind.“
Claas nickte, so etwas hatte er erwartet. Dann ging er ihre Worte noch einmal in Gedanken durch.
„Sie waren im Internat? Wo?“
„In Marienhöhe. Das liegt in der Nähe von Darmstadt“, antwortete Jessica bereitwillig. „Ich bin dort seit der ersten Klasse zur Schule gegangen.“
Leicht irritiert sah Claas Philipps die junge Frau an. Er kannte ein paar Internate in Österreich, denn vor fast vier Jahren hatten er und Carlos de Luca einige davon besucht. Zu diesem Zeitpunkt hatte die knapp 14-jährige Manuela ziemliche Probleme in der Schule. Ihr damaliges Interesse galt eher ihren Freunden, und manchmal ging sie gar nicht erst zur Schule. Alle Ermahnungen und Bestrafungen halfen nicht und am Ende hätte sie die Klasse fast wiederholen müssen. Ihre Eltern wussten sich keinen anderen Ausweg mehr und entschieden sich für ein Internat. Dort konnte sich das Mädchen wieder ganz auf das Lernen konzentrieren. Mit Erfolg, denn Manuela würde am Ende des nächsten Schuljahres sogar ihr Abitur machen. Doch in Deutschland war er nicht gewesen. Also, wo habe ich diese Frau schon einmal gesehen?
Als Jessica den leicht irritierten Gesichtsausdruck des Verwalters bemerkte, war sie verunsichert. Habe ich etwas Falsches gesagt? Genauso wie bereits gestern seine Frau, sah auch er sie immer wieder mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. Inzwischen war sich Jessica aber sicher, dass sie sich bisher noch nie gesehen hatten.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Jessica, als sie die plötzliche Stille nicht mehr aushielt.
Noch immer starrte Claas Philipps sie unentwegt an, aber dann schüttelte er mit dem Kopf.
„Nein! Entschuldigen Sie bitte. Sie erinnern mich nur an jemanden.“
Im nächsten Moment drängte der Verwalter das seltsame Gefühl zurück und kehrte zum eigentlichen Grund ihres Gespräches zurück.
„Also wegen des Jobs. Eigentlich möchte unser Junior, dass nur noch Leute mit praktischer oder theoretischer Erfahrung eingestellt werden. Leider hatten wir vor Kurzem ein sehr großes Problem in unserem Tierbereich. Einige unserer Kaninchenjunge sind dabei gestorben.“
„Kaninchen? Ich dachte, es wäre eine Farm?“, warf Jessica verwirrt ein.
Claas Philipps musste lächeln.
„Sagt Ihnen der Name de Luca gar nichts?“
Jessica schüttelte mit dem Kopf. Zwar hatte sie sich gewundert, warum es für diese Farm eine eigene Bushaltestelle gab, doch nicht weiter darüber nachgedacht.
„Nein. Bisher war ich ja auch noch nie in Österreich.“
Plötzlich konnte sich Claas Philipps ein leichtes Kopfschütteln nicht verkneifen. Immerhin kam es nicht oft vor, dass jemand den Namen de Luca nicht kannte.
„Der Name de Luca ist eigentlich nicht nur in Österreich ziemlich bekannt, sondern auch in Deutschland. Bei uns handelt es sich um ein großes Familienunternehmen, welches hochwertige Kleidungsstücke unter anderem aus Angorawolle herstellt. Wir hier auf der Farm sind für die Aufzucht und Pflege dieser Tiere zuständig. In regelmäßigen Abständen werden unsere Tiere dann geschoren und die erhaltene Wolle nach Dornbirn geschickt. Dort befindet sich die Designfabrik von Valenzo de Luca, dem Bruder unseres Chefs. Im Anschluss werden alle Kollektionen über die Verkaufs- und Versandfilialen von Victor de Luca in Deutschland und Österreich verkauft.“
Jessica musste schlucken. Sie hatte keine Ahnung. Kein Wunder, dass ihr dieses Grundstück so groß vorkam. Doch wieso haben vorhin die Männer auf dem Feld gearbeitet?
„Und die Männer auf dem Feld? Vorhin als ich gekommen bin, habe ich dort einige arbeiten sehen.“
Leicht schmunzelnd lehnte sich Claas in seinem Stuhl zurück.
„Dieses Feld ist ein Überbleibsel aus der Vergangenheit. Bevor Carlos de Luca diese Farm von seinen Eltern übernahm, wurde hier noch verstärkt Landwirtschaft betrieben. Inzwischen gibt es nur noch das eine Feld. Dort werden jedes Jahr Gemüse und Obst für den Eigenbedarf bzw. für die Tiere angebaut. Zusätzlich haben wir noch Schweine und Hühner. Alle Lebensmittel verkaufen wir in unserem Hofladen an die Mitarbeiter oder Besucher, wobei jeder Angestellte von der Geschäftsleitung eine Guthabenkarte erhält. Darauf werden jeden Monat 50 Euro Verpflegungsgeld gebucht. Erst wenn diese Summe überschritten wird, müssen die Lebensmittel selbst bezahlt werden. Jedoch bezahlen Angestellte dann trotzdem immer noch weniger als Besucher oder Gäste.“
Jessica nickte leicht. Ja, den Hofladen hatte sie bereits gesehen. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Worte des Verwalters, bevor sie ihn unterbrochen hatte.
„Eigentlich möchte unser Junior, dass nur noch Leute mit praktischer oder theoretischer Erfahrung eingestellt werden.“
Wenn dies stimmte, warum hatte Frau Philipps ihr einen Job angeboten? Sie hatte schließlich keine Erfahrungen und schon gar nicht mit Kaninchen. Plötzlich bekam Jessica Panik. Was soll ich jetzt nur tun?
„Das ist wirklich sehr großzügig. Schade, dass Sie für mich keinen Job haben“, sagte Jessica leise, während sie versuchte, das Gefühl von Panik zu unterdrücken. „Immerhin verstehe ich nichts von Kaninchen.“
Lange sah Claas Philipps Jessica einfach nur an, dann lehnte er sich im Stuhl wieder vor und legte seine Hände auf den Schreibtisch.
„Ich denke, in Ihrem Fall können wir durchaus eine Ausnahme machen. Meine Frau hat mir gesagt, dass sie hier etwas Wichtiges erledigen müssen, aber nicht genügend Geld für ein Hotelzimmer besitzen. Aus diesem Grund wäre ich bereit, Ihnen eine Chance zu geben. Sie würden sich mit einer erfahrenen Tierpflegerin um ein paar erwachsene Kaninchen in Halle 2 kümmern. Das geht aber nur, wenn Sie mir versprechen, wenigstens bis Ende Februar auf der Farm zu bleiben. Ein Neffe unseres Chefs heiratet im Februar und die Familie möchte gerne dabei sein. Dies klappt aber nur, wenn genügend Mitarbeiter für die Versorgung der Tiere vorhanden sind. Wenn Sie mir das versprechen können, bekommen Sie einen Arbeitsvertrag. Diesen können Sie ab Februar dann immer zum Ende des jeweiligen Monats kündigen.“
Angestrengt dachte Jessica nach. Bis Ende Februar? Das waren fast vier Monate. Aber eigentlich konnte sie vorher sowieso nichts anderes tun. Das nächste Semester würde erst im März beginnen und über ihre Wunschausbildung in Kindergartenpädagogik musste sie sich noch näher informieren. Was spricht also dagegen? Sie könnte so etwas Geld sparen und trotzdem nach ihrer Mutter suchen. Außerdem hätte sie auf diese Weise sogar Zeit, ihre leibliche Mutter besser kennenzulernen.
Nur ein Problem gab es noch.
„Was ist mit einer Arbeitserlaubnis? Muss ich eine beantragen? Immerhin komme ich aus Deutschland.“
Claas schüttelte mit dem Kopf.
„Eine Arbeitserlaubnis für Österreich ist nicht notwendig, denn als Deutsche fallen Sie nicht unter das Ausländerbeschäftigungsgesetz.“
Zufrieden atmete Jessica durch.
„Gut, dann bin ich einverstanden. Ich kann auch sofort anfangen.“
Claas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und sah die junge Frau an.
„Ich denke, ab morgen reicht völlig aus. Ich werde Ihnen jetzt erst einmal das Grundstück und Ihre Unterkunft zeigen.“
Mit diesen Worten erhob sich der Verwalter und ging in Richtung Tür. Auch Jessica stand auf. Doch bevor sie das Büro verlassen konnten, klopfte es plötzlich an der Tür. Nur wenige Augenblicke später wurde die Bürotür geöffnet und ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren und grauen Augen kam ins Zimmer.
Überrascht über den Besuch blieb Claas mitten in der Bewegung stehen.
„Mara? Ist etwas passiert?“
Neugierig sah das Mädchen erst zu Jessica, dann wandte sie sich an den Verwalter.
„Onkel Claas! Mein Vater schickt mich, du sollst sofort in den Stall kommen. Scheinbar ist eins der Kaninchen krank.“
Sofort zeigte sich eine große Besorgnis auf dem Gesicht des Verwalters. Nur noch kurz wandte er sich an das junge Mädchen, sie möge bitte Jessica alles zeigen, dann war er auch schon verschwunden.
Kaum war der Verwalter nicht mehr zu sehen, drehte sich das Mädchen zu Jessica um.
„Hallo, du bist also Jessica. Mein Name ist Tamara Forstner, aber alle nennen mich Mara. Ich bin die Tochter vom Tierarzt.“
„Freut mich“, sagte Jessica und gab Mara die Hand. „Arbeitest du auch auf der Farm?“
Mara schüttelte mit dem Kopf.
„Nein, ich bin erst 15 und gehe noch zur Schule. Ich möchte später Tierärztin werden wie mein Vater und dafür brauche ich Abitur. Aber heute haben wir schulfrei. Zum Glück für uns haben sich viele Lehrer mit einer Erkältung angesteckt. Tja, und aus diesem Grund dürfen wir heute zu Hause ein paar Aufgaben erledigen.“
Bevor Jessica noch etwas sagen konnte, zeigte Tamara in Richtung Tür.
„Komm, ich führe dich mal auf dem Gelände rum.“
Kaum hatte Tamara dies gesagt, ging sie auch schon durch die Tür in den Gang hinaus. Jessica beeilte sich, ihr zu folgen. Kurz darauf gingen sie gemeinsam zum Eingangsbereich zurück, wo die Sekretärin Jenna Bade einige Unterlagen kopierte.
„Und, haben Sie den Job?“, fragte diese Jessica, während sie ein neues Dokument auf den Kopierer legte.
„Ja! Ich soll mich ab morgen um die Kaninchen in Halle 2 kümmern.“
Kurz nickte Jenna mit dem Kopf und ging sofort ins „Du“ über.
„Ah ... Bei Luisa! Sie ist für die Halle 2 zuständig. Da hast du Glück, Luisa weiß wirklich viel über die Angorakaninchen. Sie ist gelernte Tierpflegerin und kommt selbst von einem Bauernhof. Übrigens, wir hier auf der Farm sind wie eine große Familie und sprechen uns alle mit dem Vornamen an. Selbst mit den de Lucas sind wir per Du. Mich kannst du daher einfach Jenna nennen.“
Jessica, die nicht wusste, was sie dazu sagen sollte, nickte nur leicht und schaute zu, wie Jenna kurz zu ihrem Schreibtisch ging. Dort öffnete sie die oberste Schublade ihres Rollcontainers und holte einige Schlüssel heraus. Gleich darauf ging sie auf Jessica zu und gab ihr den Schlüsselbund.
„Bitte sehr. Das sind deine Schlüssel für die Wohnung 4 im B-Haus. Mara kann dich hinbringen und dir alles zeigen. Komm einfach morgen früh um sieben Uhr zu mir, dann kannst du deinen Arbeitsvertrag unterschreiben und mit der Arbeit beginnen. Ach so! Deine Sachen kannst du ruhig hierlassen, während Mara dir das Gelände zeigt. Ich werde so lange auf deinen Koffer und deine Tasche aufpassen.“
Kaum hatte Jenna dies gesagt, wandte sie sich wieder ihren Dokumenten zu, während Jessica ihr Gepäck abstellte und von Tamara aus dem Gebäude gezogen wurde.
Die nächsten zwei Stunden verbrachte Jessica damit, sich den kompletten Betrieb anzuschauen. Tamara war nur zu gerne bereit, ihr jeden Winkel der Farm zu zeigen. Sie besuchten die Arbeiter auf dem Feld, die gerade mit der Wirsingernte beschäftigt waren. Und gingen in den Hofladen, wo man ihnen ein leckeres Mittagessen servierte. Mit jeder Minute gefiel es Jessica immer mehr auf dieser Farm. Sie waren wirklich wie eine große Familie. Schließlich holten sie Jessicas Koffer aus dem Verwaltungsgebäude und gingen zum Wohnsektor. Dieser bestand aus vier doppelstöckigen Wohnblöcken, die optisch von dem Verwaltungsgebäude nicht zu unterscheiden waren.
„Schön, nicht? Ich mag diese Steinoptik an der Fassade“, sagte Tamara, während sie Jessica zum B-Haus führte.
Neugierig sah sich Jessica um. Alle vier Häuser sahen gleich aus. Lediglich der große Buchstabe an der Eingangstür sorgte für einen deutlichen Unterschied. Schließlich wandte sich Jessica wieder dem jungen Mädchen zu.
„Wohnst du auch hier?“, wollte Jessica wissen.
Tamara schüttelte mit dem Kopf.
„Nein! Das B-Haus ist der Wohnblock für die unverheirateten Frauen und im A-Haus sind die unverheirateten Männer untergebracht. Tja, der C-Block gehört den Verheirateten und im D-Block leben die Familien mit Kindern. Noch lebe ich mit meiner Familie daher im D-Haus.“
Als Jessica und Tamara gerade ins Haus gehen wollten, kam ihnen auf einmal eine blonde Frau entgegen. Sie hatte eine leicht rundliche Figur und trug eine rote Kochschürze.
„Mara? Wo steckst du denn die ganze Zeit? Ich dachte, du wolltest nur kurz zu deinem Vater? Jetzt sind schon Stunden vergangen.“
Ertappt drehte sich Tamara um. Ihre Mutter hatte sie völlig vergessen.
„Tut mir leid, Mama. Aber ich habe Onkel Claas versprochen, Jessica die Farm zu zeigen. Sie ist neu und fängt morgen hier an.“
Inzwischen hatte Tamaras Mutter ihre Tochter erreicht. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßte sie Jessica und gab ihr die Hand, dann wandte sie sich ihrer Tochter zu.
„Gut, aber du hättest wenigstens Bescheid geben können. Immerhin habe ich mich darauf verlassen, dass du mir beim Backen hilfst. Jetzt bin ich schon fast fertig. Leider sind mir gerade die Eier ausgegangen. Bitte besorge mir noch welche im Laden.“
Tamara nickte kurz und ihre Mutter ging zum D-Haus zurück. Etwas unschlüssig schaute sie Jessica an, doch diese winkte ab.
„Geh schon. Meine Wohnung finde ich jetzt auch allein. Danke, dass du mir alles gezeigt hast.“
„Kein Problem“, sagte Tamara, während sie Jessica kurz zuwinkte und zum Hofladen zurückging. Jessica hingegen drehte sich wieder zum Haus um und ging in das Gebäude hinein.