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2012

Mit der Handkante schob Franziska die Papiere zusammen und legte sie in eine vor ihr auf dem Tisch liegende Mappe. Nein, heute musste sie das Ganze nicht noch einmal lesen. Die Notarin hatte den Kaufvertrag allen beteiligten Parteien zur Einsichtnahme übergeben. Franziska war die Unterlagen inzwischen mehr als einmal durchgegangen, nun reichte es. Alles hatte seine Richtigkeit. Morgen würden sie und Alexander ihr Elternhaus verkaufen. Die Entscheidung war den Geschwistern nicht leicht gefallen. Doch letztendlich gab es keinen, der das Haus übernehmen wollte. Der Vater lebte mittlerweile seit fast drei Jahren nicht mehr, und noch ein unbewohnter Winter würde die Bausubstanz nicht verbessern. So beauftragten sie um Pfingsten herum einen Makler, nach Käufern zu suchen. Schon wenige Wochen später war er fündig geworden.

Franziska erhob sich aus dem Sessel und trat auf den Balkon. Noch immer lebte sie mit Michael in jener Wohnung, die ihnen einst die Genossenschaft zur Verfügung gestellt hatte. Ihr Blick schweifte über das Grün der Bäume im nahen Schlosspark. Hier waren ihre Kinder aufgewachsen, Anja und ihr vier Jahre jüngerer Bruder Martin. Der Junge war ein Jahr nach dem tragischen Unfalltod von Alexanders Mutter zur Welt gekommen, von der Franziska bis dahin geglaubt hatte, es wäre auch ihre Mutter gewesen. Diese Schwangerschaft brachte ihr die Zuversicht zurück, die sie so dringend brauchte, weil das ganze Leben ihr plötzlich verändert vorkam.

Die Ruhe danach hatte sich als trügerisch herausgestellt, denn nur wenig später folgte der familiären eine gesellschaftliche Umwälzung. Als Martin in den Kindergarten kam, hielt die D-Mark Einzug in die Geldbörsen der DDR. Ihr Heimatland, so wie sie es kannte, gab es bald nicht mehr. Geblieben war ihr, noch fast zwei Jahrzehnte, der über alles geliebte Papa, zu dem sie nun eine noch engere Beziehung aufbaute. Sie war es gewesen, die ihren Vater in die Klinik gebracht und ihn nach der erschütternden Diagnose wieder heim geholt hatte. Nur wenige Wochen waren ihm dann noch vergönnt gewesen, eher er mit nicht einmal siebzig Jahren starb.

Franziska verscheuchte die trüben Gedanken. Was half es denn, der Vergangenheit nachzutrauern? Es war besser, sich an die schönen Momente zu erinnern, auch beim Blick vom Balkon. Hier hatten ihre Kinder eine unbeschwerte Zeit verbracht. Jetzt zeugten nur noch drei in die Erde eingegrabene Traktorreifen vom einstigen Spielplatz hinter dem Wohnblock. Fast alles, was die Eltern der damals reichlich vorhandenen Kinder dort für ihren Nachwuchs geschaffen hatten, war inzwischen von der Bildfläche verschwunden. Aber wahrscheinlich hätten die in der Werkstatt der LPG selbstgebaute Wippe und die Schaukel sowieso die Überprüfung durch den TÜV nicht überlebt. Nur die Umrisse des einstigen Sandkastens konnte man von oben noch erahnen. Die Natur hatte sich nun auch dieses Fleckchen zurück erobert. Der Baum, der in der Mitte wuchs, erreichte bereits eine beachtliche Größe.

Ja, das Leben ging weiter. Sie wollte sich auch gar nicht beklagen. Mit Michael war sie nun schon über dreißig Jahre verheiratet und Anja hatte sie nur wenige Wochen nach dem Tod des Vaters zu Großeltern gemacht. Gerührt und mit Tränen in den Augen nahm Franziska die freudige Nachricht auf, dass ihre Tochter den Kleinen nach dem Opa -Franzgenannt hatte. Nun lebte ihr geliebter Papa auf gewisse Weise in ihrem kleinen Fränzchen fort.

Die durchdringende Hupe eines auffälligen Sportwagens riss Franziska aus ihren Gedanken und ein Lächeln überzog ihr Gesicht. Da hat Alexander ganz schön Gas gegeben, schoss es ihr durch den Kopf. Sie verließ den Balkon und sah vom Küchenfenster aus, wie ihr Bruder das Auto auf dem Parkplatz abstellte. Obwohl sie die Fünfzig inzwischen überschritten hatte, sprang sie leichtfüßig die Treppenstufen hinunter und lief ihm entgegen. Noch immer war sie eher klein und schlank, besaß die fast noch zierlich zu nennende Figur ihrer Jugend.

»Alex! Da bist du ja, mein Kleiner!« Lachend reckte sie sich und fiel ihm um den Hals.

Auch Alexander lachte. »Ja, meine kleine, große Schwester, da bin ich.« Er musste sich ganz schön herunterbeugen, um seiner Schwester, die er um mehr als einen Kopf überragte, einen Kuss auf die Wange zu drücken.

Alexander ergriff die Tasche aus dem eher winzigen Kofferraum und folgte seiner Schwester ins Haus. In der Wohnung ließ er sich auf das Sofa fallen. »Lange nicht gesessen.« Er grinste.

»Wie ich sehe, bist du gut durchgekommen«, rief Franziska ihm aus der Küche zu, während sie ihm ein Bier aus dem Kühlschrank holte. »Willst du gleich was essen oder noch warten?«

»Essen hat noch Zeit«, verkündete Alexander, während er das Bier ins Glas goss. »So lange war ich ja gar nicht unterwegs. Seit die A38 durchgängig befahrbar ist, dauert die Fahrt nur noch halb so lange.« Er nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas.

Während Franziska noch immer hier, in dem selben Ort, in der selben Wohnung lebte und sogar nahezu in der gleichen Firma arbeitete, aus der LPG war lediglich eine GmbH geworden, hatte es Alexander schon bald nach der Wende gen Westen gezogen. Er arbeitete als Schlosser in einer Spedition. Doch oft fragte sich Franziska, ob diese Arbeit denn unbedingt am Rand vom Sauerland sein musste. Sie hätte Alex gerne etwas näher bei sich gehabt. So trafen sie sich höchstens zu runden Geburtstagen, Beerdigungen oder eben solchen wichtigen Terminen wie jener, der morgen vor ihnen lag.

Während sie so ihren Gedanken nachhing, hatte Alexander seine Tasche geöffnet und eine flache Holzkiste herausgeholt. »Schau mal, was ich mitgebracht habe!« Er klappte den Deckel hoch.

»Oh!«, entfuhr es Franziska. »Die Dias habe ich beim Ausräumen vom Haus gesucht. Hast du sie mitgenommen?« Eigentlich stellte sich die Frage nun gar nicht mehr und die Antwort stand ihrem Bruder ins Gesicht geschrieben. Einige alte Fotos hatte sie selbst an sich genommen, nachdem der Vater gestorben war. Aber andere Sachen waren wohl schon vorher abhandengekommen. Ein paar Jahre nach dem Unfall seiner Frau hatte sich Franz noch einmal eine Lebensgefährtin gesucht. Franziska wusste nicht, was ihre, wenn man es so nennen wollte, Stiefmutter nach dem Tod des Vaters aus dem Haus gebracht hatte. Insgesamt schien es ihr auch nicht so wichtig, doch die Dias aus ihrer Kindheit hatte sie vermisst.

Etwas schuldbewusst sah Alexander zu seiner Schwester.

»Ich habe die Kiste erst mal mit zu mir genommen, wollte sie schon längst mal her bringen, aber immer wieder habe ich es vergessen. Wir können die Bilder nachher ansehen.« Er förderte einen Karton mit einem Diabetrachter aus den Tiefen seiner Tasche zutage. »Aber ich schlage vor, zuerst doch etwas zu essen.«

»Ist gebongt«, lächelte Franziska, »ich habe da schon mal was vorbereitet. Du magst doch unsere heimische Wurst.«

»Ich habe gehofft, dass du daran denkst«, freute sich Alexander. »Morgen werde ich mir unbedingt auch welche mit heim nehmen.«

Franziska tafelte das gute Bäckerbrot und frisch geräucherte Wurst vom Landfleischer auf, und beide langten kräftig zu. Während Franzi früher kaum Wurst gegessen hatte, war sie inzwischen auch gegenüber den deftigen Sachen nicht mehr abgeneigt. Nachdem sie sich gestärkt hatten, wollte Franziska nicht mehr länger warten.

»Na los, nun lass uns gucken«, drängte sie Alexander zur Eile. Während sie das Geschirr in die Küche trug, stellte er den einfachen Diabetrachter auf dem Tisch auf und verband ihn mit der Steckdose. Kurz danach blickten sie schmunzelnd in den Kasten, in dem nun das erste der Kinderfotos zu sehen war. Franzi erinnerte sich noch gut an die Bilder, die zu beinahe jedem Familientreffen auf einer großen Leinwand im Wohnzimmer gezeigt wurden. Viele waren im Garten und im Hof ihres Elternhauses aufgenommen worden.

Während die Geschwister am Anfang noch wie Kinder kicherten, so wurden sie mit der Zeit immer stiller. Beide dachten mit etwas Wehmut zurück an die herrliche Zeit in dem kleinen Häuschen am Berg, an ihre frohe, unbeschwerte Kindheit. Von nun an würde es wirklich nur noch eine schöne Erinnerung sein. Sie hatten versucht, so viel wie möglich der Vergangenheit zu bewahren. Bücher, Münzund Briefmarkenalben, Fotos und ein paar einzelne Stücke der Mineraliensammlung teilten sie untereinander auf. Das letzte Stückchen Gegenwart in Form von Möbeln und Geschirr hatte Vaters zweite Frau mitgenommen. Was danach übrig blieb, landete in einem großen Container. Und morgen schlossen sie das Kapitel endgültig ab. Möge sich die junge Familie wohl fühlen und dort genauso glücklich sein, wie sie es einst waren. Mit einem Ruck stand Franziska auf. »Wo soll ich dich denn einquartieren?«

»Ist doch egal, ich nehme auch die Couch«, antwortete Alexander. Er war nicht anspruchsvoll.

»Och nö, die bauen wir jetzt nicht erst auf«, meinte Franziska. Das Sofa besaß zwar eine Schlaffunktion, dazu mussten jedoch der Tisch und der Sessel weichen. So legte sie ihm die Alternativen dar. »Entweder du pennst in Michaels Bett neben mir oder du nimmst mit dem Klappbett von Martin im Arbeitszimmer vorlieb.« Alexander grinste. »Also, Michaels Bett entfällt. Nicht, dass er mal kurz heim kommt und mir was über den Schädel haut. Das Klappbett ist in Ordnung.«

»Na, dann komm.« Franziska ging voraus, um das Nachtlager für ihren Bruder herzurichten.

»Wo treibt sich eigentlich mein Schwager rum?«, brachte Alexander die Sprache wieder auf Michael.

»Als wir am Nachmittag telefoniert haben, war er in Bremen«, gab Franziska Auskunft.

»Er ist schon ein wahrer Globetrotter«, erwiderte Alexander.

Da sagst du was, dachte Franziska. Aber sie hatte es ja nicht anders gewollt. Ein LKW-Fahrer sollte es sein. Nur aus diesem Grund hatten sie sich überhaupt kennengelernt. Etliche Jahre fuhr er immer mit der Kirche ums Dorf, wie Michael es gerne sagte. Nach der Wende zog es viele Fahrer sofort in den Fernverkehr, doch er tat den Schritt erst, als auch Martin aus dem Gröbsten raus war. Seitdem kurvte er durch die Länder in Mitteleuropa. Anfangs, noch bei einer anderen Firma als jetzt, führten ihn die Fahrten oft nach Skandinavien. Er hatte den arktischen Winter in Norwegen erlebt und die weißen Nächte in Schweden. Noch heute schwärmte er von den Überfahrten mit der Fähre und der herrlichen Landschaft im Land der tausend Seen. In der letzten Zeit war es immer seltener geworden, dass er schöne lange Touren ins Ausland bekam, dafür wurden der Stress und der Termindruck von Jahr zu Jahr schlimmer. Wenigstens kam er jedes Wochenende heim. Noch ein paar Jahre, dann winkte der verdiente Ruhestand.

»Ach, der Micha macht das schon«, meinte Alexander und legte ihr mit einer brüderlichen Geste die Hand um die Schulter. Er hatte die Gedanken seiner Schwester wohl erraten.

»Lass uns noch einen Absacker trinken und dann schlafen«, schlug Franziska vor und goss jedem einen Likör ein. »Der Termin ist zwar erst um zehn, aber ausgeruht fühlt man sich einfach besser.« So richtig wohl war ihr bei dem Gedanken an den morgigen Tag doch nicht.

Lenchens Baby

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