Читать книгу Lenchens Baby - Isolde Kakoschky - Страница 8

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Das war es also gewesen. Mechanisch stellte Franziska die Kaffeetassen in die Spülmaschine. Nun gehörte ihnen nichts mehr von dem, was sie einmal ihr Zuhause genannt hatten. Als kleinen Trost empfand sie das Glück von Annika, Heiko und Lukas. Schon stellte sie sich vor, wie der Junge durch den Garten tobte.

Auf dem Tisch begann ihr Handy zu vibrieren. Sie hatte es am Morgen stumm geschaltet, und so gab es noch immer keinen Ton von sich. Der Blick auf das Display ließ sie lächeln: Michael.

»Hallo Schatz!«, nahm sie das Gespräch entgegen. »Ja, alles soweit gut gelaufen«, antwortete sie auf die Frage ihres Gatten. »Alex ist schon wieder weg. Du weißt doch, er hat nie viel Zeit. Aber wir wollen uns demnächst mal wieder schön zu viert treffen«, bereitete sie ihren Mann auf die Pläne vor, die sie vorhin geschmiedet hatten. »Na klar, das besprechen wir in Ruhe am Sonnabend«, bestätigte sie die Worte, die Michael darauf erwiderte. Nun hörte sie sich geduldig an, wo heute wieder beim Entladen die Säge geklemmt hatte, wo die Autobahn wegen Unfällen gesperrt war und welche Touren er noch fahren musste bis zum Wochenende. Und wie so oft schimpfte er über das Verhalten mancher Berufskollegen.

»Dann bis morgen«, verabschiedete sich Franziska nach einigen Minuten von ihrem Mann. »Und fahr vorsichtig!«

Franziska legte das Handy zurück auf den Tisch und ging ins Arbeitszimmer, um das Bettzeug von Alexander wieder zu verstauen. Sie musste sich ablenken. Die Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Michael war mit Leib und Seele Kraftfahrer. Doch während es früher noch ein angesehener Berufsstand gewesen war, fühlten sich die Fahrer heute eher wie die Deppen der Nation. Michael waren vor allem die vielen ausländischen Laster ein Dorn im Auge, deren Fahrer sich weder an Verkehrsregeln noch an die EU-Gesetze hielten, die ja eigentlich auch für sie galten. Kontrolliert wurden aber überwiegend die inländischen Kraftfahrer, denn kaum ein Polizist war einer der osteuropäischen Sprachen mächtig. Selbst das in der DDR gelehrte Russisch schien in Vergessenheit geraten zu sein.

Ja, sie hatten kurz überlegt, ihr Elternhaus zu übernehmen. Doch schließlich sah sich Michael außerstande, sich neben seinem anstrengenden Beruf noch um ein Haus zu kümmern. Es blieb ihm ja nur das Wochenende. Nun war die Entscheidung endgültig. Der Neubaublock aus den 80er Jahren war immerhin nach der Wende saniert worden und die kleine Wohnung erfüllte voll und ganz ihren Zweck. Von dem Geld würden sie eine schöne Reise unternehmen oder sich in ein paar Jahren ein neues Auto kaufen.

Nachdem sich Franziska noch mit Aufräumen und Putzen beschäftigt hatte, landete sie vor dem Fernseher. Kurz darauf zeigte ihr das Handy den Eingang einer SMS an. Beruhigt las sie den Text von ihrem Bruder. Alexander war gut wieder zuhause angekommen. Von Michael wusste sie, dass er mit dem LKW auf dem Rastplatz stand. Sie ließ sich Wasser in die Badewanne laufen und langsam entspannte sie sich.

Die nächsten beiden Tage verliefen im alltäglichen Einerlei. Die Getreideernte war soweit abgeschlossen, was auch im Büro der Agrargesellschaft Ruhe einkehren ließ. Einst hatte Franziska direkt nach dem Studium in der LPG angefangen. Manchmal erinnerte sie sich mit leichter Wehmut an die Anfangszeit, als sie noch ein junges Küken gewesen war. Von ihren älteren Kollegen hatte sie bestimmt mehr gelernt, als ihr das ganze Studium vermitteln konnte. Nun gehörte sie selbst zu den älteren Kollegen. Der damalige LPG-Vorsitzende war noch immer ihr Chef. Er hatte den Landwirtschaftsbetrieb in die neue Zeit geführt. Was kommen würde, wenn er in ein paar Jahren in den Ruhestand eintrat, konnte noch niemand sagen. Aber irgendwie ging es eben immer weiter. Ihr Optimismus hatte Franzi bisher noch nie verlassen. Und überhaupt, die Arbeit war auch nicht alles. Sie freute sich am Aufwachsen ihres kleinen Enkels und war froh, dass es Anja nicht in die Ferne gezogen hatte. Gemeinsam mit ihrem Freund Timo wohnte sie in Eisleben, gerade einmal fünfzehn Kilometer entfernt. Es war genau

richtig so, dachte Franziska. Weit genug, um ein eigenes Leben führen zu können; und nah genug, um im Notfall für Fränzchen da zu sein. Morgen wollten sie mit ihm in den Zoo fahren.

Franziska schaute zur Uhr. Bald musste Michael kommen. Sie ging in die Küche und begann, das Abendbrot anzurichten.

Endlich, es war bereits dunkel geworden, hörte sie Michaels Schritte auf der Treppe und riss die Wohnungstür auf. »Da bist du ja!« Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss und nahm ihm den Beutel ab, in dem er die leeren Getränkeflaschen die Woche über sammelte.

Während sich Michael im Bad kurz Hände und Gesicht wusch, brachte Franziska das vorbereitete Abendessen ins Wohnzimmer. Wenig später saßen sie sich am Tisch gegenüber und verkündeten wie aus einem Mund: »Wochenende!«

Es war spät geworden am Freitagabend. Michael brauchte seine Zeit, um abzuschalten und mental zur Ruhe zu kommen. Entsprechend spät war es auch, als Franziska und Michael sich am Morgen aus den Federn bewegten.

»Wann wollte Anja den Kleinen bringen?«, fragte Michael seine Frau beim Frühstück.

Als wäre es Gedankenübertragung, piepste Franziskas Handy und zeigte den Eingang einer SMS an. »Fahre jetzt los. Bis nachher. Anja«

»Hier, lies selbst«, hielt sie Michael das Gerät vor die Nase.

»Dann sollten wir mal in die Puschen kommen«, stellte Michael fest und erhob sich, um sich den ersten Platz im Bad zu sichern.

Kaum hatte Franziska den Tisch abgeräumt und sich ebenfalls zurecht gemacht, klingelte es schon an der Tür. Obwohl Anja noch einen Schlüssel besaß, benutzte sie den nur selten. Franz liebte es einfach zu sehr, bei Oma und Opa auf den Klingelknopf zu drücken. Michael betätigte den Türöffner und schon kletterte der Dreijährige flink die Treppe hinauf.

»Gehen wir heute in den Zoo?«, war die erste Frage des Knirpses, noch bevor er seine Oma mit einem feuchten Kuss begrüßte.

»In den Tiergarten«, antwortete Franzi und stellte gegenüber Anja damit direkt klar, dass sie nicht nach Halle fahren würden, wie es ursprünglich einmal gedacht war.

»Nach Bernburg«, wand sie sich erklärend an ihre Tochter.

»Na dann, ganz viel Spaß euch dreien!« Anja drückte ihren Sohn an sich. »Und sei lieb.«

»Bin iss doch immer!«, verkündete Franz mit großer Bestimmtheit.

»Euch beiden auch einen wunderschönen Tag, genießt die kindfreie Zeit«, lächelte Franziska ihrer Tochter zu. Anja und Timo hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, ein paar Mal im Jahr zu zweit etwas zu unternehmen. Viel zu schnell verloren sich junge Paare nach der Geburt des ersten Kindes im Alltagseinerlei und lebten nur noch als Eltern statt als Paar. Franziska gefiel es, dass die beiden dem entgegen wirkten. Sie hatten auch diesmal einen Aufenthalt in einem Wellness-Hotel im nahen Harz gebucht. Und Franz freute sich auf den Tag bei Oma und Opa. Franzi winkte Anja auf der Treppe hinterher. Michael kramte unterdessen mit Franz bereits die alte Eisenbahn von Martin aus der Spielzeugkiste.

Während Michael sich erst als Eisenbahner, dann als Baumeister betätigte, begann Franziska damit, das Essen vorzubereiten. Nudeln mit Tomatensoße schmeckte fast allen Kindern gut, da machte Franz keine Ausnahme.

»Oma, wann fahren wir in den…Tiergarten?« Franz musste erst nach dem passenden Wort suchen, während er den Löffel erneut in den Mund schob.

Franziska schmunzelte. Das hatte sich der Zwerg also gemerkt. »Wenn wir fertig gegessen haben, machst du mit dem Opa eine Stunde Mittagsruhe und dann geht es los.«

Unbeirrt futterte Franz weiter. Mittagsruhe war eher nicht nach seinem Geschmack, aber wenn das der Opa auch machen musste, war es wohl richtig.

Wenig später hatte Franzi die beiden »Männer« ins Schlafzimmer verfrachtet und setzte sich mit einem Buch in den Sessel. Sie liebte diese Art, sich eine Stunde Ruhe zu gönnen. Bis zum Tiergarten im Nachbarkreis war es nicht weit, sie hatten genügend Zeit.

Die Sonne schien von einem fast makellosen blauen Himmel und von der nahen Saale wehte ein laues Lüftchen, als sie am frühen Nachmittag aus dem klimatisierten Auto stiegen. Franziska hatte sich angesichts der sommerlichen Temperaturen sogar entschieden, ein Kleid anzuziehen, während Michael es seinem Enkel gleichtat und Shorts und T-Shirt trug.

Schnell hatten sie den kurzen Weg bis zum Eingang des Tiergartens geschafft. Und kaum waren die Karten gekauft, stürmte Franz auch schon los. Überall gab es Neues und Interessantes zu entdecken. Am Schönsten fand er aber die kleinen Ziegen im Streichelgehege. In der Cafeteria bestellten sich Franziska und Michael einen Kaffee, während Franz genüsslich eine Kugel Eis löffelte. Als der Rundgang beendet war, wäre der Junge am liebsten noch einmal losgelaufen.

»Oder wollen wir noch mit der Eisenbahn fahren?«, schlug ihm Michael vor.

Mit einem lautstarken »Ja!« streckte er dem Opa die Hand entgegen und lief mit ihm schnurstracks aus dem Tiergarten heraus auf die andere Straßenseite. Sie hatten von vornherein so geplant, dass nach dem Besuch im Tiergarten noch Zeit blieb für die Fahrt mit der Parkeisenbahn zum »Paradies« und zum »Märchenwald«. Schon mit Anja und Martin waren sie oft und gerne zu den beiden Ausflugszielen gefahren. Und nun zeigte sich ihr Enkel ebenso begeistert von der kleinen Eisenbahn und den Märchenfiguren, die im Garten an der beliebten Gaststätte aufgebaut waren.

Von den vielen Erlebnissen hungrig geworden, stiegen sie später ins Auto und steuerten auf Fränzchens Wunsch das bekannte Fastfood-Restaurant mit dem großen M auf dem Dach an. Auch wenn Franz erst drei Jahre alt war, wusste er schon ganz genau, was er essen wollte.

»Oma, kaufst du mir Schicken Nacken?«

Franziska und Michael konnten sich nur schwer das Lachen verkneifen. Sollte er sein Happy Meal mit Chicken McNuggets ruhig bekommen, schließlich gab es nicht jeden Tag dieses Essen aus der Tüte. Und offensichtlich schmeckte es ihm. Erst als die Nuggets samt Pommes restlos aufgegessen waren und die Packung mit der Capri-Sonne leer war, fragte er, ob er zum Spielplatz gehen könne. Da auch Franziska und Michael ihre Burger inzwischen verspeist hatten, stimmten sie ihrem Enkel zu. So frisch gestärkt kletterte er mit Leidenschaft die Treppe hinauf und sauste durch die Rutsche wieder hinab. Die Freude stand ihm ins Gesicht geschrieben, und Franziskas schlechtes Gewissen wegen des ungesunden Essens legte sich.

Müde vom Laufen, Schauen und Toben schlief Franz beinahe schon auf der Heimfahrt im Auto ein. Franziska verzichtete darauf, ihn noch in die Wanne zu setzen, sondern wusch ihm nur rasch am Waschbecken Gesicht und Hände ab und legte ihn dann in sein Bettchen. Noch passte er in das Reisebett, das sie kurz nach seiner Geburt angeschafft hatten. Doch bald würde er in das Klappbett von seinem Onkel Martin umziehen, wenn er zu Besuch bei Oma und Opa war. Franzi räumte seine Sachen auf und sah noch einmal ins Zimmer, wo der Knirps schon tief und fest schlief. Danach schloss sie leise die Tür und ging hinüber ins Wohnzimmer.

Mit einem theatralischen Stöhnen ließ sich Michael auf einen Balkonstuhl sinken. »Man ist einfach nichts mehr gewöhnt.« Er öffnete eine Bierflasche und zündete sich eine Zigarette an. Solange Franz dabei war, hatte er auf das Rauchen verzichtet.

Franziska sah ihn amüsiert an. Sie fühlte sich noch fit genug und freute sich schon auf die Zeit, wenn sie mit ihrem Enkelsohn die Abenteuerspielplätze und Erlebnisbäder der Umgebung unsicher machen würden. Vielleicht kamen ja noch ein paar Enkelkinder hinzu, überlegte sie. Wellnesshotel und romantische Stimmung… wer weiß? Oder Martin, der bei einem großen Automobilwerk in Leipzig arbeitete, fand eines Tages die passende Frau.

Während sich Franziska am Sonntag nach dem Frühstück dem Kochen des Essens widmete, schnappte sich Michael seinen Enkel und den Roller und unternahm einen Spaziergang zum Park. Am Schloss blieben sie stehen, vom dem sie laute Geräusche, die nach geschäftigem Werkeln klangen, vernahmen. Nach über zehn Jahren des Leerstandes hatte sich nun endlich ein neuer Besitzer gefunden, der das schöne Bauwerk zu neuem Leben erweckte. Bald sollten hier die ersten Veranstaltungen stattfinden. Wer weiß, überlegte Michael, vielleicht sitzen wir in ein paar Jahren auf der Terrasse und trinken Kaffee. Pläne schien der junge Schlossherr, ein Sänger, genug zu haben.

Das Sonnenlicht drang durch die Kronen der Bäume, an denen sich schon die ersten Blätter färbten. Bald konnte Franz hier Kastanien sammeln. Vorerst staunte er, als er den alten Turm entdeckte. Auch hier täten ein paar Handwerker bitter Not, dachte Michael. Selbst wenn die Bäume den ehemaligen Aussichtsturm inzwischen überragten, so war er eigentlich doch ein schönes Ziel.

Pünktlich zum Mittagessen kehrten die beiden hungrigen Wanderer nach Hause zurück. Nicht nur Chicken Nuggets schmeckte Franz, auch Gulasch mit Kartoffeln und Möhrengemüse trafen seine Zustimmung. Und ohne Murren legte er sich kurz darauf mit dem Opa zusammen zur Mittagsruhe, während Franziska begann, Proviant für Michael einzupacken, ehe sie den Jungen zurück nach Eisleben brachten.

»Kommt rein, der Kaffee ist gleich fertig«, begrüßte Anja ihre Eltern, während sich Franz in ihre Arme warf. »Na, war es schön bei Oma und Opa?«, wollte sie nun von ihrem Sohn wissen. Eine Antwort erhielt sie nicht, aber sein froher, zufriedener Gesichtsausdruck sagte ihr alles.

»Wir hatten ein schönes Wochenende«, antwortete nun Franziska stattdessen. »Und du siehst auch gut erholt aus.«

»Ja, bei uns war es auch sehr schön.« Anja zwinkerte Timo zu, der sie liebevoll ansah.

Der Gedanke an ein zweites Enkelkind schoss Franziska wieder durch den Kopf. »Ich hole dann mal den Kaffee«, wandte sich Franzi der Küche zu, während alle anderen am Tisch Platz nahmen. »Wir bleiben auch gar nicht lange«, fügte sie erklärend hinzu. »Michael fährt heute Abend wieder los und muss sich vorher noch etwas hinlegen.«

Es war die Krux an jedem Wochenende, es ging viel zu schnell vorbei. Sie mussten unbedingt mal wieder raus, wenn Michael Urlaub hatte, und sei es nur für ein paar Tage.

Lenchens Baby

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