Читать книгу Wetteinsatz mit bittersüßem Beigeschmack - Ive Holt - Страница 4
- Eins -
ОглавлениеEs war das erste Adventswochenende in diesem Jahr, als Sarah am Samstagmorgen vom schrillen Piepton ihres Weckers geweckt wurde und der Versuchung widerstand, die schweren Lider zu öffnen. Helle Sonnenstrahlen schienen durch die geöffneten Vorhänge, direkt in ihr Gesicht. Stöhnend beendete sie das Piepkonzert, bevor sie die Bettdecke über ihren Brummschädel zog, in der Hoffnung, noch einmal einzuschlafen. Wenigstens ein paar Minuten… Vergebens. Sie schaffte es nicht. Immer wieder schossen Erinnerungen des vergangenen Abends durch ihren dröhnenden Schädel.
Was war passiert? Blaugraue Augen schoben sich unweigerlich in ihr Gedächtnis. Dieser Mann… Himmel! Ihr Puls raste, als sei der Teufel hinter ihrer Seele her! Wie hatte er es in nur so kurzer Zeit geschafft, allein durch seine pure Anwesenheit ihr seelisches Gleichgewicht so dermaßen auf den Kopf zu stellen, dass sie beinahe vergessen hatte, wo oben oder unten war?
Jessica, Sarahs Freundin, hatte gestern zu einem gemütlichen Abend im Pub eingeladen. Wie so oft wollten die beiden Frauen gemeinsam den letzten Arbeitstag der Woche ausklingen lassen und dieses Mal Pläne für die bevorstehende Weihnachtszeit schmieden. Gegen neunzehn Uhr hatten sie sich verabredet, doch wieder mal schaffte Sarah es nicht, pünktlich zu sein. Nur sehr selten sperrte sie ihren Buchladen in der Vorweihnachtszeit genau zum Ladenschluss ab.
Seit beinahe zwei Jahren arbeitete sie nun schon in der Buchhandlung ihrer im letzten Jahr verstorbenen Großmutter. Marianne Jensen war eine zierliche kleine Person und hatte im Zentrum der Stadt ihr eigenes kleines Haus mit dem Bücherladen im Erdgeschoss.
Heute gehörte Sarah das Geschäft, weil ihre Eltern nach Mariannes Tod an dessen Besitz nicht interessiert waren und auf ihr Erbe zugunsten ihrer Tochter verzichtet hatten. Schließlich war deren Mittelpunkt ihr kleiner Friseursalon im Herzen der Hansestadt Hamburg. Zudem gab es keine weiteren lebenden Verwandten mütterlicherseits, keine Geschwister, Großtanten oder Onkels. Das Gebäude befand sich in einem außerordentlich guten Zustand. Marianne war stets darauf bedacht, dass Haus in Schuss zu halten, schließlich war das ihr Aushängeschild für den Laden. Doch seit dem letzten Winter bereitete die Heizung Sorgen. Hin und wieder gab sie den Geist auf und es schien, als würde sie nur ihre Pflicht erfüllen, wenn ihr danach war.
Es war nie Sarahs Absicht gewesen, in der bayrischen Stadt sesshaft zu werden, ihre Heimatstadt war Hamburg. Damals suchte sie lediglich räumlichen Abstand zu ihrem damaligen Freund Paul. Nur aus diesem Grund war sie quasi nach Garmisch-Partenkirchen zur Großmutter geflohen, um sich eine Beziehungsauszeit zu nehmen.
Als Sarah Hals über Kopf der Hansestadt den Rücken zukehrte und mit nichts weiter als zwei kleinen Koffern in dem Geschäft ihrer Großmutter aufkreuzte, war diese ziemlich überrascht gewesen. Die Bilder ihrer Ankunft hatten sich wie ein Brandmal in Sarahs Gedächtnis eingenistet. Sie erinnerte sich noch genau an Mariannes perplexes Gesicht, als sie völlig kopflos auf der Schwelle des Buchgeschäftes stand.
„Meine liebe Sarah“, rief sie freudestrahlend, „was um alles in der Welt machst du denn hier? Warum hast du nicht vorher angerufen und mir gesagt, dass du mich besuchen kommst?“
Kaum hatte Marianne die Worte ausgesprochen, erkannte sie, in welchem Gemütszustand sich ihre Enkelin befand, als sie in das tränennasse Gesicht schaute. Wortlos hatte sie Sarah in ihre Arme geschlossen. So standen sie minutenlang schweigend am Eingang, eng umschlungen, bis Marianne Sarah behutsam von sich schob und tröstend ihre Wange tätschelte.
Es war Anfang Dezember und draußen waren die Temperaturen bereits weit unter Null. Über Nacht hatte es den ersten Schnee gegeben und die Straßen und Gehwege waren mit einer zehn Zentimeter hohen Schneeschicht bedeckt.
Marianne Jensen hatte sie an die Hand genommen und in die hintere Nische des kleinen, aber gemütlichen Verkaufsladen geführt, wo ein runder Holztisch stand, auf dem ein hübscher Weihnachtsstern thronte, und zwei gepolsterte Korbsessel diesen Tisch umrahmten.
Danach hatte sie Sarahs Koffer geholt und hinter dem Tisch verfrachtet. Ohne ein Wort hatte sie der Enkelin aus dem grauen Wollmantel geholfen und behutsam in einen der Sessel gedrückt. Lange schweigend und mit leicht gerunzelter Stirn hatte Marianne Jensen ihre Enkelin beobachtet und war auf leisen Sohlen zu der kleinen Küchenzeile nebenan gegangen, um für sie beide erst einmal einen Tee zu kochen. Marianne hatte nicht vergessen, dass ihre einzige Enkeltochter Tee liebte, vorzugsweise Earl Grey, ohne Milch und Zucker. Was auch immer geschehen war, eine Tasse Tee schien ihr in diesem Moment genau das Richtige, um Sarahs Nerven zu beruhigen und sie gleichzeitig aufzuwärmen, denn ihr Körper glich beinahe einem Eiszapfen.
Still in sich zusammengesunken hatte Sarah in ihrem Sessel gekauert und war froh darüber gewesen, hierhergekommen zu sein, aber auch dankbar, dass ihre Großmutter sie ohne viel Aufsehen, anders als es Sarahs Mutter wohl in dieser Situation getan hätte, erst einmal zur Ruhe kommen ließ und geduldig abwartete. Sarah hatte ihre Großmutter seit den letzten Semesterferien nicht mehr gesehen, doch sie wusste, dass sie hier immer herzlich willkommen war.
Noch vor dem Morgengrauen hatte Sarah auf Zehenspitzen das warme Futonbett verlassen, in dem Paul schnarchend schlief, um ihn nicht zu wecken.
Paul war ihr erster fester Freund, mit dem sie sich über ein Jahr eine Wohnung geteilt hatte. Sie kannten sich vom Studium und lernten sich bei einer der Vorlesungen kennen, wo sie sich auf Anhieb verstanden und die Sympathie auf beiden Seiten sofort spürbar war. Von da an machte Paul ihr tagtäglich den Hof, lud sie zum Essen oder ins Kino ein, half ihr beim Studium oder verwöhnte sie mit kleinen Aufmerksamkeiten wie Blumen oder einem gemeinsamen Frühstück bei McDonalds und wich kaum noch von ihrer Seite. Nach anfänglicher Zurückhaltung, doch zugleich beeindruckt von seiner Beharrlichkeit, verliebte Sarah sich zunehmend ein bisschen mehr in Paul und genoss jeden Tag seine Liebesbemühungen aufs Neue. Bald darauf verbrachten sie ihre erste gemeinsame Nacht und der Sex mit ihm war schön. Sarah genoss die ausgewogene Harmonie zwischen ihnen. Für sie war klar, ihre Beziehung zu diesem Mann sei für die Ewigkeit. Paul gab ihr mehr als einmal das Gefühl, dass sie seine Nummer Eins im Leben war.
Zumindest hatte Sarah das bis zu jenem Abend geglaubt, als ihre heile Welt plötzlich und vollkommen unerwartet aus den Fugen geriet.
Doch an jenem schrecklichen Morgen, als sie der Hansestadt den Rücken zugekehrt hatte, war sie völlig übermüdet ins Badezimmer geschlichen, um geschwind in ihre blaue Jeans zu schlüpfen und Wollsocken und Pullover überzustreifen. Nachdem sie nur flüchtig die Zähne geputzt und das Gesicht erfrischt hatte, warf sie einen prüfenden Blick in den runden Spiegel, der über dem Waschtisch neben der Tür hing, um ihre langen braunen Haare zu bändigen und ein wenig Wimpertusche aufzutragen. Doch als sie ihr Spiegelbild sah, erschrak sie selbst. Ihre Augen waren rot gerändert und ihre Lider geschwollen. Zu viele Tränen hatten unverkennbare Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen. Aber darum hatte sie sich nicht kümmern können. Zum Nachdenken würde sie genug Zeit haben, wenn sie bei ihrer Großmutter in Bayern war.
Eilig hatte sie ein paar Pflegeutensilien in ihrer Waschtasche verstaut. Einige Kleidungsstücke und Habseligkeiten aus Kommoden und Schränken, die ihr lieb und teuer waren, landeten ebenfalls in ihre Koffer. Hastig zog sie Stiefel und Wollmantel über.
Bevor Sarah den Autoschlüssel aus der Schale genommen hatte, die auf der weißen Flurkommode stand und den Wohnungsschlüssel an dessen Stelle legte, hatte sie sich rasch noch einen kleinen Zettel und einen Stift geschnappt, um mit zittriger Hand Abschiedsworte an Paul zu schreiben.
‚Ich verlasse dich. Du hast mein Vertrauen missbraucht. Leb wohl und werde glücklich mit Meike. S.’
Tränen rannen über ihre Wange und benetzten das Papier.
Bedeutungsvoll hatte sie diesen Zettel zu ihren Wohnungsschlüssel gelegt. Es war nicht mehr ihr Schlüssel und auch nicht mehr länger ihr zu Hause. Damals wusste sie noch nicht, dass sie diese Wohnung nie wieder betreten würde.
So hatte Sarah an jenem Dezembermorgen die Hamburger Stadtwohnung verlassen und die Tür mit einem Knarzen hinter sich ins Schloss gezogen.
Was ihr blieb, war ein tiefer Riss mitten in ihrem Herzen.
Gedankenverloren hatte Sarah Jensen, die Germanistikstudentin aus Hamburg, im Buchladen ihrer Großmutter gesessen und nicht recht gewusst, wie es weitergehen sollte. Sie fror und hatte am ganzen Körper gezittert, nicht nur wegen der eisigen Winterkälte. Sie hatte eine Leere in sich verspürt, die sie in ihrem Leben bis dahin nicht gekannt hatte.
Sarah erinnerte sich noch genau, mit wie viel Liebe Marianne diesen kleinen Laden weihnachtlich geschmückt hatte. Zum ersten Mal an jenem Tag hatte sich ein Lächeln um ihren Mund gelegt.
Überall im Raum waren kleine Weihnachtsgestecke mit Kerzen verteilt. Das große Schaufenster schmückte ein riesiger Schwippbogen, an dessen Seiten wunderschöne Engel mit weiß lockigem Haar und einer Kerze in der Hand thronten. Noch heute vernahm Sarah den Duft nach Räucherkerzen und Zimtstangen, die auf dem Kassentresen platziert waren. Über dem Türrahmen hatte Marianne eine künstliche Tannengirlande mit einer gelb leuchtenden Lichterkette und mit großen roten und goldenen Kugeln angebracht. Liebevoll hatte sie alles dekoriert. Die Bücherregale waren übersichtlich nach Themen sortiert. Am Eingang stand ein Regal, indem man kleine Accessoires wie Schneekugeln, Weihnachts- und Ansichtskarten, Kerzen oder Kalender finden konnte. Weihnachtssterne mit ihren roten und grünen Blättern verzauberten in allen Ecken und Winkeln den Buchladen. Ein Hauch von Weihnacht hatte zu jener Zeit in der Luft geschwebt.
Genau auf dieselbe Art und Weise hatte Sarah auch in diesem Jahr das kleine Lädchen geschmückt.
Wehmut beschlich sie. Trotz ihrer damals neunundsechzig Jahre sah Marianne immer noch sehr gut aus. Sie hatte die schon ergrauten Haare stets zu einem Dutt hochgesteckt, trug ein dezentes Makeup und Mascara. Auf ihren Lippen schimmerte täglich ein rosa Lippenstift. Oft trug Marianne ihre Lesebrille auf dem Kopf, was ihr gebildetes Wesen zum Vorschein brachte. Sarah hatte diese Frau geliebt, seit sie denken konnte.
Ganz früher hatte Marianne in einem bekannten Verlag in München als Lektorin gearbeitet. Dort lernte sie auch Gustav kennen, Sarahs Großvater. Sarah hatte ihren Großvater jedoch nie kennengelernt, da er kurz nach der Geburt von Sarahs Mutter Elisabeth durch einen schweren Verkehrsunfall ums Leben kam. Seitdem hatte Marianne alleine gelebt und Sarahs Mutter ohne Unterstützung groß gezogen. Ein paar Jahre nach Elisabeths Geburt gab Marianne ihren Beruf auf und kümmerte sich nur noch um ihre Tochter. Bis sie eines Tages beschloss, von dem Geld, das sie aus der Lebensversicherung ihres Mannes erhalten hatte, einen kleinen Buchladen zu eröffnen, in den sie ihre ganze Liebe und Energie stecken wollte, weil Bücher und Lesen ihre große Leidenschaft waren. Genauso wie bei Sarah. Marianne hatte mit einem bisschen Glück diesen Laden samt Gebäude erworben, in dem sie bis zu ihrem Tode lebte.
„Sarah, möchtest du mir nicht erzählen, was passiert ist?“, hatte Marianne ihre Gedanken unterbrochen. „Ich freue mich sehr, dich zu sehen, aber nicht so, wie du im Moment ausschaust.“
Sarah hatte ihre Großmutter aus verweinten Augen angesehen und zaghaft den Kopf geschüttelt.
„Nicht heute, bitte. Darf ich eine Weile bei dir wohnen?“
Bittend hatte sie die Großmutter angeschaut. Denn damals wusste sie nicht, wo sie sonst bleiben und wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte.
Warum hatte Paul ihr so wehgetan? Sarah hatte sich bei dem Gedanken an Paul verschluckt. Bilder des Abends ließen sie nicht zur Ruhe kommen.
„Natürlich kannst du bei mir bleiben, so lange du möchtest. Und wenn du bereit bist zum Reden, dann werde ich da sein und dir zuhören.“
„Danke“, war das einzige Wort, was sie zu diesem Zeitpunkt über die Lippen brachte, da ihre Kehle wie ausgetrocknet war.
Liebevoll und mitfühlend hatte Mariannes knochige Hand über Sarahs Kopf gestreichelt. Dann hatte sie ihren Rock gerafft und war wortlos zum Kassentisch gegangen, um den Schlüssel zu ihrer Dachwohnung zu holen und ihn ihrer Enkelin in die Hände zu drücken.
„Du weißt ja Bescheid. Geh rauf und nimm dir ein heißes Bad. Das wird dir guttun. Ich werde nach Ladenschluss heraufkommen und nach dir schauen. Aber zuvor trinkst du deinen Tee.“
Nachdem Sarah ihre Teetasse geleert hatte, nahm sie ihre beiden Koffer und verließ mit herab hängenden Schultern durch den Seiteneingang den Buchladen. Von dort aus gelangte man direkt zum Treppenaufgang in die kleine, aber gemütliche Dachwohnung. Bevor sie jedoch die Tür hinter sich ins Schloss zog, hatte sie sich noch einmal umgedreht und in die warmherzigen Augen ihrer Großmutter gesehen.
Schon als kleines Kind hatte Sarah dieses Haus mit den zwei kleinen Wohnungen und dem Buchladen gemocht. Es strahlte Ruhe und Behaglichkeit aus. Hier hatte sie sich seit jeher wohl und geborgen gefühlt.
Als sie die Treppenstufen hinauf gegangen war, war sie kurz vor der Wohnungstür stehengeblieben, um den Duft, den dieses Haus stets verströmte, tief einzuatmen. Mit einem vertrauten Gefühl betrat sie ihre neue Bleibe.
Sarah hatte lange vor dem großen Dachfenster gestanden, das die gesamte Wandbreite einnahm. Über die weißen Dächer von Garmisch-Partenkirchen hatte man tagsüber einen wundervollen Ausblick auf die verschneiten Bergspitzen der Alpen. Doch nun hatte sich die Dunkelheit über das Alpenstädtchen und über Sarahs Herz gelegt.
Sarah hatte die Augen geschlossen und eine Ruhe, die sich in ihrem Körper ausbreitete und die sie so dringend benötigte, verspürt.
Ihr Handy, welches aus der Manteltasche gefallen war, hatte ihr gezeigt, dass mindestens zehn Anrufe in Abwesenheit darauf waren. Ihr war durchaus bewusst gewesen, wer der hartnäckige Anrufer war. Paul hatte mehrmals versucht, sie zu erreichen. Nach kurzer Überlegung schob sie das Telefon zurück in die Manteltasche. Sie wollte nicht mit ihm reden, nie wieder. Ihre Enttäuschung war einfach zu groß.
Wieder hatte sich dieser unbekannte Schmerz in ihrer Brust breitgemacht. Kraftlos und völlig übermüdet war sie in das angrenzende Badezimmer gegangen und hatte das getan, wozu ihre Großmutter geraten hatte. Während sie ein ausgiebiges Schaumbad nahm‚ stellte sich ihr immer und immer wieder dieselbe Frage:
‚Warum hat er mir das angetan, warum hat er mich so verletzt?’`
Doch die Antwort blieb er ihr schuldig, bis zum heutigen Tage.
Sein Verrat an ihrer Liebe blieb ein Rätsel, dessen Lösung sie nur bekommen hätte, wenn sie mit ihm geredet hätte. Aber dazu hatte ihr die Kraft gefehlt. Zu tief war der Schmerz, der sich wie eine frostige Hand um ihr Herz gelegt hatte.
Es dauerte Monate, bis ihre Wunden verheilt waren, aber die Narben saßen tief. Um sich selber zu schützen, hatte sie eine Mauer um ihr Herz und ihre Seele errichtet, die mächtiger und stärker war, als sie nur mit einem Hammer einreißen zu können.