Читать книгу Wetteinsatz mit bittersüßem Beigeschmack - Ive Holt - Страница 6
- Drei -
Оглавление‚Oh, Mann, welchen Tag haben wir heute?‘ Schlaftrunken zog Sarah die Bettdecke von ihrem Kopf, öffnete die Augen mit einem Blinzeln und besann sich, wo sie gerade war. Vorsichtig auf die Seite drehend sah sie zum Wecker auf dem Nachttisch, der sie mit seinem rücksichtslosen Piepton ins Hier und Jetzt zurückgeholt hatte, und drückte ihn aus. Sie musste unter der Decke noch einmal eingenickt sein, denn die Anzeige des Weckers zeigte unmissverständlich, dass es bereits halb zehn war. Samstag! Verdammt! Um neun wollte sie im Laden sein, halb zehn aufschließen. Als ihr klar wurde, dass sie verschlafen hatte, riss sie die Augen sperrangelweit auf.
Sarah sprang aus dem Bett und merkte, dass sie ziemlich wackelig auf den Beinen war. Das letzte Bier gestern im Pub war also doch schlecht gewesen! Während sich ihr Magen drehte und sie nach Luft schnappte, rannte sie eilig ins Bad. Gegen den Schwindel ankämpfend kniete sie sich über die Toilettenschüssel und erbrach sich prompt. Sie spürte, wie ihr am ganzen Körper der Schweiß ausbrach, ein Schauer durchlief sie. Himmel, war ihr übel!
Als der Würgereiz endlich nachließ, richtete sie sich langsam auf, um einen Schwindelanfall zu vermeiden. Schleppend ging sie zum Waschtisch. Ein paar Spritzer Wasser ins Gesicht taten ihr gut. Beide Hände auf den Tisch stützend betrachtete sie ihr Spiegelbild und allmählich schlichen Erinnerungsfetzen des letzten Abends in ihren Brummschädel: der Pub, ihre Freunde, Mark, Daniel.
Bei dem Gedanken an Daniel Hochkamp blieb ihr fast die Luft weg. Dieser Mann war einfach atemberaubend schön. Allein bei der bloßen Vorstellung seines Anblicks überkam sie ein angenehmes Kribbeln. Ihr Puls begann mal wieder zu rasen.
Im Geiste sah sie ihn vor sich. Er überragte sie um mindestens eine Kopflänge und hatte eine athletische Figur, muskulös und dennoch schlank. Er trug seine dunklen, ja fast schwarzen Haare kurz, aber nicht zu kurz im Nacken, und hatte sie nach hinten gestylt. Der Ansatz seiner Koteletten führte hinab zu einem Dreitagebart, was Sarah ziemlich sexy fand. Die Erinnerungen an seine blaugrauen Augen und seinen sinnlichen Mund ließen das Blut zwischen ihren Schenkeln heißer und schneller fließen. Sie konnte immer noch die Berührung seiner Hände auf ihren spüren. Wie konnte es sein, dass es so einen sexy Mann auf diesem Planeten gab, dass allein schon der bloße Gedankenflug an ihn sie so erregte?
Aber Stopp, sie musste damit aufhören! Doch das war leichter gesagt als getan.
Allein die Tatsache, wie Daniel Melanie Hansen in den Pub führte, ließ darauf schließen, dass die beiden mehr miteinander verband, als nur eine geschäftliche Beziehung. Ihr fiel bereits gestern auf, dass sie ein hübsches Paar abgaben und in einer höheren Liga spielten als sie selbst. Sarah gab sich nicht der Illusion hin, dazuzugehören. Ihr war bewusst, dass Daniel ein Stern am Himmel war, den sie niemals zu greifen bekäme.
Hoffnungslos schüttelte Sarah bei der Vorstellung, wie unerreichbar er für sie war, den Kopf. Und doch sagte ihr Instinkt, dass auch er nicht ganz abgeneigt von ihr war, und das bezog sich nicht nur aufs Geschäftliche. Möglicherweise beruhte diese Anziehung zwischen ihnen auf Gegenseitigkeit. Denn wie er sie angesehen hatte, als ihr das Missgeschick mit dem Barhocker passierte! Diese Augen! Das Leuchten darin glich den seichten Wellen eines Ozeans. Wahnsinn! Sie hätte sich den ganzen Abend in ihnen verlieren können. Doch halt! Ihre Gedanken schweiften schon wieder in die verkehrte Richtung und waren kaum mehr zu kontrollieren. Sie musste sich zusammenreißen, schließlich hatte sie einen Job zu erledigen, der sich nicht verschieben ließ. Es wurde höchste Zeit, in die Puschen zu kommen. Sie war spät dran.
Wie aus einem Traum erwachend wandte sie den Blick vom Spiegel und begann mit der Morgentoilette. Ihr Magen hatte sich beruhigt und sie hoffte, den Tag einigermaßen zu überstehen.
Nachdem sie ihr Haar gebändigt hatte und es zu einem Zopf band, ging sie ins Schlafzimmer zurück. Schnell schüttelte sie die Decke ihres Doppelbettes aus und nahm sich anschließend frische Unterwäsche aus der Kommode. Sie schlüpfte in ihre Sachen, streifte sich Bluejeans und eine weiße, langärmlige Bluse über.
Als sie in den Wohnbereich mit integrierter Küche kam, schnappte sie nach ihrem Handy und verließ zügig die Wohnung. Zum Frühstücken war heute einfach keine Zeit mehr. Außerdem war ihr Magen noch nicht bereit für irgendwelche feste Nahrung, er würde mit aller Wahrscheinlichkeit rebellieren.
Sarah schloss die Tür zum Buchladen auf, schaltete die Weihnachtsbeleuchtung ein und ging wie jeden Morgen als erstes in die Küchennische, um einen Tee zu kochen. Ausnahmsweise gab sie Kamillentee den Vorzug, ihr Magen würde es ihr danken.
Mit der dampfenden Teetasse in der Hand ließ sie sich an den kleinen Tisch nieder und machte es sich noch ein paar Minuten in einem der Korbsessel ihrer Großmutter bequem, bevor die ersten Kunden eintrafen. Seit dem Tod von Marianne hatte sie nichts an der Einrichtung und dem Stil geändert, sie mochte es so, wie ihre Großmutter es ihr hinterlassen hatte.
Traurigkeit schlich sich in ihr Herz, als sie daran dachte, dass ihre Großmutter ohne Vorerkrankungen eines Morgens nicht mehr aufgewacht war. Sie starb einfach so in jener Nacht. Die Ärzte, die damals nach Sarahs Notruf in kürzester Zeit anrückten, konnten nichts mehr für Marianne tun. In der Nacht hatte ihr Herz einfach aufgehört zu schlagen. Sarah würde diesen Anblick nie vergessen, als sie ihre Großmutter im Bett fand und sie aussah, als würde sie friedlich schlafen.
Es dauerte Wochen, bis Sarah der Tatsache ins Auge blicken konnte, dass Marianne nie wieder zurück kommen würde, aber verwunden hatte sie diesen Schmerz bis heute nicht. Eine viel zu große Lücke hinterließ ihre Großmutter und niemand konnte sie schließen. Seit jenem Tag ging Sarah in den Buchladen, weil sie nur hier das Gefühl hatte, ihr weiterhin nahe zu sein. So kam es, dass sie automatisch den Geschäftsbetrieb am Laufen hielt, worüber die Stammkunden sehr erfreut waren, und sie die Rolle der Geschäftsinhaberin übernahm.
Als die Türglocke bimmelte, schrak Sarah aus ihren trüben Gedanken. Mehrere Kunden kamen bis zur Mittagszeit in den Laden und sahen sich nach Büchern um. Hier und da verkaufte sie verschiedene Exemplare, beriet ihre Kunden oder bestellte nicht vorrätige Bücher online. Zeit zum Verweilen blieb ihr nicht. Schließlich verging der Vormittag wie im Fluge und Sarah schloss pünktlich zur Mittagszeit den Buchladen ab. Geschafft! Endlich fand sie ein paar Minuten zum Verschnaufen. Sie hatte jede Menge zu tun gehabt, da am Wochenende die meisten Leute die Zeit zum Einkaufen fanden. Schließlich stand Weihnachten vor der Tür und ein Buch als Geschenk war in diesen Tagen mehr denn je gefragt.
Der Tag wurde hinsichtlich ihrer körperlichen Verfassung besser und ihr Kater von der gestrigen Kneipennacht verzog sich.
Kneipennacht, herrje! Die Erinnerungen an den Abend schossen ihr urplötzlich wieder ins Gedächtnis. Ihr erster Gedanke galt dem Mann, der sie allein mit seiner Anwesenheit so durcheinander gebracht hatte. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Sarah wollte sich keinen falschen Illusionen hingeben. Es würde nichts bringen, Daniel Hochkamp war ja bereits liiert. Schlagartig war ihre gute Laune über den erfolgreichen Vormittag wie weggeblasen.
Und dann kam ihr die Verabredung mit den Freunden auf der Skipiste in den Sinn. Wie konnte sie sich nur so von ihnen einlullen und sich zu dieser Aktion überreden lassen? Immer wieder gelang es ihren Freunden, Sarahs Widerstand zu brechen und sie zu irgendwelchen Aktionen mitzureißen. Aber versprochen war nun mal versprochen, daran hielt sie sich.
Bei weihnachtlicher Musik, die im Radio dudelte, räumte Sarah den Laden auf und ging dann ohne Eile über den Treppenaufgang im Haus in ihre kleine Dachwohnung. Oben angekommen verspürte sie, wie ihr Magen sich zu Wort meldete und beschwerte, weil er noch keinen Happen zu essen bekommen hatte, sondern nur Flüssignahrung in Form von Kamillentee. Das musste sie schleunigst ändern. Flink holte sie ein paar Eier und Speck aus dem Kühlschrank und erhitzte die Pfanne auf dem Herd. Sie briet den Speck, gab die Eier dazu und würzte großzügig mit Pfeffer und Salz. Es dauerte nicht lange und die Rühreier waren fertig, die Sarah binnen weniger Minuten mit gesundem Appetit verschlang. Erst jetzt bemerkte sie, wie hungrig sie wirklich war.
Gesättigt von dem schnellen, aber für ihr Kochtalent sehr leckeren Gericht, schob sie das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler und machte kehrt in Richtung Schlafzimmer. Sie verspürte keinen Drang, heute überhaupt noch das Haus zu verlassen, geschweige denn sich mit den Freunden auf der Piste zu treffen, um waghalsige Abfahrten zu unternehmen. Am liebsten würde sie faul auf ihrer Couch mit einem Buch liegen und einfach nur chillen. Die Nachwehen des Abends steckten noch immer in ihren Gliedern, sie fühlte sich ziemlich schlapp und übermüdet.
Widerstrebend griff Sarah nach der weißen Skihose und Jacke in ihrem Kleiderschrank und presste sich in die Hose rein.
Letzten Winter hatte ihr Jessica diese Sachen überlassen, weil es für Jessica nach einem Jahr Zeit war, sich in Sachen Skimoden den aktuellen Trends anzupassen. Zweimal im Jahr war es für ihre Freundin Pflichtprogramm, ihr Riesenteil von Kleiderschrank auszusortieren, um Platz für die neusten Trendklamotten zu schaffen. Sarah war die Auserkorene, die Jessica beim Shopping-Marathon begleiten durfte. Meist suchte Jessica hierfür einen verkaufsoffenen Sonntag aus, sodass Sarah sich nicht mit der Ausrede drücken konnte, immerfort arbeiten zu müssen. An solchen Tagen war Sarah der festen Überzeugung, dass alles reine Verschwendung war, aber Jessica ließ sich nicht beirren, sie liebte diese Shoppingtouren.
Mit Müh und Not schloss sie den Reißverschluss ihrer Hose und fühlte sich wie eine Presswurst in diesem Teil. Jessica war viel schlanker und größer, sodass Sarahs Hände und Füße in diesen Teilen kaum zum Vorschein kamen. Zu guter Letzt nahm sie die monströsen Skischuhe, die Skibrille und die Handschuhe aus dem Schuhschrank und machte sich auf den Weg in den Kellerraum, um Skier und Skistöcke, die sie ebenfalls von Jessica ersteigert hatte, zu holen.
Kurz nach zwei Uhr traf Sarah bei der Skihütte ein und begrüßte die Freunde, die sie freudig in Empfang nahmen, mit einem kleinen, aber fröhlichen Murren. Um sie herum bewegte sich ein buntes Gewirr aus Menschen auf den Skilift zu, alle wollten die erste Gelegenheit dieses Winters zum Skifahren nutzen.
Es war ein herrlicher Tag, die Wintersonne schien am blauen Himmel und der Schnee glitzerte auf den Bäumen, Sträuchern und Häuserdächern. Aus den Lautsprechern der Skihütte drang AprèsSki Musik, was Sarahs Laune besserte. Es wird schon nicht so schlimm werden, sprach sie sich selber Mut zu.
„Na dann lasst uns mal starten, ich habe die Skipässe und Karten für uns bereits geholt“, sagte Jessica und verteilte sie an die anderen. Gefolgt von Tom stapfte sie voraus in Richtung Lift.
Mark, der immer noch keinen Fuß vor den anderen gesetzt hatte und wie angewurzelt neben Sarah verharrte, sah sie mit fragendem Blick an.
„Bist du okay? Hast du gut geschlafen? War wohl doch ein Bier zu viel?“ Ein zaghaftes Lächeln trat um seinen Mund.
„Ging so“, antwortete sie achselzuckend. Momentan verspürte sie keine Lust auf irgendwelche Erklärungen zum gestrigen Abend. Schließlich war sie zu nichts verpflichtet.
„Na los, dann auf zum Skifahren. Die beiden da vorne können es gar nicht abwarten. Und du sicherlich auch nicht?“, versuchte Mark zu scherzen.
Sarah verdrehte genervt die Augen. „Ich werde heute alle Rekorde brechen“, antwortete sie lakonisch.
„Fragt sich nur welche!“ Mark konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und Sarah stimmte letztlich mit ein. Sie wollte ihren Frust nicht mit auf die Piste nehmen, sondern Spaß haben und hoffentlich auch unfallfrei ins Ziel kommen. Also packte sie ihre Skier über die Schulter und folgte zuversichtlich den anderen beiden mit Mark im Schlepptau.
Am Lift angekommen mussten sie noch eine Weile warten, bis sie an der Reihe waren. Überall drängten sich die Leute zum Lift, es waren optimale Bedingungen für die Abfahrt.
Tom drehte sich zu ihnen um. „Wie abgemacht bleiben wir heute an deiner Seite. Sozusagen als Patrouille.“
„Das will ich hoffen, sonst werde ich nie wieder mitkommen.“ Lächelnd und drohend zugleich hob Sarah die linke Faust.
Dann waren sie endlich an der Reihe. Jessica und Tom stiegen zuerst in den Lift, stellten Skier und Stöcke in den eigens dafür vorgesehenen Schacht und nahmen nebeneinander Platz. Mark und Sarah folgten. Da Sarah mit Stöcken und Skiern zusammen jedoch nicht klar kam, half Mark ihr selbstverständlich, dann setzten sie sich den beiden gegenüber.
Während der Lift seine Fahrt hinauf in die Berge nahm, bestaunte Sarah verträumt die herrliche Landschaft, die sich unter ihr auftat, und hing ihren Gedanken an den gestrigen Abend nach.
Tom plapperte ununterbrochen darüber, wie nett der Abend noch war. Allerdings leisteten nur Richard und Alexander ihm und Jessica Gesellschaft. Melanie und Daniel tranken ihr Bier aus und verließen ebenfalls kurz nach Sarahs und Marks Abgang den Pub. Sarah folgte Toms Schilderungen nur mit halbem Ohr. Vor ihrem geistigen Auge erschienen unschöne Bilder, wie Daniel Melanie nach Hause gebracht hatte. Was danach passierte, wollte sie sich lieber erst gar nicht ausmalen. Ihr schoss durch den Kopf, dass Daniel womöglich ähnliche Gedanken hegen könnte, dass Sarah und Mark ein Paar waren und Mark sie gestern nicht nur nach Hause begleitet hatte. Naja, möglich wäre es ja! Denn wenn sie sich nicht irrte, hatte er sie und Mark mit einem gewissen Interesse beobachtet.
Obwohl Sarah wusste, dass Mark sich zu ihr hingezogen fühlte, hatte sie ihn nie in die Schranken gewiesen. Es war ja nicht so, dass er sie jemals bedrängt hätte. Hin und wieder gab es ein oder zwei Küsse, aber das war schon alles. Wenn Sarah ehrlich zu sich selber war, gefiel es ihr in gewisser Weise. Nach zwei Jahren Abstinenz hatte sie schließlich auch Bedürfnisse. Aber zu mehr war sie bis jetzt nie offen gewesen.
Bei ihrer ersten Begegnung fand sie Mark sofort ansprechend. Sarah erinnerte sich an die Zeit zurück, als ihre Großmutter starb. Ihre Freunde waren ihr eine große Stütze in der schweren Zeit. Besonders Mark. In den ersten Wochen nach Mariannes Tod stand er jeden Tag vor ihrer Tür, sobald er fertig mit seiner Arbeit war. Er verzichtete auf freizeitliche Sportaktivitäten, nur um bei ihr zu sein. Am Tag der Beerdigung wich er nicht mehr von Sarahs Seite, blieb sogar über Nacht bei ihr. Er schlief auf dem Sofa und sie in ihrem Bett. Mark half nicht nur bei der Erledigung aller Formalitäten, die eine Beerdigung so mit sich brachte. Jede Träne, die sie weinte, wischte er von ihren Wangen und nahm sie tröstend in seine Arme.
Wochen später, als Sarah den endgültigen Entschluss fasste, hier in Garmisch sesshaft zu werden und den Laden ihrer Großmutter zu übernehmen, halfen die drei Freunde tatkräftig mit, Mariannes Wohnung auszuräumen und zu renovieren. Mark kümmerte sich darum, dass viele Sachen wie Möbel, Lampen oder Geschirr auf einen Antikmarkt landeten und nicht zu Sperrholz verarbeitet oder im Müll entsorgt wurden.
In dieser schweren Zeit war sie ihm und den anderen sehr dankbar für die Unterstützung. Alleine hätte sie es nie geschafft, sich von den Dingen, die ihrer Großmutter gehörten, zu trennen. Mark war auch derjenige, der dafür sorgte, dass Sarah so bald wie möglich einen Mieter für die Wohnung fand. Und so stand eines Tages unerwartet Patrick mit seinem Gepäck im Laden und stellte sich ohne Umschweife als neuer Mieter vor. Bis dahin lebte er in einer WG und wollte endlich ein eigenes Zuhause. Mark kannte ihn schon länger und wusste, dass Patrick ein anständiger und zuverlässiger Kerl war. Sollte Sarah mal Probleme in dem für sie zu großem Haus haben, konnte sie jederzeit mit seiner Hilfe rechnen. Außerdem war es für Mark beruhigend, zu wissen, dass Sarah männlichen Beistand hatte.
Sarah war angetan von Marks Nähe, seiner Fürsorge, seiner Freundschaft. Aber ihr war auch klar, dass dies alles irgendwann nicht mehr für ihn reichen würde. Anfangs glaubte sie, dass er ihr nur eine Stütze sein wollte. Aber bald wurde ihr klar, dass tiefere Gefühle im Spiel waren. Er wollte mehr von ihr, ließ ihr aber alle Zeit der Welt. Sie fühlte sich geschmeichelt bei diesem Gedanken. Doch sein Auftreten am vergangenen Abend im Pub gab ihr zu denken. Er stellte mit einer Selbstverständlichkeit Besitzansprüche, die ihm gar nicht zustanden. Sie musste klare Verhältnisse schaffen, denn sie wollte Mark als Freund nicht verlieren.
Nie hatte Sarah ihm wirklich Anlass zur Hoffnung gegeben, ihm aber auch nicht gezeigt, wo seine Grenzen waren. Trotzdem hatte sie sich nichts zu Schulden kommen lassen. Okay, der ein oder andere Kuss, aber das lag Ewigkeiten zurück. Gestern war Mark verärgert gewesen und sie ahnte, warum. Wahrscheinlich hatte er diese Anziehungskraft zwischen Daniel und ihr gespürt, die förmlich zum Greifen in der Luft lag.
Sie musste Mark gegenüber fair bleiben und endlich mit offenen Karten spielen, und somit verhindern, dass er etwas von ihr erwartete, was sie nicht bereit war zu geben. Ebenso würde sie ihm zu verstehen geben, dass genauso wenig zwischen ihnen sein würde wie zwischen Daniel Hochkamp und ihr.
An der Zwischenstation angelangt sprangen Jessica und Tom aus dem Skilift, nahmen ihre Skiausrüstung und stapften voran. Sarah und Mark folgten schweigend. Hier oben war es einfach wunderbar. Die Berglandschaft, die sich vor ihnen auftat, war atemberaubend schön. Die Luft war klar und rein, keine stinkenden Abgase verpesteten die Atmosphäre und kein Fahrzeuglärm war zu hören. Die Sonne leuchtete am strahlendhellen blauen Himmel und der Schnee schimmerte blendendweiß. Es waren die optimalen Wetterbedingungen. Skibegeisterte Einheimische und Touristen tummelten sich auf den Pisten und sausten bereits die Hänge hinab.
Am Steilhang angekommen, blieben die Vier stehen und schauten in Richtung der vielen Pisten.
„Dir zuliebe fangen wir klein an, also auf geht’s. Schnall dir die Bretter an, wir sind bereit.“ Binnen weniger Sekunden war Tom abfahrbereit.
Sarah tat wie Tom befohlen und stützte sich bei Mark ab. Tom hielt derweil ihre Skistöcke. Als Sarah startklar war, rückte sie ihre Brille zurecht und nahm Tom die Stöcke ab. Bloß nicht stürzen, schoss es ihr immer wieder durch den Kopf. Jessica, Tom und Mark waren ebenfalls bereit und einigten sich auf einen einfachen Abhang.
Links und rechts schossen bereits die ersten Skifahrer an ihnen vorbei und Sarah wurde es schlagartig flau im Magen.
„Na los Schneehase, bist du bereit?“ fragte Tom mit einem Lächeln, das beinahe seine Ohren erreichte, in Sarahs Richtung. Er stellte sich vor ihr und ging in Position. Sarah nickte ihm zu und Mark gesellte sich an ihre linke Seite.
„Auf geht’s“, hörte sie Jessica noch rufen und schon war ihre Freundin losgeprescht. Mit ein paar kräftigen Stößen in den Schnee nahm sie die Fahrt auf. Tom setzte sich ebenfalls langsam in Bewegung, immer darauf bedacht, Rücksicht auf Sarah zu nehmen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch folgte Sarah ihm. Neben sich sah sie aus den Augenwinkeln, wie Mark ebenso Schwung aufnahm. Wenn Sarah die Männer so beobachtete, wunderte sie sich einfach nur, dass es bei ihnen so einfach aussah, als wären sie auf Skiern zur Welt gekommen. Etwas wacklig auf den eigenen Beinen ging die Fahrt ins Tal. Zum Glück hatte Tom eine Strecke ausgesucht, die nicht sehr steil war, sodass sich ihre Geschwindigkeit in Grenzen hielt. Durch die Schlängellinien drosselte er noch einmal das Tempo. Sarah sah konzentriert auf Tom und folgte seinen Bewegungen. Sie spürte aber, wie andere Abfahrer mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbeirauschten.
Abgelenkt und unkonzentriert übersah sie den kleinen Schnitzer im Schnee und kam plötzlich ins Straucheln, weil ihr Ski sich in dieser Delle verkantete. Doch Mark war sofort zur Stelle, griff nach ihrem Arm und hielt sie, damit sie das Gleichgewicht wieder fand und nicht stürzte.
Nach endlosen Minuten erreichten die drei ohne weitere Zwischenfälle das Tal, wo Jessica sie bereits erwartete. „Na, wie hat es euch gefallen? Unglaublich, oder?“
„Wie soll es schon gewesen sein? Super natürlich! Und ohne Sturz!“ Sarah reckte stolz das Kinn. „Aber in der B-Note werde ich nie eine sechs erhalten.“ Sarah schmunzelte, zufrieden mit ihrer Leistung, und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Nach diesem anstrengenden Teil wollte sie erst einmal ein wenig verschnaufen. Schließlich machte sie das nicht alle Tage. Doch die Freunde ließen ihr kaum mehr als fünf Minuten Zeit zum Durchatmen.
„Auf geht’s!“, rief Tom über die Schulter und sah in das vor Anstrengung gerötete Gesicht Sarahs. „Nicht schlappmachen, der Spaß hat erst begonnen!“
Alle lachten auf, doch Sarah verdrehte die Augen, denn es ging schon wieder zum Skilift.
In derselben Konstellation fuhren sie den Berg hinauf und wiederholten das Ganze noch zweimal.
Wider Erwarten gefiel es Sarah zunehmend mehr, allmählich machte ihr die Sache Spaß. So langsam kam sie in Fahrt, zumindest für ihre Verhältnisse hatte sie es schon relativ gut drauf.
Nicht einmal stürzte sie oder rutsche auf ihrem Po den Abhang hinunter und gab somit den Freunden keinen Grund, sich über ihren Schneehasen lustig zu machen. Dieses Mal würde sie keine blauen Flecke davontragen.
Nach ihrer letzten Runde standen sie am Lifteingang und Jessica schaute auf Tom und Mark.
„Was haltet ihr davon, weiter hoch zufahren, um die schwarze Piste ins Tal zu nehmen?“
„Was?“, platzte es aus Sarah heraus. „Mir genügt die Abfahrt vom Mittelhang.“
Sie sah in die Gesichter ihrer Freunde und ahnte, dass sie Lust auf mehr hatten. Mit schlechtem Gewissen wandte sie schließlich doch ein.
„Meinetwegen könnt ihr das machen, aber ich nicht. Einen Versuch wage ich noch und nehme dieselbe Strecke wie vorhin. Ich werde dann an der Skihütte auf euch warten, einverstanden? Mir reicht es dann für heute.“
„Du willst alleine den Abhang runter?“, bezweifelte Mark. „Kommt nicht in Frage! Ich bleibe an deiner Seite.“
„Musst du aber nicht, ich bin schon ein großes Mädchen und werde es auch ohne euch schaffen. Schließlich habe ich es jetzt drauf. Ich krieg das schon hin.“ Sie zwinkerte ihren Freunden zu und streckte den behandschuhten Daumen nach oben.
Widerstrebend schaute Mark sie an, hin und her gerissen von ihrem Angebot. Zögerlich gab er schließlich nach, da Jessicas Vorschlag zu verlockend war.
„Okay, einverstanden. Dann lasst uns starten. Wir treffen uns wie verabredet an der Hütte. Mal sehen, wer zuerst unten ist. Der Verlierer gibt anschließend einen aus. Aber bitte sei vorsichtig, Sarah, und spiel nicht die Heldin!“
Jessica machte ein erfreutes Gesicht, sie liebte diese riskanten Abfahrten genauso wie Tom und Mark, die von dieser Idee begeistert waren.
„Bist du dir sicher?“, wandte Mark noch einmal ein.
„Absolut“, gab Sarah prompt zur Antwort, obwohl sie sich nicht wirklich hundertprozentig sicher war. Doch das ließ sie sich nicht anmerken. Sie wollte ihren Freunden den Spaß nicht verderben.
Tom sah zu Sarah und dann wieder zu Mark. „Gut, eine Runde. Komm schon Mark, sie wird es ohne uns schaffen. Vielleicht holen wir sie ja unterwegs ein.“
Dieser Vorschlag schien für Mark akzeptabel, deshalb nickte er und reckte zur Bestätigung seinen rechten Daumen in die Höhe.
„Na dann los“, lenkte er schließlich ein und sie stellten sich in die Reihe am Skilift an.
Als die vier erneut den Mittelhang erreichten, half Mark Sarah beim Absprung aus dem Lift und winkte ihr nach.
Sarah stand alleine auf der Piste und sah den anderen hinterher. Wohl war ihr nicht, aber was sollte es, jetzt musste sie da hinunter. Augen zu und durch! Bisher hatte es doch auch recht gut geklappt. Voller Zuversicht schaute sie sich um, damit sie niemanden in die Quere kam und ging in Startposition, so wie sie es die anderen Male auch getan hatte.
Mittlerweile hatten sich die Pisten rasant gefüllt, ringsherum wimmelte es von bunten Abfahrern, manche schossen förmlich an ihr vorbei, andere wiederum schienen wie sie Anfänger zu sein. Allmählich beschlichen sie Zweifel, alleine heil den Hang hinunterzukommen. Hier oben mutterseelenallein auf Brettern zu stehen war etwas völlig anderes, als mit den Freunden als Eskorte gemeinsam den Abhang zu bewältigen.
Sarah wartete noch eine Weile und hoffte, dass sich eine größere Lücke zwischen den Fahrern auftat, dass sie genügend Platz hatte und die Abfahrt nehmen konnte. Am äußeren Rand der Piste verharrend sah sie ständig über die Schulter. Als schließlich nur ein paar Skifahrer kamen, nutzte sie die Chance und setzte sich mit ihren Skistöcken langsam in Bewegung. Stets darauf bedacht, immer schön im Slalom zu fahren, damit ihre Geschwindigkeit nicht zu hoch wurde, ging es auf wackligen Beinen den Berghang hinunter. Nach einigen hundert Metern fühlte Sarah sich bereits sicherer, sodass sie nun doch etwas entspannter auf den Brettern stand. Eigentlich machte es ihr wirklich Spaß und sie genoss zunehmend die Fahrt ins Tal.
Immer wieder wurde sie von mehreren skibegeisterten Abfahrern mit flotter Geschwindigkeit überholt, auch Mütter mit ihren Kindern waren schneller als sie. Aber davon ließ Sarah sich nicht beirren. Sie schaute zwar den anderen ein wenig neidisch hinterher, aber im Augenblick zählte nur, heil und vielleicht auch eher im Tal anzukommen als ihre Freunde. Denn sonst müsste sie eine Runde, vorzugsweise Glühwein, spendieren. Doch an Alkohol wollte Sarah im Moment nicht denken, sie hatte genug vom letzten Abend.
Abgelenkt von ihren Gedanken bemerkte sie die Eiskante auf ihrer Spur nicht. Ein Skier verfing sich darin und rutschte seitlich unter ihrem Fuß weg, sie geriet ins Schliddern. Mit rudernden Armen schaffte sie es nicht mehr, irgendwie zum Stehen zu kommen. Völlig verzweifelt versuchte sie, die Dinger unter ihren Füßen unter Kontrolle zu kriegen, doch sie rutschte mal mehr und mal weniger auf ihrem Hintern über die Strecke. Ansatzweise sah es so aus, dass sie die Kontrolle wiederfand, aber sie war einfach zu schnell und zog sogar eine Schneefontäne hinter sich her, immer weiter bergab.
Ein paar Fahrer hatten Glück und konnten ihrem Manöver ausweichen. Doch der nächste, den sie aus den Augenwinkeln heranrauschen sah, hatte nicht die leiseste Chance, da sie gerade um eine Kurve fuhr und er sie anscheinend von oben nicht sehen konnte. Ihre Wege kreuzten sich unweigerlich, als er mit einem Affentempo um die Kurve preschte und direkt in Sarahs Spur fuhr. Er riss sie von den Füßen und letztendlich landeten beide im harten Schnee. Erst wenige Augenblicke später realisierte Sarah, wie sie von jemandem umgerissen worden war, als sie den kräftigen Körper an ihrem Rücken spürte, auf dem sie nun wie ein Maikäfer lag. Glücklicherweise hatte er es geschafft, ihre Talfahrt so zu stoppen, dass sie nicht bäuchlings im Schnee landete und er auf ihr lag. Allmählich hatte Sarah all ihre Sinne wieder beisammen und spürte einen Schmerz in ihrem linken Fuß. Sie hob den Kopf und konnte sich einen leisen Aufschrei nicht verkneifen. Vorsichtig probierte sie, sich zu bewegen, um festzustellen, ob mit ihrem Körper, einschließlich des Fußes, alles in Ordnung war. Es schien nichts weiter gebrochen oder verletzt zu sein. Zum Glück! Da war nur dieser Schmerz in ihrem Fuß. Verzweifelt ließ sie den Kopf zurücksinken.
Dabei hatte anfangs alles so wunderbar geklappt, nicht ein Schnitzer während der Abfahrt. Und jetzt? Jetzt lag sie hier, auf der Piste, Himmel bewahr sie, mitten auf dem Bauch eines Fremden! Ging es schlimmer?
Ihr kam es schrecklich lange vor, wie sie dort auf dem Bauch des anderen Skifahrers verweilte. Durch ein lautes Fluchen unter sich aufgeschreckt, rollte sie sich umständlich zur Seite und befreite den Mann unter sich von ihrer Last. In null Komma nichts stand der Fremde über ihr, beseitigte die Schneeschicht von seiner Kleidung und blickte von oben auf Sarah herab.
Immer noch leicht benebelt von ihrem Sturz, wischte sie mit der Hand den Schnee von der Skibrille und sah direkt in ein Paar blaugraue Augen. Träumte sie oder stand da wirklich Daniel Hochkamp? Sah sie Gespenster oder war das hier der Himmel auf Erden?
Mein Gott, das waren die Augen, die ihr in den nächtlichen Träumen gefolgt waren. Was machte der denn hier auf der Piste?
Wut und Empörung standen in seinem Gesicht, weil seine Fahrt jäh unterbrochen wurde. Doch er schien bisher nicht zu erkennen, mit wem er zusammengerauscht war. Er klopfte sich weiterhin den Schnee vom Anzug und aus den Haaren und schob die Brille nach oben. Selbst in diesem neonblauen Skianzug machte er eine eindrucksvolle Figur. Dieser Mann hatte einen ungeheuren Sexappeal! Rasch senkte Sarah den Blick. Noch hatte er sie nicht erkannt.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, erkundigte sie sich mit tieferer Stimme und fasste sich automatisch an den linken Fuß. Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern konzentrierte sich vielmehr auf ihren Fuß und bewegte ihn abermals ganz vorsichtig. Wie es aussah, schien wirklich nichts gebrochen, doch der Knöchel tat ziemlich weh.
Über sich hörte sie ein grimmiges Brummen und Fluchen, sah, wie Daniel seine Stöcke in den Schnee rammte und die Skier löste, um sich neben sie zu nieder zu knien. Ihr wurde heiß und kalt, der Schmerz im Fuß geriet in den Hintergrund und wurde von anderen Gefühlen übermannt. Plötzlich wünschte sich Sarah, ein Schneehase zu sein, um so schnell wie möglich von hier weg zu hoppeln, weit weg von Daniel Hochkamp. Die ganze Situation war ihr äußerst peinlich. Außerdem fürchtete sie sich vor seiner Reaktion, so aufgebracht, wie er von dem Sturz war. Wahrscheinlich hatte sie ihm den Tag verdorben.
„Mir geht es gut. Was ist mit Ihnen? Haben Sie sich verletzt?“, fragte er mit mürrischer Stimme.
Sarah schüttelte heftig den Kopf, sodass er noch näher rückte und sie fast schon seinen warmen Atem an ihrer Wange spürte.
„Zeigen Sie mal bitte! Tut der Fuß weh?“ Seine Stimme klang nun doch etwas fürsorglicher.
Abermals schüttelte Sarah den Kopf. „Nein. Es ist nichts weiter passiert.“ Doch ihre Stimme versagte, sie schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. Verdammt! Hätte sie nicht besser aufpassen können! Warum musste das unbedingt ihr passieren? Und zudem noch mit Daniel Hochkamp! Es gab hundert andere Männer auf diesem verdammten Berg, aber nein, ausgerechnet mit ihm passierte ihr dieses Missgeschick!
„Sarah? Mit offensichtlich echter Überraschung schaute er zu ihr hinab und drehte ihren Kopf behutsam zu sich herum. Mit der freien Hand schob er Sarahs Brille hoch, seine Augen blickten perplex in die ihren. Sofort breiteten sich Sorgenfalten auf seiner Stirn aus.
„Das habe ich nicht gewollt. Aber ich habe dich nicht gesehen und hinter der Kurve warst du direkt auf meiner Spur. Ich hatte keine Chance mehr, auszuweichen.“
Sein Ton war auf einmal viel sanfter und echte Besorgnis lag darin. Er strich eine lose Haarsträhne aus ihrem Gesicht und berührte dabei ganz zärtlich ihre Wange. „Es tut mir leid“, hauchte er an ihren Kopf.
Sarah zuckte leicht unter dieser Berührung zusammen, als hätte sie sich an ihm verbrannt, solche Hitze strahlte er ihr entgegen. Abermals spürte sie das Kribbeln am Körper und zog kaum sichtbar ihre Beine zusammen.
Was tat er da? Was passierte mit ihr? Wie am Abend zuvor brauste urplötzlich ein Gefühlssturm in ihr los, den sie nicht verhindern konnte. Es war erschreckend und angenehm zugleich. Konnte ein Mensch solch eine Wirkung auf einen anderen ausüben, und das bei einer einzigen flüchtigen Berührung? Sarah wusste es nicht, so etwas war ihr noch nie zuvor im Leben widerfahren. Trotzdem durfte sie sich nicht von diesem atemberaubend schönen Mann aus der Fassung bringen lassen. Schließlich war er bereits liiert, ermahnte sie sich.
„Nein, muss es nicht. Es war ganz allein meine Schuld. Ich hätte besser achtgeben müssen“, stammelte sie verlegen, den Blick auf seinen verführerischen Mund gerichtet. „Mir ist nichts passiert. Sie können aber weiterfahren. Ich komme schon allein zurecht.“
Ein Schmunzeln trat um seine vollen Lippen und verwirrte sie noch mehr. Eben war er noch stinksauer und nun lächelte er sie an.
„Sarah, gestern Abend waren wir alle beim du.“ Er schaute auf ihre Hand, die über den linken Fuß strich. „Hast du Schmerzen? Lass mal bitte sehen!“, forderte er sie auf, jeden Widerspruch von sich weisend. Da sie nicht sofort reagierte, nahm er behutsam ihren verletzten Fuß in die Hand und berührte dabei die ihre. Er ließ seine Hand für einen kurzen Augenblick auf ihrer ruhen und schaute sie fasziniert mit seinem durchdringenden und für Sarah nicht zu deutenden Blick an. „Sarah“, kam es ihm noch einmal über die Lippen.
Wie er ihren Namen aussprach, ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen. Sie sah in den Tiefen seiner Augen ein Lodern, das Lawinen hätte ins Rollen bringen können. Das Knistern zwischen ihren Körpern entfachte beinahe ein Feuer in Sarah, das so heiß war, dass sie schon glaubte, der Schnee unter ihrem Körper würde schmelzen. Insgeheim hoffte sie, dass die Schmetterlinge in ihrem Bauch sich endlich beruhigen würden, bevor sie gänzlich mit ihr abhoben.
Plötzlich fiel eine Schneewolke über sie. Abrupt blieben drei weitere Skifahrer neben ihnen stehen.
„Can I help you?“, fragte eine junge Frau im giftgrünen Schneeanzug. Sie beugte sich hinunter und schaute auf den verletzten Fuß.
Erschrocken löste Sarah sich von Daniel und blickte zu der Frau über ihrem Kopf.
„No sorry. She is fine. Everything is all right. Thank you very much“, antwortete Daniel an Sarahs Stelle.
Die Frau setzte ihre Skibrille wieder auf, zuckte mit den Schultern und fuhr grüßend mit den anderen davon.
Die elektrisch aufgeladene Stimmung war dahin und Sarah nutzte die Chance, um aufzustehen.
Daniel, dem sofort ihre Absicht klar wurde, stützte sie am Arm. „Moment, ich helfe dir.“
Vorsichtig kam Sarah mit Daniels Hilfe auf die Beine und versuchte, ihren linken Fuß zu belasten. Sie spürte ein leichtes Ziehen im Knöchel, nahm trotzdem die Stöcke zur Hand und setzte die Brille auf, um sich vor seinen hygroskopischen Blicken zu verstecken.
„Es geht schon. Du kannst ruhig weiter fahren. Ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Trotzdem danke“, gab sie gelinde zurück und biss sich auf die Unterlippe.
„Komm, ich lass dich nicht alleine da runter“, widersprach Daniel und nahm sie bei der Hand.
„Was hast du vor?“, fragte sie irritiert.
„Stell dich einfach in Fahrtrichtung. Ich bring dich sicher runter. Den Rest überlass einfach mir. Und Sarah, entspann dich. Dir wird nichts passieren, was du nicht willst.“ Seine Augen funkelten sie an.
Wie bitte? Die Zweideutigkeit seiner Worte ließ ihren Puls höher schlagen. Was tat er da, was sollte das? Machte er sie hier mitten auf der Piste an? Oder reagierte sie nur über und entnahm zwischen den Zeilen mehr, als er beabsichtigte, zu sagen? Sie sah sein anzügliches Lächeln und Röte schoss in ihre Wangen.
Jeder Widerstand schien zwecklos, deshalb nahm sie wie befohlen die Startposition ein. Keine Sekunde später fühlte sie Daniels starke Hände an ihren Hüften. „Bereit?“, fragte er, ohne eine Antwort abzuwarten, und setzte sich mit ihr in Bewegung.
Sarah konnte sich kaum auf die Abfahrt konzentrieren, so nervös war sie. Vergessen waren der Sturz und der Schmerz in ihrem Fuß. Sie spürte nur noch seine Nähe und den starken Druck seiner Hände an ihrem Körper. Aber keineswegs war ihr diese Berührung unangenehm. Im Gegenteil! Wieder nahmen ihre Gedanken eine andere Richtung. Wie würde es sich anfühlen, an einem anderen Ort mit diesem Mann…? Herr Gott, wieso hatte sie das Gefühl, dass ihr Körper in seiner Nähe ihr physisch und mental einen Streich spielte? Sie musste aufhören und sich konzentrieren und zwar auf genau diese Abfahrt. Zum Glück war der Schmerz in ihrem Fuß halbwegs erträglich.
Links und rechts von ihnen rauschten die schneebedeckten Bäume vorüber, doch Sarah hatte keinen Blick für die schöne weiße Winterlandschaft um sie herum.
„Gut so? Wir haben es bald geschafft. Da vorne siehst du schon die Straße und die Talstation“, verkündete Daniel.
„Ja, alles okay“, antwortete Sarah kopfnickend. Ein wenig enttäuscht stellte sie fest, dass das Ziel in greifbarer Nähe lag und sie binnen weniger Minuten das Tal erreichten. Sarah hätte ewig so weiter fahren können, in Daniels Armen.
Ups, wieder schweiften ihre Gedanken ab und ließen sie erschauern. Sarah atmete tief durch und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen vor ihren Augen. Augenblicklich dachte sie an die Freunde. Hatten sie sie bereits überholt und nichts von ihrem Sturz bemerkt? Einerseits war das gut so, weil sie auf die witzigen Kommentare verzichten konnte. Andererseits würden sie sich wundern, wenn sie mit Daniel so zusammen ins Ziel gefahren kam.
Und mit wem war eigentlich Daniel hier? Mit Melanie Hansen? Abrupt versteifte sie sich, doch Daniel packte sofort fester zu, sonst wäre sie noch einmal gestürzt.
Im Tal warteten bereits Jessica, Mark und Tom mit einem heißen Becher Glühwein in der Hand. Sie schienen nervös auf Sarahs heile Ankunft hoffend. Ursprünglich hätte Sarah vor ihnen im Ziel ankommen müssen. Da die drei jedoch eine andere Piste, als anfangs geplant war, gewählt hatten, wussten sie nicht, ob Sarah längst unten oder irgendwo auf der Strecke liegen geblieben war. In der Skihütte war sie jedenfalls noch nicht.
„Wenn sie in fünf Minuten nicht hier ist, fahre ich rauf und sehe nach ihr. Weit kann sie nicht sein.“ Mark starrte auf den weißen Abhang und trank dabei seinen Glühwein in kleinen Schlucken. Mit der freien Hand stach er nervös den Skistock in den Schnee.
„Ihr wird nichts passiert sein. Es sind jede Menge Leute unterwegs, sie ist nicht alleine. Wäre ihr etwas zugestoßen, wäre die Bergwacht wahrscheinlich schon im Aufbruch“, versuchte Tom ihn zu beruhigen, war aber selbst nicht so zuversichtlich, wie es geklungen hatte, und hoffte insgeheim, dass es Sarah gut ging.
Jessica trampelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Mir wird langsam kalt. Los trink aus, Mark! Wir fahren noch mal rauf und suchen nach ihr!“, forderte sie ihn auf und übergab Tom ihren leeren Becher. „Und du wartest hier im Tal, falls sie unbeschadet hier auftaucht!“
„Wir hätten sie nicht alleine lassen dürfen“, plagte Mark das schlechte Gewissen. Er drückte ebenfalls seinen leeren Becher in Toms Hand und wollte sich gemeinsam mit Jessica auf den Weg zum Skilift machen, als Tom von der Seite rief: „Ich glaube, da ist sie!“
Jessica und Mark folgten seinem Blick und nahmen jetzt auch Sarahs Umrisse wahr.
„Aber sie ist nicht allein. Hoppla, wen hat sie sich denn da unterwegs geangelt?“
Mit zusammen gekniffenen Augen versuchte Jessica angestrengt, die zweite Person zu erfassen.
Das Paar näherte sich im langsamen Tempo und war nur noch knapp fünfzig Meter von ihnen entfernt, da rief Tom den beiden zu: „Sieht aus wie Daniel. Ich glaub es einfach nicht!“ Erschrocken über seine eigenen Worte schaute er aus den Augenwinkeln zu Mark, der mit angespannten Zügen ebenfalls das Paar beobachtete, das gemeinsam den Hang hinunter rauschte.
Daniel manövrierte Sarah sicher zu ihren Freunden, denn er hatte sie bereits ausfindig gemacht. Schließlich wusste er vom gestrigen Abend, dass die Vier gemeinsam auf die Piste wollten. Das war auch der Grund, weshalb er spontan den Ausflug mit Melanie und Alexander platzen ließ. Als Ausrede schob er das ideale Wetter für die erste Abfahrt in diesem Winter vor. Richard und er waren seit ihrer Kindheit leidenschaftliche Wintersportler. Jede sich bietende Gelegenheit nutzten sie, um gemeinsam ihrem Hobby nachzugehen. Durch ihre Jobs waren sie zeitlich sehr eingebunden. Ständig mussten sie zu Meetings, Besichtigungen und Verhandlungen, deshalb waren sie froh, wenn sie jede freie Stunde nutzen konnten, um sie dem Wintersport zu widmen.
Alexander wäre wahrscheinlich heute mit von der Partie gewesen, aber sein Anstand gebot ihm, Melanie nicht auch noch hängenzulassen.
Jessica war die Erste, die aus dem Staunen erwachte und rannte den beiden entgegen. „Sarah alles gut mit dir? Wen hast du dir denn da unterwegs geangelt?“
Mit besorgtem Schmunzeln umfasste sie Sarahs Gesicht und blickte gleichzeitig zu Daniel. „Hallo Daniel, was machst du denn hier? Sagtest du nicht gestern, dass ihr einen Ausflug in die Schweiz machen wolltet?“
„Hey Jessica. Das hatten wir auch bis gestern Nacht vor, aber dem Reiz, heute hier zu sein, konnte ich wirklich nicht widerstehen. Man muss die Gelegenheit beim Schopfe packen. Die bietet sich nicht alle Tage“, erwiderte er und blickte dabei auf Sarah hinab, die er immer noch an den Armen hielt.
Jessica, der sein anzüglicher Blick auf Sarah nicht entging, machte plötzlich große Augen und spürte das angespannte Verhältnis zwischen den beiden. Kurz verschlug es ihr die Sprache, doch schnell raufte sie sich zusammen und ließ sich nichts anmerken. Was ging zwischen den beiden vor? Soweit sie wusste, waren sie sich gestern Abend überhaupt das erste Mal begegnet. Bevor sie weiter grübeln konnte, waren Mark und Tom zur Stelle und begrüßten Daniel mit einem Handschlag.
Sarah nutzte augenblicklich die Gunst der Stunde, um sich aus Daniels Fängen zu befreien und alleine klarzukommen. Widerwillig ließ Daniel sie los, doch er blieb dicht hinter ihr.
Sarahs Wangen glühten von seiner Bemerkung ‚Man muss die Gelegenheit beim Schopfe packen‘. Sie beugte sich vornüber, damit niemand es sehen konnte, und hantierte an ihren Skiern, um diese Dinger endlich loszuwerden. Dabei spürte sie, wie ihr Hinterteil Daniels Beine streifte und ein Schauer ihr abermals durch den bereits angespannten Körper lief. Sarah war so nervös, dass sie es nicht alleine schaffte, sich die Skier abzuschnallen, ihre Hände gehorchten ihr nicht. Leise fluchend sah sie zu Tom auf.
„Könntest du mich bitte von diesen Brettern befreien! Für heute und die nächsten Tage ist mein Bedarf an Abfahrten gesättigt.“
„Kein Problem. Warte! Ich helfe dir. Aber was war denn da oben los? Wo hast du Daniel getroffen?“
„Getroffen scheint mir in diesem Fall genau das richtige Wort zu sein. Ich habe mal wieder den Schneehasen gespielt“, posaunte sie mit einer ausladenden Handbewegung und zerknirschtem Gesicht heraus.
Tom schaute sie fragend an. „Schneehase? Hat es dich etwa umgehauen?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er in das verlegene Gesicht der Freundin.
„Umgehauen kann man es auch nennen. Sarah hat mich völlig umgeworfen“, mischte sich nun Daniel ein, während er seine Skier löste.
Tom hatte mittlerweile Sarahs Skier abgeschnallt, sodass sie endlich sicher auf festen Untergrund stand. Um Daniels Nähe zu entkommen, ging Sarah um Tom herum auf Mark zu. Dabei entging Mark Sarahs Hinken nicht. „Bist du verletzt?“, fragte er mit ernster Miene.
„Nein, schon gut. Vielleicht ein wenig verstaucht, aber das wird schon“, antwortete sie knapp und biss die Zähne zusammen.
„Soll ich dich zu einem Arzt bringen?“ Mit schuldbewusster Miene tätschelte Mark ihre Schulter.
„Nein, ich brauche keinen Arzt“, antwortete sie gereizt und presste ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Selbst erstaunt über ihre Tonart sah sie ihn entschuldigend an. „Sorry, war nicht so gemeint. Aber mir geht es wirklich gut.“
„Dann bringe ich dich jetzt erst einmal in die Skihütte, da kannst du den Fuß hochlegen und vielleicht etwas kühlen“, sagte er, sah aber nicht, dass Sarah mit den Augen rollte. Sarah um die Taille fassend schob er sie vorwärts.
„Bringt ihr Sarahs Sachen mit, wir gehen schon rein und wärmen uns erst einmal auf. Und außerdem könnte ich jetzt etwas Warmes im Bauch vertragen.“ Mark wies Tom an, die Skier und Stöcke zu nehmen und ihnen zu folgen. Dabei blickte er finster auf Daniel.
„Danke für deine Hilfe. Wir machen das hier schon. Du kannst ruhig noch ein paar Runden drehen.“
„Nein kein Problem. Ich werde mit euch gehen. Für heute reicht es mir auch, rufe aber nur noch Richard an und gebe ihm Bescheid, wo ich abgeblieben bin.“
Tom blickte Daniel fragend an. Nervös hantierte er mit Sarahs Skiutensilien herum. „Dein Bruder ist auch hier?“
„Ja, wir sind zusammen los, aber er hat eine andere Piste genommen. Er müsste bald auftauchen“, erwiderte Daniel und blickte unverwandt Sarah und Mark hinterher.
Verlegen sah Tom zur Seite und zog Jessica mit sich. „Eine gute Idee, jetzt etwas Warmes in den Bauch zu bekommen. Wärmer wird mir durchs Rumstehen auch nicht. Und noch mal auf die Piste zurück, habe ich keine Lust mehr.“
„Stimmt, lass uns was trinken und gleichzeitig Sarahs Fuß in Augenschein nehmen.“ Sie gab Daniel, der gerade sein Handy am Ohr hielt, ein Zeichen, dass sie ebenfalls in die Hütte gingen. Daniel verstand und folgte ihnen, wobei er Sarah und Mark immer noch im Auge behielt.
An der Hütte angekommen, öffnete Mark die Tür, und gemeinsam, gefolgt von den anderen, betraten die Freunde die Räumlichkeit. Hier war es angenehm warm und eine gemütliche Atmosphäre durchströmte die Hütte. Zum Glück hielten sich drinnen nicht viele Gäste auf, denn die meisten waren noch auf den Hängen unterwegs und genossen die idealen Bedingungen.
Mark lotste sie zu einem Tisch mit großem Fenster und dirigierte Sarah direkt auf die Eckbank auf einen freien Platz. Von hier aus hatten sie einen atemberaubenden Ausblick auf das weiße Bergpanorama. Die schneebedeckten Hänge lagen zu ihren Füßen und überall sausten die Skifahrer wie kleine bunte Ameisen den Abhang hinunter.
Er drückte Sarah auf die Bank, schob einen Stuhl zu ihrem verletzten Fuß und legte ihn behutsam darauf. Dann zog er seine Skijacke und Handschuhe aus und half anschließend Sarah aus den Sachen. Er setzte sich neben sie und half ihr, den verletzten Fuß vom Skischuh zu befreien. Währenddessen gesellten sich Tom und Jessica zu ihnen. Daniel indessen ging auf direktem Weg zum Wirt.
„Wie schaut’s aus?“, wollte Jessica wissen. „Zum Glück scheint nichts gebrochen oder gerissen zu sein. Wie ist das denn passiert?“
In knappen Sätzen erzählte Sarah von ihrem Missgeschick. Im Grunde genommen hatte sie viel Glück gehabt.
„Ach, Schneehase, dabei lief es anfangs so gut“, tröstete Jessica ihre Freundin.
„Wir hätten bei dir bleiben sollen“, warf Mark vorwurfsvoll ein.
Sarah verdrehte die Augen, sie konnte es nicht mehr hören.
„Es ist alles gut. Hör jetzt auf! Bestell mir lieber einen Tee, Earl Grey, bitte“, gab sie im milderen Ton zurück und wandte sich zu Tom.
„Tee? Auf den Schreck und die Kälte brauche ich etwas Stärkeres.“ Tom drehte sich in Jessicas Richtung. „Bist du dabei?“
Jessica unterdrückte mühsam ein Lächeln. „Natürlich bin ich dabei, wir nehmen etwas Stärkeres. Ich schlage Jagertee für alle vor.“
„Einverstanden.“ Tom sprang von seinem Stuhl auf, Sarahs Widerstand zuvorkommend, und eilte zu Daniel an den Tresen, um die Bestellung abzugeben.
Nach zehn Minuten kamen die Männer mit einem Tablett Jagertee und einem Eisbeutel an den Tisch zurück. Tom verteilte vorsichtig die vollen Gläser und setzte sich zu Jessica.
Zielstrebig steuerte Daniel die andere Seite des Tisches an, mit dem Eisbeutel in der Hand, und platzierte sich direkt zwischen Mark und Sarah und gab Mark dabei wortlos zu verstehen, dass er sich um Sarah kümmerte. Widerwillig rutschte Mark zur Seite und machte Platz.
Jessica beobachtete die Szene mit einem belustigten Lächeln. Eindeutig war hier ein Konkurrenzkampf zwischen den beiden Männern um Sarah in vollem Gang. Sie argwöhnte bereits jetzt schon, dass es Schwierigkeiten geben könnte. Aber wäre ihre Freundin überhaupt bereit für ein Abenteuer? So wie sie Sarah kannte, würde sie sich darauf nicht einlassen. Seit ihrer gescheiterten Beziehung zu Paul hatte sie sich in ihrem Schneckenhaus verkrochen und war seit dem nicht ansatzweise an einer neuen Beziehung interessiert. Doch manches Mal glaubte sie, dass Mark es schaffen würde, das Herz ihrer Freundin zu erobern und sie für sich zu gewinnen. Seit der ersten Begegnung zwischen Mark und Sarah hatte es bei Mark auf Anhieb gefunkt. Seitdem hatte er ein Auge auf Sarah geworfen und buhlte ohne Ablass um ihre Gunst. Jedoch biss er sich bisher die Zähne an ihr aus. Immer noch in Gedanken versunken an die Zeit vor zwei Jahren, als sie Sarah kennengelernt hatte, nahm Jessica ihr Glas und prostete mit einem verschmitzten Lächeln den anderen zu. „Auf unseren Schneehasen!“
Die anderen ließen sich nicht zweimal bitten und prosteten sich ebenfalls zu.
Nach ein paar kleineren Schlucken von dem heißen Getränk spürte Sarah, wie der Alkohol sich in ihrem Körper verteilte und sie ins Schwitzen kam. Sie beobachtete Daniel, wie er derweil ihren Fuß mit dem Eisbeutel verarztete. Vielleicht lag es auch an seiner Nähe, dass ihr plötzlich so heiß war? ‚Bloß nicht darüber nachdenken‘, ermahnte sie sich.
Sie konzentrierte sich auf Toms Schilderungen, der sich bis in kleinste Detail mit Mark über ihre sensationelle Abfahrt unterhielt. Entspannt lehnte Sarah sich auf ihre Bank zurück.
Die Hüttentür öffnete sich und eisige Luft zog herein. Daniel entdeckte am Eingang seinen Bruder und winkte ihn zu sich und den anderen an den Tisch.
„Na Bruderherz, wo brennt es?“ Richard begrüßte die Freunde und sah auf Sarahs Fuß herab. „Wie ist das denn passiert?“
Während er sich seiner Skisachen entledigte und dem Wirt ein Zeichen gab, dass er das gleiche zu trinken wünsche, erzählte Daniel von dem Zwischenfall.
„Und ich hab dich schon oben am Berg vermisst. Vielleicht sollte Sarah doch einen Arzt konsultieren. Ich kenne Dr. Langer ziemlich gut. Auch wenn er heute keine Bereitschaft hat, würde er sich deinen Fuß sicher ansehen.“ Mit fragendem Blick schaute Richard auf Sarah und ihren verletzten Fuß.
„Danke für das Angebot. Aber lass mal, es wird schon besser. Ich werde später zu Hause den Fuß weiter kühlen und ihn schonen. Dann müsste Montag alles wieder beim Alten sein, und ich kann den Laden normal aufschließen.“
„Daran habe ich noch gar nicht gedacht“, lenkte Jessica ein. „Es wäre dumm, wenn du dir das Weihnachts-geschäft entgehen lassen müsstest. Das ist doch dein Hauptgeschäft für das ganze Jahr!“
„Mach dir keine Gedanken, ich krieg das schon hin.“ Kopfschüttelnd und Zuversicht ausstrahlend nippte Sarah an ihrem Glas.
„Hast du denn keine Angestellten, die für dich einspringen könnten?“, fragte Daniel ungläubig mit erhobener Augenbraue.
„Nein, sie schmeißt den Laden alleine“, mischte sich nun auch Tom ein. „Dank Internet und Amazon wird das Überleben für die kleinen Händler nicht einfacher.“
Daniel nickte nachdenklich und sah Sarah mit besorgter Miene an. „Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Das brauchst du nicht, ich habe alles im Griff“, wies sie ihn mit einer Handbewegung ab. Sie drehte sich zu Jessica und versuchte, das Thema zu wechseln. So viel Fürsorge war sie schon lange nicht mehr gewohnt. „Wir sollten nächstes Wochenende das Eislaufen ausfallen lassen. Ich werde meinen Fuß schonen und dann können wir es ja ein Wochenende später nachholen, wenn der Fuß bis dahin wieder in Ordnung ist.“
Sarah hatte sich eigentlich schon sehr auf das Schlittschuhlaufen gefreut, wollte aber kein Risiko eingehen.
„Was wollen wir dann unternehmen? Vielleicht ins Kino und danach einen Bummel über den Weihnachtsmarkt?“, schlug Tom vor.
Mark zuckte mit den Schultern. „Mir ist es egal, ich wäre dabei.“
„Von mir aus auch. Weiß einer von euch, was im Kino läuft?“, hakte Jessica nach.
„Keine Ahnung, ich werde nachher gleich mal googeln und gebe euch Bescheid. Vielleicht fällt uns ja noch etwas anderes ein.“
Richard, der die Unterhaltung aufmerksam verfolgte, meldete sich zu Wort.
„Nächsten Samstag geben Daniel und ich eine kleine Einweihungsfeier bei uns zu Hause. Nach dreimonatigen Renovierungsarbeiten ist unser Haus jetzt bezugsfertig und da dachten wir, mit ein paar Freunden den Einzug zu feiern. Nichts Großes. Hiermit seid ihr vier herzlich eingeladen. Aber nicht, dass ihr denkt, wir fühlen uns wegen der Sache hier verpflichtet. Wir würden uns wirklich freuen, wenn ihr kommt. Stimmt’s kleiner Bruder?“ Er schaute augenzwinkernd seinen Bruder an, der von dieser Idee sofort begeistert schien und zustimmend nickte.
Wie zufällig legte Daniel seine Hand auf Sarahs und schaute ihr dabei hoffnungsvoll in die braunen Augen.
„Ich würde mich sehr freuen, wenn du kommst, und natürlich auch deine Freunde.“
Röte schoss ihr in die Wangen und eine wohlige Wärme kroch ihren Rücken hinab. Wieso wollte er ausgerechnet sie dabei haben? Was ist mit Melanie? Melanie war doch seine Freundin und genau die Richtige für ihn. Sie spielte in derselben Liga wie er, Sarah hingegen schien gerade gut genug für die Amateurliga. Vielleicht war er auch so ein Machotyp, der gerne auf zwei Hochzeiten tanzte und nichts anbrennen ließ?
Sarah hielt seinem durchdringenden Blick nicht stand und blickte schüchtern auf ihre ineinander verschränkten Finger. Bevor sie etwas einwenden konnte, meldete Tom sich zu Wort.
„Das wäre toll. Danke, wir nehmen eure Einladung sehr gerne an.“
Hoffnungsvoll schaute er in die Runde und wartete auf die Zustimmung seiner Freunde. Jessica lächelte erfreut. „Von mir aus gerne. Sollen wir irgendetwas mitbringen?“, schaute sie fragend auf Richard.
Der schüttelte den Kopf. „Alles organisiert. Nur gute Laune haben wir noch nicht gebucht. Also seid ihr dafür verantwortlich! Ihr seid also dabei?“ fragte er zufrieden und blickte von Sarah zu Mark.
„Von mir aus.“ Marks Gesicht wirkte nicht gerade überzeugend. Missmutig erhaschte er Sarahs Blick und sah, dass sie nervös auf ihrem Platz hin und her rutschte. Ohne ihre Antwort abzuwarten, plauderten die anderen munter durcheinander.
„Also abgemacht. Tom weiß ja, wo wir wohnen. Am Stadtrand. Beginn ist zwanzig Uhr.“
„Prima. Möchte noch jemand etwas trinken? Ich hätte gerne noch einen Tee, ich bin am Verdursten.“ Jessica schaute fragend in die Runde.
Tom nickte begeistert, er fühlte sich sichtlich wohl in der Gesellschaft seiner Freunde. „Ich gebe die nächste Runde aus.“
Sarah schüttelte den Kopf. „Danke. Für mich nicht, falls ich nachher noch eine Schmerztablette nehmen muss“, sagte sie und deutete auf ihren Fuß.
Tom erhob sich und ging quer durch den Raum zum Tresen, um eine neue Runde Jagertee zu bestellen. Mittlerweile wurde es in der kleinen Hütte voller. Da es draußen bereits dämmerte, trafen immer mehr Skifahrer und Snowboarder ein, um sich aufzuwärmen und in geselliger Runde den späten Nachmittag ausklingen zu lassen.
Daniel nahm sein Handy, wählte eine Nummer, während seine graublauen Augen unablässig Sarah fixierten.
„Ja, hallo. Hochkamp hier.“ Er bestellte ein Taxi zur Skihütte und legte wieder auf. „Ich bringe dich nach Hause. In einer halben Stunde ist das Taxi hier. Das ist das mindeste, was ich tun kann.“
Ungläubig, von seinen intensiven Augen fokussiert, sah sie ihn überrascht an. „Das musst du nicht. Es ist ja nicht so weit bis zu mir. Das schaffe ich schon irgendwie. Und außerdem bist du nicht daran schuld, dass ich gestürzt bin. Hätte ich mich nicht so dämlich angestellt…“, versuchte sie wenig überzeugend einzuwenden.
„Keine Widerrede“, mischte sich Jessica ein, der die knisternde Spannung zwischen den beiden nicht entging. „Schuld hin oder her. Du musst deinen Fuß schonen und es ist doch ein sehr nettes Angebot von Daniel.“ Beruhigend legte sie ihre Hand auf Sarahs Unterarm.
Mark, der das Gespräch verfolgte, stand plötzlich auf.
„Ich werde ja nicht mehr gebraucht, also schwinge ich mich nochmal in die Skier und geh auf die Piste, bevor es dunkel wird. Man muss schließlich die Gelegenheit beim Schopfe packen.“
Verstimmt nahm er seine Sachen und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. „Ich melde mich, bis dann.“
Und fort war er.
„Was ist denn plötzlich mit ihm los?“, wollte Richard wissen, der als einziger die angespannte Situation nicht bemerkte, und blickte Mark erstaunt hinterher.
„Keine Ahnung“, zuckte Jessica mit den Schultern. „Er hat sich den Nachmittag bestimmt etwas anders vorgestellt. Hier rumzuhängen ist nicht sein Ding.“ Dabei warf sie einen wissenden Blick zu Sarah rüber.
Verwundert über Marks Abgang trat Tom an den Tisch und stellte die fünf Jagertee darauf ab. „Wo ist Mark?“
„Der ist nochmal auf die Piste.“ Ohne weitere Kommentare abzuwarten und vom Thema abzulenken, nahm Jessica ein Glas vom Tablett. „Dann bleibt ein heißer Tee mehr für mich.“
Mit schmunzelndem Gesicht pustete sie vorsichtig an dem dampfenden Getränk.
Im Gespräch vertieft über ihre Tour heute, wurde die Gesellschaft nach einer Weile vom Hüttenwirt unterbrochen. „Ihr Taxi steht vor der Tür.“ Der Wirt, der an ihren Tisch heran getreten war und die leeren Gläser abräumte, zeigte nach draußen auf das bereits wartende Auto.
„Na dann wollen wir mal.“ Daniel stand als erster auf und beugte sich zu Sarah, um den Eisbeutel von ihrem Fuß zu entfernen und half ihr, den Skischuh zu schließen.
„Darf ich bitten?“, fragte er, neigte den Kopf etwas zur Seite und reichte ihr seine Hand. Sarahs Herz klopfte wild vor Aufregung in ihrer Brust. Schließlich legte sie zögernd ihre Hand in seine.
Sie wusste nicht, ob ihre Entscheidung, sich von Daniel nach Hause bringen zu lassen, die Richtige war. Doch das schmerzliche Pochen in ihrem Knöchel wischte alle Zweifel beiseite. Im Grunde genommen war sie froh, den Heimweg nicht alleine mit dem Fuß zurücklegen zu müssen. Und dennoch, jede Nervenfaser ihres Körpers war zum Zerreißen gespannt, als seine Augen sie anfunkelten. Behutsam erhob sie sich, und ihre Knie wurden ganz weich, was wohl nicht nur an dem Tee lag. Sie musste ihren Blick senken, denn erneut durchfuhr sie eine Welle der Erregung. Sie spürte die Wärme seiner Hand, die sich sofort auf ihren Körper übertrug. Ihr wurde warm, sodass sie sich nun doch beeilte, um der angespannten Atmosphäre zu entkommen und ihrem Körper und Geist im Freien Abkühlung zu verschaffen.
„Jessica und Tom, kommt ihr denn nicht mit?“ Obwohl sie die Antwort bereits kannte, sah sie erwartungsvoll zu den beiden Freunden.
Sie wollte nicht mit diesem überaus attraktiven Mann, der ihre Emotionen überkochen ließ, alleine sein. Daniel zog sie magisch an, das konnte sie nicht leugnen, aber gleichzeitig hatte sie Angst vor ihren eigenen Gefühlen. Seine Partnerin war Melanie Hansen, und diese spielte durchaus in der First Class. Aber warum tat er das dann alles hier? Aus Anstand oder Höflichkeit oder um sein Gewissen zu beruhigen? Eine innere Stimme raunte ihr zu, dass andere Gründe im Spiel waren. Und dann ständig diese zweideutigen Bemerkungen! Was wollte er von ihr? Für ihn musste Sarah doch wirklich ein kleines graues Mäuschen sein, mit dem es sich vielleicht eine Weile spielen lässt, um es anschließend, nachdem der Reiz verflogen war, fallenzulassen.
Ihr war klar, dass es schwer sein würde, ihre Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Folglich musste sie auf Distanz gehen oder aber gar auf Kampfmodus umschalten und besser von Anfang an dagegen kämpfen, um nicht in seine Krallen eingefangen und dann irgendwann enttäuscht zu werden. Sie musste stark bleiben und durfte ihren verwirrten Gedanken und Gefühlen keinen Freiraum geben.
„Nein, du bist doch in guten Händen und Daniel hat bestimmt nichts dagegen, wenn wir noch ein bisschen mit seinem Bruder abhängen“, unterbrach Jessica ihre Überlegungen. Verschmitzt zwinkerte sie der Freundin zu. Leicht angeheitert vom Alkohol suchte sie Richards Bestätigung.
„Mein Bruder ist alt genug, er wird sich um deine Freundin kümmern. Also ich bleib dann noch. Kommt gut nach Hause.“ Und an Sarah gerichtet verabschiedete sich Richard freundlich.
„Wir sehen uns nächstes Wochenende. Tschüss Sarah. Und gute Besserung.“
Er lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück und wandte seine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Jagertee und Tom zu.
Wieder beschlich Sarah das Gefühl, dass irgendetwas im Raum lag, sie es aber nicht zum Greifen bekam. Jessica unterdessen stand von ihrem gepolsterten Holzstuhl auf und umarmte ihre Freundin zum Abschied. „Ich melde mich. Solltest du aber meine Hilfe brauchen, dann lass es mich wissen.“