Читать книгу Wetteinsatz mit bittersüßem Beigeschmack - Ive Holt - Страница 9
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ОглавлениеDie nächsten Tage verliefen für Sarah wie im Fluge. Im Laden gab es jede Menge zu tun und sie war dankbar, Frau Leitner als Unterstützung zu haben. Ohne Mühe machte sie sich mit den Gepflogenheiten vertraut. Es machte Spaß, mit der älteren Frau zusammenzuarbeiten, weil sie ebenso freundlich zu den Kunden war wie zu ihr und für Abwechslung sorgte.
Richard brachte sie jeden Tag mit seinem weißen Mercedes für zwei bis drei Stunden und holte sie zu der vereinbarten wieder Zeit ab.
Sarah war froh, dass Daniel in München zu tun hatte, so konnte sie ihm und ihren eigenen, widersprüchlichen Gefühlen aus dem Weg gehen.
Hatten die beiden Damen eine kleine Verschnaufpause, setzten sie sich gemeinsam an den kleinen Tisch. Oft tranken sie Tee oder plauderten über die Kunden und waren bemüht, stets deren Anliegen, gleich worum es sich handelte, zu erfüllen. Manchmal mussten sie auch herzhaft über die ausgefallenen Wünsche mancher Kunden lachen. So suchte heute beispielsweise ein älterer Herr nach einem ‚Fachbuch‘ über Sex im Alter. Jedoch sprach er dabei nicht Frau Leitner an, sondern suchte Sarahs Hilfe. Nach längerer Suche im Internet wurden sie fündig und bestellten das Buch für den kommenden Tag.
Am Donnerstag nahm Sarah sich kurz vor Mittag frei und wartete in ihrer Wohnung auf den Heizungsmonteur. Frau Leitner würde sicher für eine halbe Stunde ohne sie im Laden zurechtkommen.
Nachdem die Heizung inspiziert wurde und der Monteur die utopische Zahl von zwanzigtausend Euro nannte, die nötig waren, um wieder ein warmes Heim zu haben, musste Sarah schlucken und entließ den Monteur mit der Zusage, sich bei ihm zu melden, wenn sie mit ihrer Bank gesprochen hatte.
Mit dieser hohen Summe hatte sie keinesfalls gerechnet und kehrte völlig niedergeschmettert in den Buchladen zurück. Sie ließ sich in einen der Korbsessel fallen und stützte ihren Kopf auf die Hände.
Frau Leitner erkannte sofort, dass das Ergebnis der Inspektion nicht gut für Sarah ausgefallen war. Da sich keine Kundschaft im Laden aufhielt, ging sie in die Küchennische und holte für beide einen Tee und setzte sich zu Sarah an den Tisch.
„So schlimm?“, fragte sie mitfühlend. Aus ihren Gesprächen mit Sarah hatte sie bereits erfahren, dass die sich mit den Einnahmen, die dieser kleine Laden abwarf, gerade so über Wasser halten konnte. Mit ihren klugen grauen Augen beobachtete sie ihr Gegenüber und nahm dann schließlich Sarahs Hände vom Kopf.
„Was hat der Monteur gesagt, Sarah?“
Sarah, die langsam ihren Kopf hob, schaute in die forschenden Augen von Frau Leitner und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie lehnte sich in den Sessel zurück und blickte zur Decke.
„Zwanzigtausend Euro. Die Heizungsanlage muss komplett erneuert werden, eine Aufschiebung ist fast nicht mehr möglich, da die Anlage demnächst ihren Geist aufgeben wird.“
Verzweiflung lag in ihrer Stimme, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
„Liebe Sarah, es gibt für alles eine Lösung, auch wenn es im Moment nicht danach ausschaut. Sie haben dieses Geld natürlich nicht griffbereit, stimmt’s?“
Feinfühlig wartete sie auf Sarahs Antwort, die sie bereits kannte.
Sarah schüttelte den Kopf und ließ die Schultern hängen. Mit zittrigen Händen nahm sie ihre Teetasse und trank nachdenklich einen Schluck. Die Ladentür öffnete sich und Sarah wollte gerade aufstehen, als Frau Leitner die Hand auf ihre Schulter drückte.
„Lassen Sie mal, ich kümmere mich darum.“
Dankbar blickte sie zu der älteren Dame hinauf, die aufmunternd ihrem Blick begegnete. „Das wird schon.“
Sarah hätte gerne ihre Zuversicht, aber Frau Leitner hatte bestimmt noch nie in so einer Situation gesteckt wie sie im Moment. Die Leitners und Hochkamps waren dafür bekannt, dass sie zu den vermögenden Leuten der Stadt gehörten. Ständig las oder hörte man, dass sie sich mit beträchtlichen Summen an Wohltätigkeits-veranstaltungen und Spendengalas beteiligten.
Als Frau Leitner die Kundin bedient hatte und diese den Laden gerade verließ, kam Richard beschwingt zur Tür herein.
„Guten Tag, die Damen. Ich hoffe, sie hatten eine angenehme Zeit?“
Doch als er Sarahs blasses Gesicht sah, runzelte er die Stirn und trat zu ihr an den Tisch.
„Was ist passiert, Sarah? Du siehst aus, als hättest du den wahrhaft Leibhaftigen gesehen.“
Er ging vor ihr in die Hocke und legte seinen Arm auf ihren. Dabei sah er aus den Augenwinkeln, dass seine Großmutter nun ebenfalls an den Tisch getreten war.
Da Sarah stumm in ihrem Sessel kauerte und aus ihrem Mund kein Ton zu erwarten war, berichtete kurz seine Großmutter von dem Schlamassel mit der Heizung.
„Da lässt sich doch bestimmt etwas machen. Gib nicht so schnell auf. Komm morgen gegen Mittag in unsere Bank und wir schauen, was man da machen kann. Ich bin sicher, wir finden eine Lösung für dein Problem. Du meldest dich einfach bei Tom. Ich werde ihn anweisen, sich deinem Problem anzunehmen und er kümmert sich um alles Weitere. Vertrau mir, das wird schon. Du bist nicht die Erste, die glaubt, vor einer unlösbaren Aufgabe zu stehen. Kopf hoch Sarah, wir lassen dich nicht im Stich.“
Seine Worte ließen Sarah ein bisschen hoffen, und sie dachte an Tom, der ihr solch einen Vorschlag bereits unterbreitet hatte.
„Na sehen Sie, Sarah. Wie ich schon sagte, es gibt immer eine Lösung, auch wenn es manchmal so scheint, als würde die Erde aufhören sich zu drehen.“
Frau Leitner drückte Sarahs Schulter und schaute dabei dankbar ihren Enkel an. „Kopf hoch und nicht verzagen. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Nehmen Sie Richards Angebot an.“
Sarah, die wirklich dankbar war, stand von ihrem Sessel auf und schloss Frau Leitner in die Arme.
„Ich bin so froh, dass Sie da sind“, mehr brachte sie nicht heraus, weil ihre Stimme versagte. In Gedanken war sie bei ihrer Großmutter gewesen, die das Gleiche für sie getan hätte, wäre sie noch unter ihnen.
Sie löste sich aus der Umarmung und verabschiedete sich von Richard und Frau Leitner, da Richard noch wichtige Geschäftstermine hatte. Beim Verlassen des Buchladens schaute er aber noch mal zurück. „Übrigens, ich soll dir liebe Grüße von meinem Bruder ausrichten. Er freut sich sehr darauf, dich am Samstag in unserem Haus wiederzusehen.“
Mit einem wissenden Lächeln zwinkerte Richard ihr zu und verließ den Raum, um seine Großmutter zum Wagen zu begleiten, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte.
Sarahs Kinnlade klappte hinunter, doch das sah er nicht mehr. Sprachlos ging sie zum Kassentisch, beugte sich vorn über auf die Arbeitsplatte und stützte die Hände unter ihrem Kinn. Ihr Blick schweifte in die Ferne.
Im Moment stand ihr Leben auf dem Kopf. Zum einen musste das Problem mit der Heizung endlich gelöst werden, und zum anderen sollte sie sich schleunigst darüber klar werden, was sie in Bezug auf Männer wollte. Denn inzwischen hegte sie den Verdacht, dass ein Platzhirschgerangel zwischen Mark und Daniel im Gange war. Und dabei hatte sie es nicht einmal selbst herauf beschworen! Was ihr am meisten Bauchschmerzen bereitete, waren Daniels Avancen.
Wieso sagte Richard, dass Daniel sich auf ein Wiedersehen freute? Was dachte sich Daniel nur? Melanie war doch die Frau an seiner Seite, machte sie ihn nicht glücklich? Oder war er ein Casanova, der jedem Rockzipfel hinterher lechzte? Ihr Pulsschlag erhöhte sich schwindelerregend, als sie Daniels Anblick vor sich sah. Herr Gott, dieser Mensch war aber auch ausgesprochen attraktiv, das konnte selbst sie nicht leugnen. In seiner Nähe musste einfach jede Frau schwach werden. Sarah durfte nicht zulassen, dass er so viel Besitz von ihr nahm, dass ihr keine Luft mehr zum Atmen blieb.
Entschlossen reckte sie ihr Kinn. Ab sofort würde sie jedes Aufeinandertreffen mit ihm vermeiden und deshalb der Party am Samstag fernbleiben. Ihr würde sicher schon die passende Ausrede einfallen.
Und was war mit Mark? Er gestand ihr zum ersten Mal ganz offen, dass er sie liebte. Aber könnte sie diese Liebe in gleichem Maße erwidern, so wie er es verdiente? Sarah war sich im Klaren, dass sie ihn sehr mochte. Sein leidenschaftlicher Kuss vom letzten Montag hatte sie überrascht und empfand ihn als einfühlsam und angenehm. Doch dieses prickelnde Gefühl, welches sich bei Daniels Küssen blitzartig einstellte, blieb aus.
Mark hatte sich nicht mehr gemeldet, er ließ ihr Zeit und Raum, und sie selbst war nicht in der Lage, mit ihm in Kontakt zu treten. Sie fürchtete sich davor, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, ihm wehtun zu müssen und vielleicht ihre Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Aber ihn weiterhin zu belügen und im Glauben zu lassen, dass sie für ihn genauso empfand, wäre ihm gegenüber unfair. Letztendlich war sie ein Feigling.
Sarah spielte mit dem Stift in ihrer Hand und bemerkte entsetzt, dass sie auf einem Notizzettel Herzen mit einem „D“ gemalt hatte. Das letzte Mal, als sie Herzen zeichnete, war in der achten Klasse, als sie in einen Jungen aus ihrem Jahrgang verschossen war. Sofort zerknüllte sie das Blatt und warf es in den Papierkorb, der hinter ihr stand.
Um auf andere Gedanken zu kommen, ging sie um den Kassentresen und schlenderte zu einem der Bücherregale, um dort Platz für neue Bücher zu schaffen.
Morgen würde sie auf jeden Fall erst einmal zur Bank gehen, wie Richard ihr geraten hatte, in der Hoffnung, wenigstens eine Angelegenheit regeln zu können. Doch nun widmete sie ihre volle Konzentration ihrem geliebten Laden, der sich zunehmend mit Kundschaft füllte. Sarah hatte bis Ladenschluss alle Hände voll zu tun.
„Sie können jetzt ruhig gehen, Sarah. Ich komme hier auch ohne Sie klar. Ab mit Ihnen zur Bank. Ich drücke die Daumen“, sagte Frau Leitner ermutigend am nächsten Tag, schob Sarah förmlich aus den kleinen Laden, schloss die Tür und winkte ihr lächelnd hinterher.
Die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, streifte Sarah die Handschuhe über und steckte die Hände tief in die Manteltaschen. Ein eisiger Wind umwehte ihre Nase und den dunklen Wolken am Himmel nach zu urteilen, würde es bald wieder Schnee geben.
Sie liebte den Winter in den Bergen, alles sah so weiß und friedlich aus, nicht wie in Hamburg, wo die Winter überwiegend feucht, grau und zu mild waren. Aber dieser Wind, der wie eisige Körner auf ihrer Haut im Gesicht stach, war schrecklich. In Hamburg kannte sie kaum Tage, an denen es windstill war, aber hier verzerrte er einfach nur die schöne Idylle. Sehnsuchtsvoll lenkte Sarah ihre Gedanken zurück in die Heimat, sie vermisste die Eltern sehr.
Die Jensens besaßen einen kleinen Friseursalon in Altona und waren sehr eingespannt, da sie nur zwei Angestellte beschäftigen konnten, um sich über Wasser zu halten, denn die Konkurrenz war immens. Sie arbeiteten von Montag früh bis Samstag späten Nachmittag im Salon. Aus diesem Grund war es ihren Eltern fast unmöglich, sie hier in den Bergen zu besuchen. Das letzte Mal kamen sie nach Garmisch, um bei der Beerdigung ihrer Großmutter dabei zu sein, aber auch nur für zwei Tage.
Da Sarah nun eigens ein Geschäft führte, blieb ihr selber kaum Zeit, zu ihnen nach Hamburg zu reisen. Ob mit dem Zug oder mit ihrem kleinen Flitzer zu fahren, machte kaum einen Unterschied. Es war so oder so eine teure Angelegenheit. Das nötige Kleingeld konnte sie nicht einfach so aus den Ärmeln schütteln. Und den Laden eben mal für einige Zeit zu schließen, kam nicht infrage.
Deshalb telefonierten sie in regelmäßigen Abständen, meistens alle zwei bis drei Wochen. Doch die Gespräche dauerten nur kurz, da ihr Vater selten ans Telefon kam und ihre Mutter oft so kaputt von einem langen Arbeitstag war, dass sie wenig Lust zum Reden hatte. Offenbar war es an der Zeit, ihren Eltern einen Besuch abzustatten, wenigstens für ein Wochenende. Vielleicht im neuen Jahr, wenn das Hauptgeschäft vorbei war und Sarah ihren Laden für eine Woche wegen Inventur schloss. Darüber dachte Sarah im Moment nach, als sie sich durch die Fußgängerpassage in Richtung Leitnerbank und gegen den kalten Wind kämpfte.
Hin und wieder sah sie zu den vorbei eilenden Menschen hoch, die genau wie sie die Köpfe eingezogen hatten. Jeder schien es eilig zu haben und wollte nur an sein Ziel kommen, um dieser Kälte zu entfliehen.
Endlich erreichte sie das imposante Bankgebäude und verschwand sofort ins Innere des Hauses. Eine angenehme Wärme umfing sie. Sarah zog ihre Handschuhe aus, nahm Mütze und Schal ab und öffnete den Mantel. Langsam bewegte sie sich auf den Schalter links vom Eingang zu, da sie dort eine Angestellte erspähte. Ihr Blick wanderte in dem großen Raum umher, der gar nicht wie eine Bankfiliale aussah, sondern vielmehr wie ein Hotelfoyer. Der Fußboden war mit weicher rotgrauer Auslegware bedeckt und an der linken Seite stand eine große Fichte in weihnachtlichem Glanz geschmückt. Darunter lagen viele Geschenke in wunderschönem goldglänzendem Papier. Ein Hauch von weihnachtlicher Harmonie lag in der Luft. Überall leuchteten Tannengirlanden, die mit roten Christbaumkugeln behangen waren. Zu ihrer rechten Seite im Eingangsbereich standen zwei Sitzecken, die mit gemütlichen weißen Ledersofas und Sesseln ausgestattet waren. Sie kreisten kleine Glastische mit bunten Zeitschriften und Tellern voller Weihnachtsplätzchen ein. Kurz überlegte Sarah, ob sie nicht auch für ihre Kunden im Buchladen eine kleine Ecke zum Verweilen einrichteten und Plätzchen oder anderes Gebäck anbieten sollte.
Die hochgewachsene, schlanke blonde Frau am Schalter, die Sarah auf fünfundzwanzig schätzte, also genauso alt wie sie, begrüßte Sarah sehr freundlich und fragte nach ihrem Anliegen.
„Guten Tag, mein Name ist Sarah Jensen. Ich habe einen Termin mit Tom, ähm, Herrn Seiler“, fügte sie rasch hinzu.
„Ich werde Herrn Seiler ausrichten, dass Sie da sind. Nehmen Sie doch bitte so lange dort drüben Platz. Darf ich Ihnen irgendetwas Warmes zum Trinken bringen?“, fragte sie höflich, bevor sie zum Telefonhörer griff.
Dankend lehnte Sarah ab. Sie würde jetzt kaum etwas hinunter kriegen, so aufgeregt wie sie war, und ging hinüber zur Sitzecke. Sie machte es sich auf der gemütlichen Couch bequem und legte ihre Sachen neben sich auf eine Sessellehne. Vom Tisch nahm sie eine Zeitschrift und blätterte darin, ohne sich wirklich darauf zu konzentrieren. Ihre Nerven waren angespannt, sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie das vor ihr liegende Gespräch verlaufen würde. Ihre Chancen für einen Kredit schätzte sie auf vierzig zu sechzig.
Ihre Geduld wurde nicht länger auf die Probe gestellt, denn es dauerte keine fünf Minuten, da stand auch schon Tom in einem schicken grauen Anzug mit blauer Krawatte vor ihr. Erstaunt über sein professionelles Aussehen erhob Sarah sich und begrüßte ihren Freund mit einer herzlichen Umarmung.
„Hey, Sarah. Schön, dass du hier bist. Richard, also Herr Hochkamp, sagte mir, dass du heute kommst. Er hat mich bereits darüber informiert. Aber du siehst ja ganz verfroren aus. Kann ich dir einen Tee anbieten oder eine heiße Schokolade?“
Sarah, immer noch viel zu aufgewühlt, schüttelte den Kopf.
„Danke, ich bin viel zu aufgeregt.“ Von oben bis unten musterte sie ihren Freund anerkennend. „Schick siehst du aus, so kenne ich dich überhaupt nicht.“
„Dann wird es allmählich Zeit, dass du mal siehst, wo und wie ich den ganzen Tag meine Zeit verbringe. Na dann los, packen wir dein Problem an.“
Er hakte sich Sarahs Arm unter und führte sie um eine Absperrung herum durch einen langen Flur in eines der hinteren Büros.
„Das ist mein Reich. Ich teile es mir mit der Kollegin, die du am Schalter kennengelernt hast.“
Er nahm Sarahs Sachen und hängte sie an den Garderobenständer neben der Tür auf, die er anschließend verschloss. Dann schob er Sarah auf einen der Stühle und nahm selbst hinter dem Schreibtisch ihr gegenüber Platz.
„So, dann lass mal schauen, was ich für dich tun kann.“
Tom wirkte sehr geschäftig, als er seinen Computer hochfuhr, und schien voll und ganz in seinem Element, stellte Sarah Fragen und machte sich Notizen. Anschließend rückte er mit seinem Schreibtischstuhl zum Computer zurück und fütterte diesen mit Informationen und Zahlen. Zwischendurch stellte er ihr immer wieder ein paar Fragen, die Sarah ihm uneingeschränkt beantwortete.
Nach einer Stunde drehte er den Monitor so herum, dass sie nun ebenfalls einen Blick darauf werfen konnte.
„Schau mal, ich habe hier einen Vorschlag für dich, der es dir ermöglicht, deine Heizung reparieren zu lassen, damit du finanziell nicht am Ende bist.“
Sachkundig erläuterte er anhand von Zahlen, wie sich die Finanzierung gestalten, wie hoch ihre monatliche Belastung sein würde, wie Zins und Tilgung sich zusammensetzten. Sarah konnte seinen Ausführungen folgen und am Ende lehnte sie sich in ihrem Stuhl mit einem erleichterten Gesichtsausdruck zurück.
„Das hört sich ja gut an. Aber meinst du, ich bin überhaupt kreditwürdig?“
„Dank deiner Mieteinnahme und das Haus als Sicherheit stehen deine Chancen achtzig zu zwanzig. Und ich weiß, du wirst hier im Haus Befürworter haben.“ Grinsend zog er seine rechte Augenbraue in die Höhe.
„Was soll das denn heißen?“ Abrupt richtete sie sich wieder nach vorne und legte beide Hände auf die Tischplatte.
„Sarah, es ist alles gut. Richard und Daniel gaben mir zu verstehen, dass, wenn deine Bonität im grünen Bereich ist, wir dir diesen Kredit gewähren. Es handelt sich hier um Kleinkredite, und unsere Bank ist daran interessiert, auch die kleinen, mittelständischen Unternehmen und Gewerbetreibenden zu unterstützen und zu fördern.“
Erleichtert darüber, dass es nichts mit ihrer Person und ihrer Beziehung zu den Hochkamps, genauer gesagt mit Daniel, zu tun hatte, entspannte sie sich sogleich. Sarah wollte keine Almosen, es wäre das letzte, was sie bräuchte. Dennoch beschlich sie ein kleiner Zweifel. Wenn nun doch Daniel und Richard ihre Finger im Spiel hatten und ihr nur einen Gefallen tun wollten? Hatte Daniel etwa immer noch ein schlechtes Gewissen wegen ihres Zusammenpralls am Samstag? Es genügte doch, dass seine Großmutter im Laden aushalf! Ihr schwirrte der Kopf, zum einen von den vielen Zahlen und zum anderen über die Verfahrensweise. Sie hatte nichts Persönliches mit den Hochkamps zu tun und deshalb wollte sie, wie jeder andere Kunde auch, nicht bevorzugt behandelt werden. Und Abhängigkeit von anderen Menschen oder gar auf deren Mildtätigkeit angewiesen zu sein, gingen ihr ziemlich gegen den Strich. Wenn sie das Geld von der Bank erhielt, würde sie jeden einzelnen Cent zurückzahlen, auch wenn sie hierfür noch einen Nebenjob annehmen müsste. Woher sie allerdings die Zeit nehmen sollte, blieb ihr schleierhaft. Deshalb verdrängte sie jegliche Vorstellung daran.
„Gut, dann sag mir, wie es weiterläuft. Sicherlich benötigst du von mir noch einige Unterlagen.“
Tom nickte zustimmend und beförderte aus der obersten Schublade des Schreibtisches ein bedrucktes Blatt Papier, um es Sarah unter die Nase zu schieben.
„Hier ist aufgelistet, welche Unterlagen wir zur Beantragung des Kredites benötigen. Einen Nachweis deiner Mieteinnahmen, einen Grundbuchauszug, einen Kostenvoranschlag, eine Aufstellung deiner Vermögensverhältnisse, Bilanzen, etc. Gib mir Bescheid, wenn du alles beisammen hast, dann treffen wir uns wieder und beantragen den Kredit.“
„Verstanden. Klingt ziemlich unkompliziert. Und wie lange dauert es, bis er bewilligt ist?“ Erwartungsvoll blickte sie zu Tom.
„Ich denke vierzehn Tage, länger nicht. Ich würde mich sofort bei dir melden, sobald die Zusage vorliegt.“
Sarah fiel ein Stein vom Herzen. Sie sprang förmlich von ihrem Stuhl hoch, der beinahe umgekippt wäre, und rannte flink um den Schreibtisch und schloss die Arme um Tom.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert und dankbar ich dir bin.“ Froh über den Verlauf der Dinge schmatzte sie ihm einen dicken Kuss auf jede Wange.
Tom, der von ihrem Ausbruch völlig überrascht wurde, schaute perplex in ihre Augen.
„Schon gut, Sarah. Ich freue mich auch, dass wir dir helfen können. Wir verbleiben wie besprochen und du meldest dich umgehend. Wirst sehen, deine Heizungsanlage ist schneller wieder in Ordnung als du denkst, und dann brauchst du nicht mehr in deiner Wohnung frieren. Und wir auch nicht“, gab er mit zwinkerndem Auge zu. Froh darüber, dass die Leitnerbank auch ihr finanzielle Unterstützung verschaffen würde, löste Tom die Umarmung und ging zum Garderobenständer, um Sarahs Kleidung zu holen.
„Sei mir nicht böse, dass ich dich schon rauswerfen muss, aber ich habe noch einen Termin. Schließlich möchte ich pünktlich Feierabend machen. Wir sehen uns dann morgen Abend bei den Hochkamps.“
Er half Sarah in den dicken Wintermantel und reichte ihr Mütze und Schal. Dabei spürte er ein leichtes Zucken, das Sarahs Körper durchfuhr, als er den morgigen Abend erwähnte. Bevor sie ihm klarmachen konnte, dass ihr etwas dazwischen gekommen sei, stand plötzlich Richard im Raum. Er lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und beobachtete schmunzelnd die Freunde.
„Hallo Sarah.“ Dann blickte er fragend zu Tom. „Wie schaut`s? Hat alles geklappt?“
Leicht befangen stellte Tom sich neben Sarah und blickte seinen Chef leicht verunsichert an. „Alles bestens, mit dem Kredit sollte es klappen. Sarah stellt alle Unterlagen zusammen und dann nehmen wir den Darlehensantrag auf. Spätestens Anfang nächstes Jahr kann sie ihre Heizung in Ordnung bringen lassen.“
Mit einem zuversichtlichen Lächeln musterte Richard Sarah.
„Gut.“ Mit dieser knappen Antwort trat er Sarah gegenüber. „Dann bis morgen. Ich freu mich.“
Zum Abschied schüttelte er ihre kleine Hand, erwartete aber anscheinend keine Antwort ihrerseits, sondern wandte sich bereits Tom zu.
„Tom, bist du soweit? Unser nächster Termin wartet.“ Damit verließ er den Raum so unauffällig wie er ihn betreten hatte.
Toms Augen folgten seinem Chef einen Moment zu lang, sodass es neugierig aus Sarahs Mund platzte. „Was war das denn? Tom! Richard Hochkamp machte bisher einen sehr kompetenten und freundlichen Eindruck auf mich. Aber eben hat er eine dominante Seite herausgekehrt, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Ist er als Chef immer so furchteinflößend?“ Beeindruckt von Richards Auftritt schaute sie gespannt auf ihren Freund.
Tom schob Sarah aus seinem Büro, den Flur entlang, in Richtung Filialraum.
„Sarah, da täuschst du dich. Er ist der netteste Mann, ich meine Chef, den ich kenne!“
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihren Freund von der Seite an und blieb stehen. Sie hielt ihn am Arm fest, sodass er ihrem Blick nicht ausweichen konnte.
„Aber das sah mir wirklich nicht wie nett aus. Der Mann hat voll den Boss herausgekehrt!“
Verwundert über Toms Gelassenheit ließ sie von ihm ab und runzelte die Stirn. Was war das denn? Tom wirkte in der Gegenwart seines Chefs richtig eingeschüchtert. Hatte er denn so viel Respekt vor ihm? Das sah aber letzten Freitag im Pub noch ganz anders aus. Sarah beließ es vorerst dabei und entschied für sich, dass Richards Verhalten darauf schließen ließ, dass die Männer hier im Job waren und ein korrektes Verhalten an den Tag legen mussten.
Als sie an einen der offenen Büroräume vorüber gingen, blieb Sarahs Blick für einen kurzen Moment an dem Anblick hängen, welcher sich ihr unerwartet bot. Melanie Hansen und Daniel Hochkamp!
Sarah verharrte kurzzeitig. Ihr Atem stockte, als sie diese Szene in sich aufnahm.
Daniel saß mit einem zufriedenen Lächeln an einem Schreibtisch und widmete seine Aufmerksamkeit einem Monitor. Dicht neben ihm auf der Tischplatte thronte Melanie Hansen, ein Bein über das andere geschlagen, mit einem bezaubernden Blick auf Daniel gerichtet. Sie trug ein elegantes graumeliertes Kostüm, dessen Rock oberhalb ihrer Knie gerutscht war und ihre schlanken Beine, die mit hauchfeinen Strümpfen überzogen waren, perfekt zur Geltung brachte. Das Kostüm hätte eines von Prada sein können, aber da kannte Sarah sich nicht gut genug aus. Ihr Makeup war ebenfalls vollkommen, dass man nicht vermutete, dass sie geschminkt war. Ihre Lippen trugen einen dezenten roten Lippenstift, was ihre Sinnlichkeit betonte. Sie glänzte vor Schönheit und Selbstbewusstsein. Und die Art, wie sie Daniel und nicht den Monitor fixierte, entsprach genau der, die die Männer mochten und dahinschmelzen ließen.
Nach dem anfänglichen Schock fasste Sarah sich schnell wieder und beschleunigte ihren Schritt. Sie hatte es auf einmal sehr eilig, die Bankfiliale zu verlassen. Tom bemühte sich, an ihren Fersen zu bleiben. Wahrscheinlich war ihm entgangen, was Sarah soeben gesehen hatte. Als er sie schließlich doch an der Eingangstür erreichte, fasste er Sarahs Arm und stoppte ihre Flucht nach draußen.
„Moment mal, wieso rennst du denn so?“
„Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Ich muss schleunigst in den Laden zurück. Und du hast jetzt einen anderen wichtigen Termin. Ich will dich nicht aufhalten. Vielen Dank für alles, Tom.“
Sie umarmte flüchtig ihren Freund und schoss wie ein Pfeil durch die Filialtür.
Draußen umfing sie wieder dieser eisige Wind, doch Sarah spürte ihn nicht mehr. Noch immer mit offenem Mantel und ohne Mütze und Handschuhe wirbelte sie an die Seite des Gebäudes und lehnte sich an die Hauswand. Mit erhobenem Kopf schaute sie zum grauen Himmel hinauf, schloss die Augen und spürte die Flocken, die einzeln vom Himmel zum Boden tanzten und einige von ihnen auf ihrem Gesicht kleben blieben. Endlich stieß sie die angehaltene Luft aus, die in weißen Nebelschwaden davon schied.
Ihr Herz pochte wild, als sie sich das Bild der beiden in Erinnerung rief.
Sarah hatte Melanie und Daniel hier im Bankgebäude nicht erwartet, weil sie bis Samstag in München sein sollten. Umso mehr war sie überrascht, sie anzutreffen und dann noch in dieser unmissverständlichen Position. Melanie mit schmachtendem Blick auf Daniel. Jeder Blinde konnte sehen, dass sie in diesen Mann verschossen war. Dabei konnte Sarah ihr nicht einmal böse sein, weil es ihr genauso ging. Sarah gestand sich plötzlich ein, dass sie auf diese Frau eifersüchtig war. Auch Melanie war von diesem Mann völlig fasziniert.
Kälte kroch in ihren Körper und das Brennen in ihren Augen wurde schlimmer. Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen hinunter, sie musste diesem Mann entkommen. Das konnte sie nur, wenn sie sich dem stellte und der Realität ins Auge sah.
Wie lange sie dort so an der Hauswand lehnte, wusste sie nicht mehr. Entschlossen zog sie mit ihren klammen kalten Fingern das Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste.
„Hallo Mark. Wie geht es dir?“, hauchte sie vor Kälte ins Telefon.
„Sarah. Ich freu mich sehr über deinen Anruf. Ich hatte die Befürchtung, du würdest gar nicht mehr mit mir reden.“
Sie ging nicht auf seine Anspielung ein, sondern fasste nach kurzem Zögern endgültig einen Entschluss. „Gehen wir gemeinsam zu der Party bei den Hochkamps?“ Die Luft anhaltend wartete sie auf seine Reaktion.
„Natürlich. Tom und Jessica holen mich zwanzig vor acht ab, fünf Minuten später sind wir bei dir. Hat Jessica dir noch nicht Bescheid gegeben?“ Seine Stimme klang irritiert.
„Nein, wir haben noch nicht wieder miteinander gesprochen. Heute Abend melde ich mich aber noch mal bei ihr.“ Sarah verdrehte die Augen. Typisch Jessica, immer auf den letzten Drücker.
„Gut. Dann sehen wir uns morgen. Ich muss Schluss machen, Sarah. Ich habe gleich noch eine Stunde Sportunterricht und will danach noch ins Fitnessstudio. Es sei denn, …“ Aber er beendete seinen Satz nicht.
Zögernd stieß sie Luft aus.
Ist schon okay. Dann bis morgen. Tschüss.“ Damit beendete sie schnell das Gespräch, bevor sie es sich noch einmal überlegte. Sarahs Entschluss stand fest.
Sie verstaute ihr Handy in der Manteltasche, um sich auf den Weg zum Laden zu machen. Frau Leitner würde bestimmt schon warten.
Durchgefroren bis auf die Knochen stürmte Sarah regelrecht in den Laden.
„Mann, ist das eisig draußen. Es hat wieder angefangen zu schneien“, berichtete sie so beiläufig wie möglich der anderen Frau.
Frau Leitner eilte ihr entgegen und half ihr aus dem Mantel.
„Kommen Sie, meine Liebe. Ich habe einen Tee vorbereitet, der wird Ihnen sicher guttun. Erzählen Sie mir, wie es in der Bank lief!“
Beide Frauen tranken ihren Tee und Sarah erzählte erleichtert, dass das Gespräch super verlief. Auch Frau Leitner war hocherfreut, zu sehen, dass der jungen Frau eine Last von den Schultern fiel.
Sarah, die ihre kalten Hände um die heiße Teetasse schlang, schaute dankbar auf Frau Leitner. „Haben Sie vielen Dank. Ohne Sie säße ich wahrscheinlich immer noch hier und würde grübeln, wie ich das Problem lösen könnte.“
„Nicht der Rede wert. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und konnte helfen. Glauben Sie mir, es ist eine Wohltat, anderen Menschen helfen zu können.“
„Aber das ist leider nicht immer selbstverständlich. Ich danke Ihnen auch dafür, dass Sie mir in dieser Woche sehr geholfen haben. Vielleicht kann ich mich irgendwann revanchieren!“
„Nun lassen Sie mal gut sein. Ich hatte hier meine Abwechslung und ein bisschen Spaß, Sarah. Da wir schon einmal bei dem Thema sind, wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht meine fachmännische Unterstützung weiterhin annehmen würden, auch wenn es Ihrem Fuß wieder besser geht? Ich möchte mich nicht aufdrängen, aber es wäre mir ein Vergnügen, weiterhin auszuhelfen. Natürlich unentgeltlich. Wie wär’s als Praktikantin?“
Frau Leitner schaute hoffnungsvoll zu Sarah und als sich ihre Blicke trafen, prusteten beide vor Lachen los.
Sarah fing sich als erste und versuchte, mit gespielt ernsthafter Miene zu antworten. „Ich hatte noch nie eine Praktikantin. Also ich kenne die Voraussetzungen nicht, aber das Probearbeiten haben Sie auf jeden Fall bestanden. Von meiner Seite aus steht dem nichts im Wege.“
Abermals lachten beide herzhaft. Sarah freute sich wirklich, Daniels und Richards Großmutter um sich zu haben. Die Frauen hatten sich in dieser Woche sehr gut verstanden, zwischen ihnen wuchs bereits ein freundschaftliches Verhältnis. Sarah hatte das Gefühl, als würde sie diese Frau schon ewig kennen. Sie erinnerte sie an ihre Großmutter Marianne, die ihr immer das Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit gab. Durch die Unterstützung von Frau Leitner konnte Sarah sich vielleicht ein bisschen Freiraum verschaffen, um andere Dinge wie Bankgeschäfte oder wichtige Einkäufe zu erledigen.
Sie besprachen, wie sie zeitlich in der nächsten Woche die neue Praktikantenstelle besetzen wollten, und einigten sich darauf, dass die zukünftige Praktikantin mittwochs und freitags für jeweils zwei Stunden im Laden aushalf, vorausgesetzt, sie hatte keine anderen Verpflichtungen.
„Wunderbar, Sarah, ich freue mich sehr, dass sie meinen Vorschlag angenommen haben.“
Damit stand sie auf und umarmte Sarah glücklich.
„Was gibt es denn hier zu feiern?“, erklang augenblicklich eine angenehme Männerstimme hinter ihnen. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass die Ladentür geöffnet und wieder verschlossen wurde.
Hoch gewachsen und dominant schaute Daniel Hochkamp mit einem charmanten Lächeln die Frauen an. Dabei lehnte er gelassen an den Kassentisch und schob seine Hände in die Hosentaschen. Sein Mantel stand offen, sodass ein grauer Designeranzug zum Vorschein kam.
Daniels Großmutter löste sich aus der Umarmung und wirbelte zu ihrem Enkel herum. „Junge, du bist zurück aus München. Dich hätte ich hier nicht erwartet. Gab es Probleme?“
Sie eilte zu ihm, legte ihre Hand an seine Wange und tätschelte sie liebevoll.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Großmutter, und nein, es gab keine Probleme. Ich wollte nur nach dem Rechten schauen, fahre aber heute Abend nochmal zurück nach München“, informierte er sie, amüsiert durch ihren herzlichen Empfang, und hauchte einen Kuss auf ihre Wange. Er wandte den Blick von seiner Großmutter auf Sarah und spießte sie förmlich mit seinen blaugrauen Augen auf. Die unbeschwerte Stimmung von eben war verflogen. Sarah hatte nicht mit ihm gerechnet, da er eben noch in seinem Büro beschäftigt war. Mit Melanie!
Sarah, die seinen Blick einfing, schoss satte rote Farbe in die Wangen und ihre Knie begannen zu zittern. Sie stützte sich an dem kleinen runden Tisch ab, um nicht ganz die Fassung zu verlieren. Wie vom Donner gerührt verschlug es ihr bei seinem Anblick den Atem und sie musste sich zusammenreißen, um nicht dem Drang nachzugeben, genau wie Frau Leitner diesem Mann entgegenzufliegen, nur um ihm ganz nahe zu sein. Wie schaffte er es nur, sie derart aus dem Gleichgewicht zu bringen?
Daniel fixierte sie mit einem anzüglichen Lächeln und war sichtlich belustigt, sie durch seine bloße Anwesenheit so aus der Bahn geworfen zu haben. Er konnte ihre Nervosität spüren und kostete diesen Moment voll aus. Für ihn gab es nur noch sie beide in dem kleinen unscheinbaren, aber gemütlichen Laden.
„Grüß dich, Sarah. Es ist mir eine Freude, dich wiederzusehen.“
Seine Stimme klang tief und samtig. Wie in Zeitlupe schritt er an seiner Großmutter vorbei auf Sarah zu und platzierte sich in seiner vollen Größe vor ihr, nahm ihre blutleere Hand in seine, ohne den Blick von ihr abzuwenden. „Wie es scheint, ist hier alles in bester Ordnung.“
Sarah, der es die Sprache in seiner Gegenwart verschlug, schluckte.
„Vergiss das Atmen nicht“, erinnerte er sie flüsternd, und Sarahs Atmung beschleunigte sich zusehends. Er beugte sich zu ihr hinunter und hauchte einen zarten Kuss auf ihre glühende Wange.
In ihrer Hand, die von Daniel immer noch festgehalten wurde, bildete sich ein Schweißfilm und in ihr explodierte ein Feuer, dessen Flammen sich rasend schnell über ihren gesamten Körper ausbreiteten. Für Sarah war er der reinste Wahnsinn. Dieser Mann war abgöttisch. Seine schwarzen Haare waren durch den Wind zerzaust, seine schönen Lippen wurden verführerisch von seinem Dreitagebart umschlossen und diese blaugrauen Augen zogen sie magisch an. Sie wurde schwach. Wie sollte sie je diesem Mann widerstehen?
Rettung war nicht in Sicht. Sie war auf einer Insel gestrandet, umgeben von Daniels Wogen. Jeder Versuch, dieser Insel zu entfliehen, schien aussichtslos, da er sie immer wieder zurück an den Strand spülte. In ihrem tiefsten Verborgenem wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ewig auf dieser Insel zu verweilen, eingeschlossen von seinen Wellen, die er aussandte und an ihr brandeten, sich entfernten und erneut Anlauf nahmen, um sich an ihrem Strand zu brechen. Sie wollte ihn spüren, seine Lippen, seine Hände, seinen Körper, wie er sie umschloss und nie wieder losließ.
Es war seine Großmutter, die Sarah aus ihren Tagträumen riss und auf den Boden der Tatsachen zurückholte.
„Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber Daniel könntest du mich jetzt bitte fahren? Ich bin mit meinen Freundinnen zum Kartenspielen verabredet.“ Sie räusperte sich leicht und sah zwischen beiden, mit einem Schmunzeln um ihren Mund, hin und her. „Auf Wiedersehen, Sarah. Bis morgen Abend“, verabschiedete sie sich lächelnd.
Daniel lachte auf und löste sich von Sarah.
„Deswegen bin ich hier, Großmutter.“
Fürsorglich half er ihr in die warmen Sachen und drehte sich noch einmal zu Sarah, die wie angewurzelt an ihrem Tisch stand. „Bis morgen“, zwinkerte er ihr zu, hakte seine Großmutter unter und führte sie zur Tür.
Auch Frau Leitner schaute sich ein weiteres Mal um, winkte ihr zum Abschied und verließ gemeinsam mit ihrem Enkel den Buchladen.
Sarah verharrte starr an ihrem Platz, atmete einige Male tief durch und folgte den beiden bis zur Tür. Ihr Blick verfing sich an dem schwarzen Audi, in dem Frau Leitner in den hinteren Fond stieg und Daniel ihre Tür schloss. Er selbst stieg auf der Fahrerseite ein und schnallte sich an.
Sarahs Augen blieben an der Blondinen auf dem Beifahrersitz hängen. Wer sonst, als Melanie Hansen höchstpersönlich, sollte bitte schön dort sitzen? Sie hätte es sich denken können. Ein Grollen brannte in ihrer Kehle. Egal, wo Daniel auftauchte, in seinem Schatten schwirrte stets Melanie. Sie wusste es. Da, wo er war, durfte Melanie nicht fehlen.
Sarah zuckte von der Tür weg, als Daniel einen Blick über die Schulter in ihre Richtung warf und sie erspähte. Ein bezauberndes Lächeln umspielte seinen Mund, bevor er von ihrer Bildfläche verschwand.
Glücklicherweise betraten zwei Frauen mit einem Kleinkind den Laden. Umgehend legte Sarah den Schalter auf Geschäftsfrau um, die ihre Kunden zuvorkommend bediente.
Am Ende des Tages lag Sarah bequem mit ihrem Handy auf der Couch, nachdem sie sich zum Abendessen einen großen bunten Salatteller gegönnt hatte, und wählte Jessicas Nummer.
„Hey, Sarah. Schön, dass du dich meldest, sonst hätte ich es noch getan.“
„Wer’s glaubt, wird selig, ich grüße dich auch. Alles im grünen Bereich bei dir?“
„Klar, wie immer der übliche Stress. Du hör mal, morgen holen wir dich viertel vor acht ab und fahren gemeinsam zu den Hochkamps. Tom fährt.“
Sarah verzog wissend den Mund. „Das weiß ich alles längst, Mark hat es mir bereits erzählt. Weißt du schon, was du anziehen wirst? Ich habe keinen Plan.“
Diesbezüglich hatte sie sich nun wirklich noch keine Gedanken gemacht, und leichte Panik stieg in ihr auf. Ihr Kleiderschrank bot nur eine begrenzte Anzahl von Kleidungsstücken, da sie am liebsten in engen Röhrenjeans mit T-Shirt oder Pullover herumlief. Nicht oft warf sie sich in Schale, da sie ja selten zu irgendwelchen piekfeinen Partys eingeladen wurde. Hin und wieder lieh Jessica ihr ein Kleid, aber das war es dann auch schon.
„Mach dir darüber keine Gedanken. Pass auf, ich werde schon gegen sechs bei dir sein und bringe ein paar von meinen Klamotten mit. Wir werden dich schon ein bisschen herausputzen, Aschenputtel! Du wirst sehen, die Männer werden sich bei deinem Anblick die Hälse verrenken und ihre Zungen werden ihnen bis zum Boden heraushängen. Und vielleicht ist auch dein Prinz unter den Gästen, wer weiß?“
„Was soll das denn heißen? Suche du dir lieber einen Prinzen!“
Empört über Jessicas Versuche, sie mit der Männerwelt in Berührung zu bringen, lenkte sie von sich ab.
„Wie schaut es eigentlich mit deinem Liebesleben aus? Den letzten Typ, an den ich mich erinnere, hieß Robert. Was ist aus dem geworden?“
„Abgeschossen“, lautete die knappe Antwort ihrer Freundin.
„Oh, seit wann? Das hast du mir gar nicht erzählt! Wir müssen uns echt mal ohne männliche Begleitung treffen. Ich will die ganze Geschichte hören!“
Seufzer am anderen Ende der Leitung machten Sarah stutzig, so verhalten kannte sie die Freundin nun wirklich nicht. Jessica war diejenige, die bei Männern das Zepter in der Hand hielt und bestimmte, wo es in einer Beziehung lang ging und wie lange sie dauerte. Aber diese Reaktion war ja mal was ganz Neues!
„Na ja, eigentlich wollte ich dich damit nicht belasten.“ Sarah hörte, wie Jessica kurz, aber heftig, die Luft einzog. „Er ist fremdgegangen.“
Vorübergehend herrschte absolute Stille an beiden Telefonenden.
„Wie bitte?“ Sarah war baff und musste das Gehörte erst einmal verdauen. Jessica wurde betrogen! Das gab’s doch nicht! Waren denn alle Männer so verdorben wie Paul? Wahrscheinlich lag das an deren Jagdinstinkt, sie brauchten einfach die Bestätigung, wie toll sie waren. Auf einer Hochzeit zu tanzen, genügte ihnen wohl einfach nicht. Plötzlich bekam Sarah Mitleid mit ihr und konnte nachempfinden, was sie gerade durchmachte.
„Genau deswegen habe ich dir nichts davon erzählt. Ich wusste, es würde dich belasten und alte Erinnerungen wecken. Ich weiß jetzt, was du vor zwei Jahren durchgemacht hast, als du hierher kamst, weil Paul…“ Mehr musste sie nicht sagen. Sie spürte wie Sarah sich beim Erwähnen des Exfreundes innerlich verkrampfte.
„Oh Gott, Jessica, das…“, stotterte Sarah.
„Sarah, lass es gut sein. Ich bin okay.“ Schnell lenkte Jessica ein. „Übrigens freue ich mich auf die Party. Ich hoffe, es kommen ein paar nette Kerle, aber nicht nur zum Angucken!“
Ihre Laune änderte sich binnen weniger Sekunden um hundertachtzig Grad. Typisch Jessica! Wie schaffte sie das nur? Eben noch todunglücklich und jetzt Himmel hoch jauchzend!
Lachend plapperte Jessica weiter drauf los und lenkte Sarah, und vermutlich auch sich selbst, von den düsteren Gedanken ab.
Als sie das Gespräch beendet hatten, wählte Sarah die Nummer ihrer Eltern und führte ein kurzes Telefonat mit ihrer Mutter über die gewohnten alltäglichen Dinge, wie es ihnen ginge und wie die Geschäfte so liefen.
Zum Thema Weihnachten und Silvester bekam Sarah dieselbe Antwort wie im letzten Jahr, sie würden sich nicht sehen können. Gleichwohl erzählte Sarah nichts von ihrem Plan, die Eltern im neuen Jahr besuchen zu wollen. Sie wollte nichts versprechen, was sie vielleicht nicht halten konnte und dann wäre es umso trauriger, wenn sie ihre Eltern enttäuschen müsste. Lieber entschied sie sich spontan zu dieser Aktion. Ihre Eltern würde sie garantiert zu Hause antreffen, da sie nur selten ausgingen geschweige denn verreisten.