Читать книгу Wetteinsatz mit bittersüßem Beigeschmack - Ive Holt - Страница 8

- Fünf -

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Den Sonntagvormittag verbrachte Sarah damit, ihre Wunden zu lecken, nicht nur die kleine äußerliche an ihrem Fuß, vielmehr hatte sie mit der schmerzenden Wunde im Inneren ihres Herzens zu ringen. Sie versuchte sich mit allen möglichen Dingen abzulenken, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder zurück zu dem gestrigen Abend und zu dem Mann, der sie aus ihrem Schneckenhaus hervor gelockt hatte. Lebhaft erinnerte sie sich an die warme und sinnliche Berührung seiner Lippen und das Prickeln, das ihren Körper überschwemmte. Ihr Kopf wehrte sich gegen diese Anziehungskraft, doch je stärker sie dagegen ankämpfte, desto verlockender schien ihr allerdings die Vorstellung, noch einmal von der verbotenen Frucht zu naschen.

Hatte sie jemals solche Gefühle für einen anderen Mann empfunden, hatte Paul jemals so einen Gefühlssturm in ihr ausgelöst? In Hamburg war Paul es gewesen, dem sie zum ersten Mal ihre Liebe offenbarte, und sie war sich sicher, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Aber die Lawine der Gefühle, von der sie gestern überrollt worden war, stand nicht im Vergleich zu dem, was sie mit Paul erlebt hatte.

Völlig durcheinander von dem Gefühlschaos schreckte sie hoch, als es gegen Mittag an der Haustür läutete. Sie schlich zur Sprechanlage und erhaschte schnell noch einen Blick in den Flurspiegel. Mit raschen Bewegungen brachte sie ihr Haar in Ordnung und band es zu einem Zopf zusammen. Sie klopfte mit den Händen an ihre Wangen, damit sie ein wenig Farbe bekamen. Dann griff sie zum Hörer der Sprechanlage. „Ja. Hallo?“

„Ich bin’s Mark“, kam die knappe Antwort.

Sarah stutzte kurz und drückte schließlich den Türöffner. Mit großen Schritten erklomm Mark die Stufen zu ihrer Dachwohnung und trat ein.

„Hallo Sarah.“ Er schaute sie mit geneigtem Kopf an, als versuchte er, in ihrem Gesicht zu lesen. „Störe ich?“

„Nein. Komm rein und mach’s dir bequem. Ich geh nur kurz ins Bad und bin gleich bei dir.“

Ohne ihn anzuschauen und darauf bedacht, ihren verletzten Fuß nicht zu belasten, flüchtete sie ins Bad und setzte sich auf den Wannenrand, den Kopf zwischen den Händen gestützt. Mark! Was sollte sie tun? Mit keiner Silbe hatte sie daran gedacht, dass er heute bei ihr vorbeischauen wollte, um zu sehen, wie es ihr ging.

Seine Fürsorge sprach für ihn, aber alles andere schien aussichtslos. Sie fühlte sich in Marks Gesellschaft wohl, aber für mehr war sie bisher nie bereit gewesen. Sie würde es wohl auch in Zukunft nicht sein, jetzt, nachdem sie Daniel begegnet war. Ganz gleich, wie die Dinge sich entwickelten. Eines stand aber fest, ihr Körper würde nie so auf Mark reagieren wie er es bei Daniel tat. Das, was zwischen ihr und Daniel passiert war und was sie selbst noch gar nicht richtig einordnen konnte, war einzigartig, wie eine Supernova am Firmament. War das vielleicht die ‚Liebe auf den ersten Blick‘?

Sie sollte klare Verhältnisse schaffen und Mark schonend beibringen, dass sie ihn mochte, ihm aber nur freundschaftliche Gefühle entgegenbrachte. Doch der heutige Tag war einfach nicht der richtige. Sie fühlte sich ausgelaugt und deprimiert.

Der Funken war einfach nicht zu Mark übergesprungen. Ein Seufzer entrann ihrer Kehle. Niedergeschmettert richtete sie sich auf und sah in den Spiegel. Vor ihren Augen erschien wieder Daniels Anblick und sie schüttelte den Kopf. Sie musste sich diesen Mann ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen, auf Abstand gehen. Er war vergeben und somit tabu! Aber das war leichter gesagt als getan. Was sollte sie nur gegen diesen Gefühlssturm tun?

Blitzartig schoss eine, wenn auch irrsinnige Idee durch ihren Kopf und nahm allmählich Gestalt an. Würde sie ihre chaotischen Gefühle im Zaum halten können, wenn sie versuchte, sich auf Mark einzulassen und ein bisschen mehr für ihn zu empfinden und somit Abstand zu Daniel bekäme?

Daniel Hochkamp klarzumachen, dass sie nicht bereit war für eine heimliche Affäre, schien viel einfacher, wenn er begriff, dass sie Mark den Vorzug gab. Nichtsdestoweniger würde Mark nur Mittel zum Zweck sein und sie müsste ihn anlügen, würde mit seinen Gefühlen spielen. Das wäre ihm gegenüber mehr als unfair. Er würde sich weiterhin Hoffnungen machen, die sie nicht erfüllen könnte. Aber im Moment sah sie darin eine Chance, um Daniel auf Distanz zu halten und ihren Standpunkt ihm gegenüber offenzulegen.

Überrascht von ihren skurrilen Gedanken schrak sie auf, als sie ein Klopfen an der Badezimmertür vernahm.

„Sarah?“ Mark holte sie augenblicklich in die Realität zurück.

„Bin gleich fertig und sofort bei dir.“ Sie betätigte die Toilettenspülung und ließ kurz den Wasserhahn laufen. Ohne Eile verließ sie das Bad und ging zu Mark hinüber. „Wie ich sehe, hast du es dir schon gemütlich gemacht.“

Mark aalte sich in dem Sessel vor dem Fernseher und verfolgte das Sportprogramm. Für sie war es bereits zur Gewohnheit geworden, dass ihre Freunde sich selbst einluden und wie zu Hause fühlten. Es störte Sarah nicht im Geringsten. Im Gegenteil, es war schön, dass sie sich bei ihr wohlfühlten. Umgekehrt war es schließlich genauso. Egal, bei wem sie aufkreuzte, sie hatte immer das Gefühl, willkommen zu sein. Vielleicht war es gut so, dass Mark bei ihr aufgekreuzt war, sie wollte an der gewohnten Normalität nichts ändern.

„Möchtest du etwas trinken?“

„Ich dachte schon, du fragst nie. Wir könnten uns etwas zum Essen bestellen. Wie geht es eigentlich deinem Fuß?“ Neugierig schaute er in ihre Richtung.

„Erstens geht es meinem Fuß soweit gut. Ich darf ihn nur nicht zu sehr belasten. Und zweitens gar keine so schlechte Idee mit dem Essen. Also, was schlägst du vor?“

„Da heute Sonntag ist, lass uns was vom Italiener nehmen, wie immer.“ Mark schmunzelte, erfreut zu wissen, dass sie ihn nicht fortschickte. „Wie wär’s mit Pizza und Pasta?“

Da Sarah nicht wirklich Appetit hatte, stimmte sie einfach zu und überließ Mark die Bestellung. Schließlich kannte er ihre Lieblingsspeisen. Es war keine einmalige Sache, dass sie zusammen aßen. In der Zwischenzeit holte sie Getränke, für ihn Ginger Ale und für sich selbst kochte sie Tee.

Sie setzte sich auf das Sofa, legte die Füße hoch und zog die weiße Kuscheldecke, die Daniel ihr gestern Abend behutsam über ihren Körper gelegt hatte, bis zu ihrem Bauch hoch. Inzwischen hielt Mark sein Handy am Ohr und bestellte für sie beim Italiener.

Wieder schlichen sich die Bilder vom Vorabend in ihren Kopf und eine leichte Gänsehaut überzog ihren Körper. Daniel. Immer noch konnte sie die Berührung seiner verlangenden Lippen auf ihren spüren. Allein bei dieser Vorstellung durchfuhr sie ein heißer Schauer. Konnte sie denn nicht aufhören, an ihn zu denken?

„Konntest du gut schlafen? Ich meine wegen deiner Verletzung.“

Mark räusperte sich und deutete mit der Fernbedienung, die er in der Hand hielt, auf ihren Fuß.

Sarah wich seinem Blick aus. „Ja, war okay. Ich habe vorher noch eine Schmerztablette genommen. Der Knöchel ist zwar noch etwas geschwollen, aber wenn ich ihn schone, müsste es bald wieder werden.“ Dann wandte sie sich Interesse vortäuschend dem Fernseher zu, um weiteren Fragen auszuweichen. „Was läuft denn da?“

Mit Begeisterung berichtete Mark vom Weltcup Abfahrtslauf, wer die Favoriten waren, welche Austragungsorte es gab und so weiter und so weiter. Sarah folgte seinen Ausführungen nur halbherzig, war aber dankbar für die Ablenkung.

Als es abermals an der Haustür klingelte, gab Mark ihr zu verstehen, dass er sich um den Pizzaservice kümmerte, einschließlich der Bezahlung. Nachdem das Essen geliefert wurde, machten sie sich gemeinsam darüber her und folgten den Übertragungen im Fernseher.

Irgendwann im Laufe des Nachmittages gesellten sich Jessica und Tom zu ihnen und die vier verbrachten einen lustigen, entspannten Nachmittag. Bei einem Glas Chianti spielten sie zwei Runden Monopoly, bei dem Sarah stets verlor. Den Freunden entging nicht, dass mit ihrer Heizung etwas nicht in Ordnung war.

„Sag mal, musst du sparen oder warum ist es hier so kalt?“, wollte Jessica zwischendurch von ihr wissen. Da es vor den Freunden keine Geheimnisse gab, verschwieg sie ihnen nicht, was das Problem war, nämlich, dass die Anlage steinalt war und eine Generalüberholung vermutlich nicht ausreichen würde.

Beim Abschied machte Tom ihr den Vorschlag, dass, falls eine neue Heizungsanlage fällig wäre, sie gern in der Bank vorbeischauen sollte, um nach finanzieller Unterstützung zu fragen. Augenblicklich dachte Sarah mit einem verschmitzten Lächeln an Daniel, den sie unter Generalverdacht gestellt hatte, weil sie annahm, dass er sie als potentielle Kundin sah. Und nun fing Tom genauso an. Aber die Idee war gar nicht so übel, Sarah hatte diese Möglichkeit bereits in Erwägung gezogen. Jedoch bezweifelte sie gleichzeitig, dass ihre Bonität dafür ausreichte. Denn die paar Ersparnisse, die auf ihrem mickrigen Konto lagen, reichten nicht einmal für den nächsten Urlaub. Vielmehr brauchte sie diese Reserve, wenn im Buchladen eine Flaute war.

Sarah, der die Zerstreuung am Nachmittag sichtlich gut tat, fühlte sich entspannter, da vorübergehend der gewohnte Alltag eingezogen war. Inzwischen war es dunkel geworden und ihre Freunde gegangen. Sie räumte die Küche auf, stellte das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler und zog sich anschließend wieder auf die Couch zurück. Mit der Hand rieb sie ihren schmerzenden Knöchel. Später würde sie nochmal ein feuchtes Tuch darauflegen, ihn kühlen und wenn nötig noch ein Schmerzmittel nehmen. Als sie die Fernbedienung vom Tisch nahm, warf sie einen willkürlichen Blick auf ihr lautloses Handy.

Mehrere Anrufe in Abwesenheit und mindestens drei SMS! Wer war denn da so hartnäckig am Sonntag? Neugierig nahm sie das Handy zur Hand, streckte die Beine auf der Couch aus und blickte auf die Telefonnummer, unbekannter Teilnehmer, jedoch immer dieselbe Nummer.

Verwundert und neugierig zugleich über die Beharrlichkeit des Anrufers öffnete sie die erste Nachricht.

Hallo, Sarah. Ich bin’s, Daniel. Ruf mich bitte zurück.

Oh Gott, Daniel! Ungewollt schossen ihr die Bilder des gestrigen Abends durch den Kopf. Was wollte er denn noch von ihr? Hatte sie ihm nicht deutlich zu verstehen gegeben, dass sie gestern zu weit gegangen waren? Sie hatte ihn abgewiesen und gebeten, zu gehen. Das war doch ein eindeutiges Signal, dass sie ihn nicht mehr in ihrer Nähe haben beziehungsweise nicht mehr sehen wollte, egal aus welchen Beweggründen. Oder?

Okay, zu dieser Einweihungsparty würde sie noch gehen, aber nicht seinetwegen. Die Idee war ja nicht auf ihrem Mist gewachsen.

Völlig aufgewühlt las sie die weiteren Nachrichten:

Warum meldest du dich nicht? Ich möchte mit dir reden!

Geht es dir gut? Was macht dein Fuß? Ruf bitte zurück.

Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Aber ich war mir sicher, du hast das Gleiche für mich empfunden wie ich für dich. Du bist eine atemberaubend schöne Frau und ich fühle mich zu dir hingezogen.

Lass uns darüber reden.

Sarah, es tut mir leid, dass ich gestern ohne ein Wort gegangen bin, aber du warst nach Marks Anruf so still und abwesend. Ich muss mit dir reden.

Sarah konnte einfach nicht glauben, dass Daniel ihr diese Sachen schrieb. Er fühlte sich zu ihr hingezogen und fand sie schön? Atemberaubend schön! Das ging doch nicht! Wer war sie denn schon im Vergleich zu Melanie Hansen? Gut, Sarah leugnete nicht, dass sie sich selbst recht ansehnlich und adrett fand. Aber sie hatte nicht gerade die Maße eines Models und war doch nicht atemberaubend schön! Wiederum gab Daniel ihr nicht das Gefühl, dass er sich mit Komplimenten bei ihr einschleimen wollte. Seine ganze Art wirkte unverfälscht und ehrlich. Er hatte es doch überhaupt nicht nötig, sich bei Frauen einzukratzen, bei seinem Aussehen!

Dieser Mann verwirrte sie. Was war mit Melanie? Sie schien doch seine Herzensdame zu sein. Wieso fühlte er sich dann ausgerechnet zu ihr hingezogen? Das durfte nicht sein! Sarah verstand es nicht. Daniel hatte an ihr Herz geklopft und sie hatte ihm in einem schwachen Moment diese Tür freiwillig geöffnet…

Und woher kannte er ihre Telefonnummer?

Fragen über Fragen. Und keine Antworten.

Eine einzige Träne rollte über ihr Gesicht. Es war eine Träne des Verlusts, als vor ihren Augen dieser faszinierende Mann auftauchte, und sie daran dachte, mit welcher Leidenschaft er sie geküsst hatte, und sie seine Männlichkeit, eine Reaktion auf ihren Körper, spüren konnte, bevor er wortlos ging. Die Vorstellung, was wohl noch passiert wäre, hätte Mark nicht angerufen, hinterließ eine Gänsehaut auf ihrem Körper.

Nein, sie durfte sich nicht auf Daniel einlassen. Er hatte bereits eine Frau an seiner Seite. Sarah wäre nur eine Affäre. Melanie und er waren wie für einander geschaffen und Melanie Hansen würde ihren Platz nicht freiwillig für Sarah räumen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Entschlossen legte Sarah das Handy zur Seite und rutschte noch tiefer in das Sofa, deckte sich mit ihrer molligen Decke zu und schlief bald darauf ein.

Am Montag ging es ihrem Fuß schon besser. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen und die Schwellung war so gut wie abgeklungen, sodass Sarah zwar etwas langsamer als gewöhnlich, aber fast mühelos im Laden zurechtkam. Sie gönnte sich immer wieder kleine Pausen, denn zu dieser frühen Morgenstunde war es verhältnismäßig ruhig. Waren keine Kunden in Sicht, legte sie ihren Fuß für eine Weile hoch und trank genüsslich ihren Tee. Hin und wieder glitt ihr Blick von dem Garmisch-Partenkirchener Tagesblatt, in dem sie blätterte, hinüber zum Schaufenster.

Über Nacht hatte es geschneit, inzwischen türmten sich die Schneehügel vor der Buchhandlung und den gegenüberliegenden Geschäften. Die Temperaturen blieben am Tag unter dem Nullpunkt, sodass der Neuschnee liegen blieb. Zum Glück gab es hier einen städtischen Räumungsdienst, der sich um die Schneemassen kümmerte und somit Sarahs Mühen nicht forderte. Der Wetterbericht kündigte längst für die Vorweihnachtszeit einen zeitigen und strengen Wintereinbruch an. Der Blick auf die Gehwege und Straße bestätigte die Vorhersage.

So schön und friedlich, wie diese winterliche Idylle auch wirkte, so bereitete sie Sarah dennoch Kopfzerbrechen. Eine böse Vorahnung beschlich sie. Ihre Heizung würde irgendwann schlappmachen. Bereits im letzten Winter gab es die ersten bedenklichen Anzeichen. Doch Sarah hatte das Problem stets vor sich hergeschoben. Der vergangene Sommer war schön und warm gewesen, sodass sie die Gedanken an die kaputte Heizung gänzlich aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte.

Der Vormittag zog sich in die Länge, doch bereits gegen Mittag füllte sich der Laden. Als die Kundin, der sie gerade ein Buch mit italienischen Küchengerichten verkauft hatte, zur Ladentür hinausging, war Sarah für wenige Minuten alleine.

Entschlossen nahm sie das Telefonbuch zur Hand und setzte sich in einen ihrer Lieblingssessel. Sie würde nicht umhin kommen, ihre Heizung reparieren zu lassen. Ob es ihr nun passte oder nicht, sie konnte die Augen nicht mehr davor verschließen. Es musste eine Lösung her, und das schleunigst. Nachdem sie eine ortsansässige Heizungsfirma herausgesucht hatte, wählte sie ohne zu Zögern deren Nummer. Dabei strichen ihre Finger das Papier glatt, das sie auf den Tisch gelegt hatte, um sich gegebenenfalls Notizen zu machen. Nach dreimaligem Läuten hörte sie eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, der sie in knappen Sätzen ihre Lage schilderte. Sie vereinbarten für Donnerstag um die Mittagszeit einen Termin zur Besichtigung. Dafür müsste sie zwar kurz den Laden dichtmachen, aber es nützte nichts.

Sarah lehnte sich entspannt in ihrem Sessel zurück. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie nutzte die Gunst der Stunde und blätterte in einem Fachmagazin die Seite auf, auf der eine neue Buchreihe vorgestellt wurde, die sie bald in ihrem Laden verkaufen wollte. Es könnte der Weihnachtsrenner dieser Saison werden. Sie versprach sich zumindest sehr viel davon.

In ihre Lektüre versunken bemerkte sie nur durch einen leichten Luftzug, dass Kundschaft den Laden betrat. Noch vertieft in die letzten Zeilen eines interessanten Artikels hob sie gemächlich ihren Kopf und schaute zur Tür.

Eine ältere Dame mit graumeliertem Haar trat in Begleitung eines Mannes das Geschäft, dessen Gesicht ihr sofort bekannt vorkam.

Sarahs Herzschlag setzte für einen kurzen Augenblick aus und sie zog die Luft ein, als die beiden sich ihr näherten. Kaum imstande zu atmen, legte sie nervös das Magazin auf den Tisch und stand auf, um ihre Kunden zu begrüßen. Bemüht, einen professionellen Auftritt hinzulegen und nicht allzu sehr zu humpeln, ging sie ihnen mit gestrafften Schultern und einem freundlichen Lächeln entgegen.

Die Frau begrüßte sie freundlich, da sie Stammkundin war und sie sich bereits kannten. Plötzlich fiel es Sarah wie Schuppen von den Augen. Das musste Daniels Großmutter sein. Doch woher sollte sie es auch gewusst haben, denn ihr Name war nicht Hochkamp, sondern Leitner. Sarah erwiderte die herzliche Begrüßung und schaute von ihr zu dem Mann auf, dessen Arm auf dem Rücken der Frau ruhte.

„Sei gegrüßt, Sarah. Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen.“

Daniel betonte das Wort ‚Wiedersehen‘ besonders und Sarah erinnerte sich an Samstag. Spielte er vielleicht darauf an? Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wusste er genau, was er tat.

Mit fraglichem Blick fixierte Daniel ihr Gesicht, um Antworten auf seine SMS zu finden. Seine Augen wanderten von ihrem Gesicht hinab zu ihrem Fuß.

„Wie geht es deinem Fuß?“

Seinem besorgtem Blick folgend wurde es ihr heiß und kalt zugleich und ihre Wangen wechselten die Farbe, vom hell zum dunkelrot. In ihrem Bauch drohte ein Feuerwerk zu explodieren. Wie sollte sie es schaffen, sich von diesem gut aussehenden Mann fernzuhalten, wenn er ihr immer wieder begegnete? Das war doch kein Zufall, dass er hier so plötzlich im Laden stand und sie verwirrte. Stalkte er sie vielleicht?

„Hallo Daniel. Danke der Nachfrage. Meinem Fuß geht es gut.“

Mehr brachte sie nicht über die Lippen, und vergaß völlig dabei, dass sie ihn anstierte.

„Ihr zwei kennt euch näher?“, erstaunt schaute Frau Leitner zu ihrem Enkel hoch. „Deshalb wolltest du mich unbedingt hierher begleiten. Ich konnte ihn nicht davon abhalten“, gab sie nun wissend preis, als sie die beiden abwechselnd betrachtete. Von ihrer Offenheit überrumpelt erklärte Daniel kurz mit sanfter Stimme: „Großmutter, das ist die junge Dame, mit der ich am Samstag einen kleinen Zusammenprall auf dem Berg hatte. Du erinnerst dich, dass Richard und ich dir davon erzählt haben?“

„Aber natürlich, mein Junge. Ich bin ja nicht senil. Ich ahnte jedoch nicht, dass es sich hier um die hübsche Frau Jensen handelte.“ Vorwurfsvoll sah sie von ihrem Enkel auf Sarah.

„Geht es Ihnen wirklich gut?“, wollte sie wissen und schaute rührig auf Sarahs Fuß.

Verlegen blickte nun auch Sarah hinab zu ihrem linken Fuß.

„Ja, ist halb so schlimm. Ein wenig schmerzt er noch beim Laufen. Wenn keine Kundschaft hier ist, lege ich den Fuß ein bisschen hoch und dann geht es schon wieder.“ Wie zur Bestätigung ließ sie ihren Fuß vorsichtig kreisen.

„Aber Sie sind hier alleine im Laden und das den ganzen Tag, von Montag bis Samstag.“

Frau Leitner blickte ihren Enkel missbilligend an. „Du hättest mir doch gleich sagen können, dass es Frau Jensen ist, die ein wenig Unterstützung benötigt!“ Mit milderem Ton wandte sie sich zu Sarah. „Es war nämlich sein Vorschlag, Ihnen ein wenig unter die Arme zu greifen, vielleicht, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Aber er ist nun mal sehr fürsorglich und deshalb bat er mich, gemeinsam mit ihm nach dem Rechten zu schauen. Also ich von meiner Seite aus würde Sie gerne ein bisschen unterstützen.“

Sarah machte große Augen und winkte mit den Händen ab. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich komme alleine klar.“

Mit skeptischer Miene mischte Daniel sich ein. „Keine Widerrede! Lass dir wenigstens ein paar Tage helfen. Das Weihnachtsgeschäft fordert sicherlich deine ganze Kraft. Und außerdem bin ich dir das irgendwie noch schuldig. Zudem würdest du meiner Großmutter eine Freude machen. Sie liebt nämlich diesen Buchladen. Bitte sag ja!“

Sarah war hin und her gerissen. Einerseits war sie dankbar, dass sie so die Möglichkeit bekäme, ihren Fuß zu schonen und gleichzeitig der älteren Damen eine Freude zu bereiten. Andererseits bedeutete das wiederum, mit Daniel in Kontakt zu bleiben.

„Ein wenig Unterstützung in dieser Zeit wäre nicht schlecht. Aber du bist mir nichts schuldig, Daniel. Du brauchst dich nicht verantwortlich fühlen. Ich sagte bereits, dass hätte jedem passieren können“, widersprach sie ihm.

Zwischen seinen Augen bildete sich eine Furche. „Ich bin aber nicht jeder! Bitte Sarah, nimm unser Angebot an! Es würde mein Gewissen enorm beruhigen.“

Daniel neigte den Kopf, offensichtlich hatte er immer noch Schuldgefühle. Und noch etwas lag in seinen Augen, das sie nicht eindeutig definieren konnte.

Frau Leitner unterbrach ihre abschweifenden Gedanken. „Na, dann“, ohne Sarahs Reaktion abzuwarten, „wollen wir beide den Laden mal schmeißen.“ Mit einer Selbstverständlichkeit ging Frau Leitner lächelnd in den hinteren Teil des Buchladens und entledigte sich ihres Mantels. Sie kannte sich ja bestens aus, stellte Sarah schmunzelnd fest. Schon jetzt gefiel ihr diese Frau.

Allein mit Daniel im Raum stehend spürte Sarah erneut die Anziehungskraft zwischen ihnen. Daniel legte behutsam seine Hand auf ihren Arm und forderte sie somit auf, ihn anzuschauen.

„Du hast gestern nicht auf meine Nachrichten reagiert und ich habe mir Sorgen gemacht wegen Samstagabend. Ich wollte dir nicht zu nahe treten, aber ich konnte meine Hände nicht von dir lassen.“

Seine Stimme wurde leiser, als er fortfuhr. „Nach dem Anruf warst du plötzlich in dich gekehrt. War es wegen Mark?“

Sarah ging nicht auf seine Anspielung ein.

„Woher hast du meine Telefonnummer?“ Fragend schaute sie in die blaugrauen Augen, in denen sie sich sofort verlor und nicht losreißen konnte. Die Verbindung zwischen ihnen war zu stark, um sie zu ignorieren.

„Richard und Tom kennen sich ziemlich gut.“ Mehr sagte er nicht und Sarah verstand.

Schweigend standen sie sich gegenüber, doch das Knistern wurde immer greifbarer.

„Ich kann nicht“, flüsterte sie und wollte sich wegdrehen, doch Daniel hielt sie weiter am Arm fest. Er fuhr sich mit der anderen Hand durch die Haare und rieb über seinen Bart. Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Er wusste nicht, wie er sie dazu bewegen konnte, mit ihm zu reden. Sarah hielt ihr Innerstes vor ihm verschlossen und baute einen Schutzwall um sich herum, den er zu durchzubrechen versuchte.

Aufgewühlt von ihren widersprüchlichen Gefühlen löste sie ihren Arm und folgte schweigend Frau Leitner.

Die ältere Dame verfolgte inzwischen aus den Augenwinkeln, dass die beiden mehr verband, als nur der Zusammenprall am Berghang. Um die gespannte Atmosphäre aufzulockern, wandte sie sich, beide Hände in die Hüften stemmend, an ihren Enkel.

„Vielen Dank, Daniel, dass du mich hergebracht hast. Aber ich denke, dass Sarah, so darf ich Sie doch nennen, und ich jetzt ohne dich klar kommen.“

Dankbar für die Ablenkung strich Sarah eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und stimmte Frau Leitner freundlich zu. „Natürlich, nennen Sie mich ruhig Sarah.“

Die Chance nutzend, Daniel aus ihrem Laden zu bekommen, um die Distanz zu wahren, drehte sie sich kurz zu ihm. „Auf Wiedersehen, Daniel.“

Herzklopfend wandte sie sich geschäftig um und ging zur Küchennische, um nicht nur räumlichen Abstand von Daniel zu bekommen, sondern auch einen Tee für die ältere Dame zu kochen. Dabei erhaschte sie noch einmal einen Blick auf ihn und bemerkte, wie er sie intensiv beobachtete. Er musterte sie vom Kopf bis hin zu ihren Brüsten und blieb letztlich an ihren sinnlichen Lippen hängen.

Als Sarahs Puls bis in ihren Ohren hämmerte, die Knie butterweich wurden und dabei drohten, nachzugeben, musste sie sich schnell auf andere Gedanken bringen. Sie lief Gefahr, sich von ihren Gefühlen für diesen Mann übermannen zu lassen. Dann würde es keinen Halt mehr geben.

Seit zwei Jahren lebte sie zurückgezogen wie eine Nonne, als hätte sie ein Keuschheitsgelübde abgelegt, das jetzt durch diesen Mann, der ihre geordnete Gefühlswelt durcheinander wirbelte, gebrochen werden sollte.

Sarah holte tief Luft, als Daniel sich von seiner Großmutter verabschiedete und zur Ladentür schritt. Unbeobachtet warf sie noch einmal einen letzten Blick auf seine eindrucksvolle Statur, wie er mit kraftvollen Schritten durch die Tür nach draußen in die Kälte verschwand.

„Ach Sarah, Richard und Daniel haben mir von dem Missgeschick erzählt. Ich bin froh, dass Ihnen nicht Schlimmeres widerfahren ist. Aber wenn ich ehrlich sein soll, bin ich dem Schicksal dankbar, dass es diesen kleinen Zusammenprall gab. Dadurch bietet sich mir die Möglichkeit, Sie einmal näher kennenzulernen und zur Abwechslung mal eine richtige Aufgabe zu haben. Wissen Sie, in meinem Alter fühlt man sich manchmal auf das Abstellgleis verfrachtet. Niemand braucht einen mehr, von allen Seiten wird man mit Samthandschuhen angefasst. Dabei bin ich gar nicht so zerbrechlich wie alle immer denken. Meine beiden Enkel sind erwachsen und gehen ihre eigenen Wege. Aber ich möchte nicht undankbar sein. Ich freue mich, dass Richard und Daniel aus Frankfurt zurückgekommen sind und von hier aus ihren Job nachgehen. Sie haben unser Haus so umgestaltet, dass ich auch darin wohnen bleiben kann. Sie würden mich nie in ein Heim abschieben.“

Den Blick in die Ferne streifend dachte Sarah kurz über Frau Leitners Worte nach. Obwohl ihr anfangs nicht wohl bei dem Gedanken war, ausgerechnet Daniels Großmutter in ihrer Nähe zu haben, schien sie jetzt froh darüber. Sie mochte die Frau auf Anhieb und sie würden sich sicher gut verstehen. Es freute Sarah, dass sie ein bisschen Gesellschaft hatte, und ein wenig Unterstützung konnte in der bevorstehenden Hochsaison nicht schaden. Sie würde die ältere Dame nicht überfordern, aber auch nicht so tun, als würde ihre Hilfe nicht gebraucht.

Frau Leitner gesellte sich zu ihr in die Küchennische und sah Sarah dabei zu, wie sie den herrlich duftenden Tee zubereitete und ihn auf das Tablett stellte. Ohne Umschweife griff die Ältere nach dem Tablett, ging damit zu dem kleinen Tisch und stellte es dort ab. Sarah folgte ihr und ließ sich in den Korbsessel nieder. Frau Leitner tat es ihr gleich und sah zu, wie Sarah ihr den Tee über den runden Tisch reichte. Frau Leitners Blick schweifte im Laden herum und alte Erinnerungen machten sich unweigerlich in ihr breit.

„Ach wissen Sie, Sarah, ich habe Ihre Großmutter sehr gemocht. Oft saßen wir beide hier zusammen, genau wie Sie und ich jetzt, und haben genüsslich einen Tee miteinander getrunken. Sie fehlt mir sehr.“ Wehmütig schaute Frau Leitner auf ihre Tasse und rührte nachdenklich ihren Tee um.

Auch Sarah kamen Erinnerungen an ihre verstorbene Großmutter und stimmten sie traurig, denn auch ihr fehlte Marianne sehr. Um aber nicht weiter in Melancholie abzudriften, versuchte sie, Frau Leitner und sich auf andere Gedanken zu bringen. Ihre Großmutter hätte nie geduldet, dass die beiden hier Trübsal bliesen.

„Jetzt bin ich ja da und wir beide werden unsere gemeinsame Zeit sicher auch genießen. Also dann, auf gute Zusammenarbeit“, prostete sie der älteren Dame mit der Teetasse zu. Diese erwiderte mit einem dankbaren Lächeln diese vertrauensvolle Geste und beide tranken ihren Tee.

„So, dann wollen wir mal. Pause vorbei.“

Sarah schwang sich aus ihrem Sessel und forderte Frau Leitner auf, ihr zu folgen. Sie nahm die beiden Teetassen und stellte sie auf die Küchenzeile, um anschließend Frau Leitner durch ihren kleinen Laden zu führen.

Die Regale waren nach Themen und alphabetisch nach Autoren angeordnet. Man fand sich schnell mit dem übersichtlichen System zurecht, so dass Frau Leitner keine Probleme haben würde, den Kunden die gesuchten Exemplare zu zeigen. Hin und wieder stellte sie ein paar Fragen und Sarah beantwortete alle, völlig in ihrem Element aufblühend. Die ältere Frau erwies sich als gute Zuhörerin und Schülerin. Zwischendurch bediente Sarah ein paar Kundinnen und verkaufte in kürzester Zeit sechs Bücher. Während die Käufer ihre Ware bezahlten, erklärte Sarah gleichzeitig, wie die elektronische Kasse funktionierte. Frau Leitner nickte immer wieder und wenn sie etwas nicht verstand, fragte sie einfach nach und Sarah erklärte es so, dass es für sie verständlich war. Als sie am Computer standen, wo Sarah ihre Bestellungen auf Vollständigkeit überprüfte, schüttelte Frau Leitner nur den Kopf.

„Nein, meine Liebe, davon halte ich nichts. Das ist ein Gerät für die Jugend, ich brauche so etwas nicht. Sollte ein Kunde einen Wunsch äußern, nutze ich wie in alten Zeiten einen gewöhnlichen Notizblock und Bleistift. Ich hoffe, es gibt hier so etwas noch?“ Belustigt sah sie Sarah an, die bereits aus der Schublade des Kassentisches beides hervorholte.

„Kein Problem, auch dafür ist gesorgt.“ Beide Utensilien neben die Kasse legend zog Sarah Daniels Großmutter wieder zu dem kleinen Tisch. Den Frauen war entgangen, wie schnell die Zeit davon flog.

„Wir trinken jetzt noch gemütlich einen Tee und dann dürfen Sie Feierabend machen. Den Rest schaffe ich schon alleine. Wie kommen Sie denn nach Hause?“

Während Frau Leitner es sich in einem der Korbsessel bequem machte und das Kissen in ihrem Rücken zurecht rückte, setzte Sarah erneut den Kessel auf und holte aus der großen Dose für jeden einen Teebeutel, die sie in die Tassen hing. Dabei beobachtete sie die Frau amüsiert, wie sie sich entspannt im Korbsessel zurücklehnte und Sarahs Handgriffen folgte. Sarah hoffte, dass es der älteren Frau nicht zu anstrengend war, denn sie schätzte sie auf Ende siebzig, obwohl man ihr das nicht ansah.

„Ich werde von meinem Enkel in etwa zwanzig Minuten abgeholt. Wann möchten Sie, dass ich morgen wiederkomme?“ Frau Leitner hob den Kopf und schaute Sarah erwartungsvoll an.

Verlegen, als Frau Leitner erwähnte, dass ihr Enkel sie abholen würde, drehte Sarah den Kopf zur Seite, damit man nicht sah, wie sie wieder einmal errötete.

„Sie müssen nicht jeden Tag kommen. Sie haben doch bestimmt auch andere Termine.“

„Das überlassen Sie mal mir. Wenn es meine Zeit zulässt, komme ich gerne. Es sei denn, Sie wünschen es absolut nicht. Früher hielt ich mich regelmäßig hier im Buchladen auf, besonders zu dieser Jahreszeit, einfach nur, um mit ihrer Großmutter ein Schwätzchen zu halten. Hin und wieder gab es auch mal ein Sektchen.“ Sie kicherte in sich hinein. „Es hat mir schon immer sehr gefallen. Ich liebe diese heimelige Atmosphäre, diese Gemütlichkeit und den Geruch von Büchern um mich herum. Und ich mochte Marianne. Sie war beinahe wie eine Freundin.“ Sie seufzte. „Also, was schlagen Sie vor, Sarah?“

„Okay. Kommen Sie doch einfach nachmittags, sagen wir vierzehn Uhr? Da könnte ich sicher ihre Hilfe gebrauchen. Ich freue mich wirklich, Frau Leitner.“

Sarah schaute mit einem herzlichen Lächeln in das Gesicht der Frau, denn sie meinte es so, wie sie es sagte, und ließ keinen Zweifel an ihren Worten aufkommen. Schnell hatte sie die ältere Frau ins Herz geschlossen und erinnerte sich augenblicklich an die Stunden mit ihrer Großmutter hier im Geschäft, die ihr so sehr fehlte.

Sarah nahm ihre Teetasse. Dabei blickte sie gedankenverloren ins Weite und sah das vertraute Bild ihrer Großmutter.

Frau Leitner beobachtete Sarah genau, während sie ebenfalls ihren Tee genoss. Die junge Frau ihr gegenüber war ihr ebenfalls sympathisch, sie strahlte eine Wärme und Liebe aus, wie man sie nicht mehr alle Tage mit den jungen modernen Leuten in der heutigen Zeit erlebte. Zudem war sie noch sehr hübsch und hatte eine ausgesprochen schöne Figur. Nicht wie die anderen jungen Mädels, die sich noch zu Tode hungerten, nur um irgendwelchen Schönheitsidealen zu entsprechen. Sie dachte an die Blicke, mit denen ihr Enkel diese Frau angesehen und auch wie Sarah auf ihn reagiert hatte. Ihr war nicht entgangen, dass beide sich zueinander hingezogen fühlten, aber ihnen selbst noch nicht klar war, wie sehr.

Ein kalter Luftzug weckte die Frauen aus ihren Gedanken und beide sahen gleichzeitig zur Tür, in Erwartung von Kundschaft.

Ein Lächeln erschien auf Frau Leitners Gesicht, als sie erkannte, wer der Besucher war. Augenblicklich stellte sie ihre Teetasse auf den runden Tisch und stand aus ihrem Sessel auf. Sie rückte ihren Rock zurecht und ging freudestrahlend auf ihren Enkel zu.

„Richard, dich habe ich hier nicht erwartet. Wo ist Daniel?“, fragte sie mit leicht besorgter Miene. Doch als Richards Lächeln sie umfing, wusste sie sofort, dass alles gut war.

„Daniel und Melanie mussten nach München in die Hauptfiliale. Es gibt wohl Probleme, und er bat mich, dich hier abzuholen. Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Nachmittag?“

Er schlang die Arme um seine Großmutter und drückte sie herzlich an seine Brust. Er war mindestens zwei Köpfe größer und die Frau in seinen Armen wirkte noch zierlicher. Richard gab seiner Großmutter einen Kuss auf die linke und dann einen auf die rechte Wange.

„Ich hatte einen wunderbaren Nachmittag mit dieser hübschen jungen Dame und darf ihr morgen wieder Gesellschaft leisten und sie tatkräftig unterstützen.“ Sie drehte sich zu Sarah um und zwinkerte ihr zu.

Sarah erwiderte das freundliche Lächeln und trat an die beiden heran. Richard löste sich von seiner Großmutter und reichte Sarah die Hand.

„Hey. Daniel erzählte mir, dass es deinem Fuß besser geht, aber er lieber unsere Großmutter in deiner Nähe sieht, damit du Unterstützung hast.“

Ohne sich von Sarahs Händedruck zu lösen, sah er schmunzelnd zwischen beiden Frauen hin und her und ihm entging nicht, dass sie bestens miteinander auskamen.

„Daniel lässt dich schön grüßen und ausrichten, dass er es sehr bedauert, nicht hier sein zu können. Aber spätestens am Samstag zu unserer Einweihungsfeier wird er dich ja wieder sehen. Er setzt alles daran, pünktlich zu Hause zu sein.“

Sarahs Gesicht wurde knallrot, denn Richard tat gerade so, als wären sie bereits mehr als vertraut. Scheu entzog sie ihm ihre Hand.

„Hallo Richard. Deine Großmutter und ich haben uns prächtig verstanden. Ich kann es kaum erwarten, sie morgen wieder hier bei mir zu haben.“ Aufrichtig sah sie zu der älteren Dame.

„Sie kommen am Samstag auch zu dieser Feier? Davon hat mir noch niemand erzählt. Das ist ja wunderbar“, freute sich Frau Leitner und klatschte in die Hände.

Sarah wollte schon einwenden, dass es noch gar nicht sicher war, aber man ließ sie nicht zu Wort kommen. Versonnen beobachtete sie Großmutter und Enkel, wie herzlich sie miteinander umgingen. Traurigkeit überfiel sie, da sie erneut an Marianne dachte. Auch sie hatten ein wunderbares Verhältnis gehabt. Daniel und Richard konnten sich glücklich schätzen, ihre Großmutter noch zu haben. Es war ein Geschenk, das sie mit Sicherheit zu würdigen wussten.

Sarah ging zur Garderobe und holte den warmen Mantel für Frau Leitner. Richard folgte ihr unaufgefordert. Er nahm ihn ihr sofort aus der Hand, um ihn seiner Großmutter überzuziehen, während er in kurzen Sätzen von seinem Arbeitstag in der Bank berichtete. Schließlich wandte er sich zum Gehen bereit an Sarah.

„Ich wünsche dir noch einen schönen Nachmittag. Bis morgen.“

Ohne ihr die Hand zu reichen, zog er Sarah in die Arme und drückte sie freundschaftlich an seine Brust. Sie spürte sein Herz schlagen und genoss diese angenehme Umarmung. Mit dieser herzlichen Geste fühlte sie sich in dieser Familienrunde geborgen, als würde sie zu ihnen gehören, und hätte Richard am liebsten nicht losgelassen.

Richard löste sich sanft von ihr und schaute sie mit leicht gekräuselter Stirn an. „Alles okay mit dir?“

„Ja, ja, alles bestens“, gab sie knapp zurück und unterdrückte den Kloß in ihrem Hals. „Dann sehen wir uns also morgen“, wandte Sarah sich an Frau Leitner.

„Bis morgen, meine Liebe.“ Frau Leitner reichte ihr die Hand und verabschiedete sich nun ebenfalls.

Sarah sah den beiden nach, wie sie den Buchladen verließen und kehrte zurück an den kleinen Tisch. Langsam sank sie in ihren Korbsessel. Was war denn auf einmal mit ihr los? Traurigkeit befiel sie und ein Hauch von Enttäuschung, weil statt Daniel Richard hier im Laden aufgetaucht war. Und was hatte Richard gemeint? Daniel bedauere es, sie heute nicht mehr gesehen zu haben! Ihre Gefühle hatten sie nicht getäuscht, er war an ihr interessiert. So ähnlich drückte er es auch in einer seiner SMS aus. War ihm eigentlich klar, wie sehr er ihr Herz mit sich riss?

Doch gab es für sie keine Chance, solange er mit Melanie Hansen liiert war. Anstatt seine Großmutter abzuholen, reiste er mit Melanie nach München. Zwar dienstlich, aber Sarah wollte sich nicht ausmalen, was die beiden nach Dienstschluss noch in München so trieben. Ob sie sich auch ein Hotelzimmer teilten? Rasch verscheuchte sie die unangenehmen Bilder.

Anscheinend hatte Daniel keine Skrupel, auf zwei Hochzeiten zu tanzen. Jedoch gab es für Sarah keinen Kompromiss, sich mit vergebenen Männern einzulassen. Daniel hatte sich in ihr Herz geschlichen, aber sie würde nicht zulassen, dass er ihr wehtat. Er war vergeben und damit basta. Sie musste sich ihn und ihre Hirngespinste endgültig aus dem Kopf schlagen und aufhören, weiterhin in irgendwelchen Fantasien zu schwelgen. Deshalb benötigte sie dringend Abwechslung. Entschlossen raffte sie sich auf und holte vom Kassentresen ihr Handy, um sich für heute Abend mit Jessica zu verabreden. Ihre Freundin würde für die nötige Zerstreuung sorgen.

Ihr Blick glitt auf das Display und wieder war da eine Nachricht von ihm:

Musste geschäftlich nach München. Freue mich auf Samstag. Daniel

Was sollte das? Warum teilte er ihr mit, was er vorhatte? Er war ihr keinerlei Rechenschaft schuldig.

Sie verbannte die Nachricht in ein Hinterstübchen ihres kleinen Frauenhirns und wählte stattdessen Jessicas Nummer. Nach dem zweiten Läuten war sie bereits am Apparat. Beide vereinbarten, sich nach Ladenschluss beim Italiener um die Ecke zu treffen und Sarah freute sich auf einen lustigen und entspannten Abend mit ihrer Freundin.

Völlig abgekämpft und übermüdet krabbelte Sarah weit nach Mitternacht ins Bett, knipste die Nachttischlampe aus und wollte einfach nur noch schlafen, doch ihre Gedanken ließen es nicht zu. Immer wieder schwirrte ihr ein Name durch den Kopf: Daniel Hochkamp.

Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und versuchte vergebens, ihn aus ihrem Schädel zu verdrängen, deshalb rief sie sich den heutigen Abend mit Jessica ins Gedächtnis.

Pünktlich hatte sie den Laden schließen können und traf rechtzeitig beim Italiener ein. Jessica, vertieft in die Speisekarte, saß an einem der Tische am Fenster. Sarah erblickte sie sofort. Sie drückte dem Kellner, der sie an der Tür in Empfang nahm, ihren Mantel in den Arm und gab ihm ein Zeichen, dass sie bereits erwartet wurde. Leise schlich sie sich zu ihrer Freundin, die ihre Anwesenheit noch nicht bemerkt hatte, und legte von hinten ihre kalten Hände auf Jessicas Wangen. Diese schrak, mit großen Augen über die Schulter blickend, zusammen, während die Speisekarte in hohem Bogen durch die Luft flog und schließlich neben dem Tisch landete.

„Mann, hast du mich vielleicht erschreckt. Schleichst dich wie eine Raubkatze von hinten an. Ich hätte einen Herzanfall erleiden können“, wetterte sie drauflos und fasste sich ans Herz. Doch der Schock währte nicht lange. Schnell fing sie sich und begrüßte Sarah freudestrahlend.

„Schön, dass du da bist. Setz dich und lass uns gleich bestellen. Ich habe einen Mordshunger.“

Den Oberkörper nach vorne übergebeugt hob sie die Speisekarte auf, lehnte sich bequem auf ihrem Polsterstuhl zurück und wies Sarah auf dem Platz neben sich. „Rutsch ran, Tom und Mark kommen auch noch.“

Ups, enttäuscht, dass sie nicht alleine den Abend verbringen würden, nahm Sarah mit hängenden Schultern neben ihr Platz und griff mit einem Schmollmund nach der Speisekarte, die ihr der hübsche italienische Keller vom Eingang augenzwinkernd reichte. Sie erwiderte seinen anzüglichen Blick mit einem scheuen Lächeln.

„Möchten die Signorinas schon etwas zu trinken bestellen?“, fragte der Kellner und seine braunen Augen durchbohrten Sarah.

Jessica, die sah, wie der Kellner die Freundin anschmachtete, lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. „Wir nehmen eine Flasche Rotwein, trocken, und eine Flasche Wasser ohne Gas.“ Sie gab dem Ober mit einem ernsten Gesichtsausdruck zu verstehen, dass er gehen und die Getränke bringen sollte. Das Lächeln verschwand augenblicklich aus seinem Gesicht, nachdem er Jessicas Bestellung notiert hatte, und drehte sofort ab, um seinen Job zu machen.

„Ich dachte, wir machen mal einen Mädel Abend. Nicht, dass ich etwas gegen Tom und Mark hätte, aber das hatten wir schon lange nicht mehr, nur wir zwei. Manchmal gibt es Dinge, die nicht für Männerohren bestimmt sind.“

Missmutig starrte Sarah in ihre Karte und hoffte, dass Jessica nicht weiter auf ihren Einwand eingehen würde. Doch da hatte sie nicht mit ihrer Freundin gerechnet.

„Ach so? Das wusste ich nicht. Was möchtest du mir denn erzählen, was die Jungs nicht mitkriegen sollen? Gibt es da etwas, wovon ich noch nichts weiß?“ Jessica ließ von ihrer Karte ab und widmete sich voll und ganz ihrer Freundin. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah Sarah erwartungsvoll an.

Stöhnend verdrehte Sarah die Augen. Sie hätte es wissen müssen, Jessica konnte eine harte Nuss sein, die sofort spürte, dass was im Busch war, und drängelte meist so lange, bis ihre Neugier befriedigt wurde.

„Also bei mir gibt es nichts Weltbewegendes, ich mein‘ ja auch nur. Aber vielleicht hättest du mal eine heiße Story für mich auf Lager“, versuchte Sarah abzulenken und konzentrierte sich auf die Speisekarte, wobei sie immer noch auf der Seite mit den Getränken war und nicht wirklich las. Jessicas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

„Lenk nicht von dir ab! Raus mit der Sprache, Jensen. Du bist diejenige, die hier etwas verheimlicht.“

Sarah spürte den intensiven Blick und wusste, dass es kein Entrinnen gab.

„Nein, ich verheimliche dir nichts. Du weißt, wenn da was wäre, würde ich es dir als Erste erzählen. Du wärst wahrscheinlich auch die Einzige.“ Sie zuckte Gleichgültigkeit vortäuschend mit den Schultern und studierte weiterhin die Getränkekarte. Doch die Verlegenheit in ihrem Gesicht verriet sie und Jessica entging es nicht.

„Meine liebe Sarah. Tu nicht so, als wäre nichts und leg die blöde Karte endlich beiseite! Die Getränke sind bereits bestellt. Schau mich an“, forderte sie ihre Freundin schnaubend auf und griff entschlossen nach Sarahs Karte, um sie wegzulegen.

„Dir steht auf der Nasenspitze geschrieben, dass da etwas im Busch ist!“ Mit wissbegierigen Augen fixierte sie Sarah und dann fiel der Groschen.

„Ha, ich wusste es, Daniel Hochkamp! Sag, dass ich recht habe und lüg mich nicht an, sonst tut sich der Boden unter dir auf und du landest augenblicklich in der Hölle!“ Triumphierend klatschte sie in ihre Hände und sprang jubelnd vom Stuhl auf.

Feuerröte schoss nun vollends in Sarahs Gesicht. Die Leute an den Nachbartischen drehten die Köpfe zu ihnen. Auch das noch! Sarah brachte kein Wort über die Lippen. Ihre Freundin hatte nämlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Jessica durchschaute sie sehr schnell, weil sie sich einfach schon zu gut kannten.

Bevor Jessica mit ihrer Inquisition beginnen und sie mit Fragen durchlöchern konnte, trat der hübsche Kellner wieder an ihren Tisch und servierte die Getränke. Dabei ruhten seine Augen starr auf den Gläsern, die er zuerst mit dem Rotwein und dann mit dem Wasser füllte. Ein weiteres Mal würde er sich nicht von Jessica in die Schranken weisen lassen. Sarah bekam ein wenig Mitleid mit ihm. Anscheinend war er neu im Restaurant und kannte sich nicht mit den Gepflogenheiten und Launen der Stammkunden aus.

Jessica ignorierte ihn und konzentrierte sich voll auf Sarah. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingerspitzen auf dem Tisch. Sie hatte sich bereits ein Frageprotokoll in ihrem hübschen Kopf zurechtgelegt. Offenbar hatte sie völlig vergessen, wie sehr sie am Verhungern war.

Sarah merkte, wie Jessicas Augen sich wie kleine Nägel in ihre bohrten und auf eine Erklärung warteten. Wie sollte sie der Freundin etwas begreiflich machen, was sie zugegebenermaßen nicht einmal selber verstand? In ihren Handflächen bildete sich ein leichter Schweißfilm. Befangen blickte sie in das hübsche Gesicht der Freundin, die darauf brannte, das neuste Geheimnis zu erfahren.

„Es ist nicht so wie du denkst“, fing Sarah mit unsicherer Stimme an. „Ich kenne Daniel Hochkamp nur von unserem Zusammenstoß. Er hat mich in meine Wohnung gebracht und das war es auch schon.“

Doch jedes Mal, wenn sie seinen Namen aussprach oder nur an ihn dachte, schlug ihr Herz Purzelbäume, und sie war sofort verzückt von ihm. Aber das blieb ihr Geheimnis und würde es auch nicht ihrer allerbesten Freundin anvertrauen.

Sarah wusste, dass sich Jessica mit dieser kurzen Zusammenfassung nicht zufrieden gab. Sie straffte die Schultern, nahm ein Glas Rotwein und drückte es Jessica in die Hand, um ihre Gedanken zu ordnen und Zeit zu gewinnen. Sie erhob das Glas und stieß mit der Freundin an. Die Gläser klirrten, weil der Zusammenstoß heftiger war, als beabsichtigt.

„Prost! Mach nicht so ein Gesicht! Ich kann dir keine heiße Story auf dem Silbertablett servieren. Tut mir leid.“ Ihre Stimme sollte neutral klingen, scheiterte aber kläglich.

Wenig überzeugend von dieser banalen Erklärung trank Jessica einen großen Schluck und leckte nachdenklich über ihre vollen roten Lippen.

„Stopp! So kommst du mir nicht davon. Ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie ihr beide euch mit feurigen Blicken beworfen habt. Der Mann hat es auf dich abgesehen! Ich sage nur: prickelnd und heiß, was auch immer da zwischen euch beiden läuft. Das sieht sogar ein Blinder! Die Luft zwischen euch ist so geladen, dass sie beim kleinsten Funken explodieren und in Flammen aufgehen würde. Und jetzt sie dich doch an, Sarah! Dein Gesicht sprüht vor Feuer, wenn man nur seinen Namen erwähnt!“

Jessica hatte absolut den richtigen Riecher, was sie betraf. Aber was Daniel anging? Woher nahm sie die Gewissheit, dass Daniel es auf sie abgesehen hatte? Und wie stand sie dazu, dass er Sarah anbaggerte, obwohl er in festen Händen war? Kannte sie ihn als Schürzenjäger? Mit absoluter Sicherheit würde sie Jessica nicht danach fragen. Sarah widerstand dem Drang, von ihrem Gefühlschaos zu erzählen. Es war zu früh, auch wenn sie wusste, dass sie ihrer Freundin vertrauen konnte und sie immer zu ihr stehen würde. Sie sollte schleunigst das Thema wechseln.

„Jessica, bitte, hör auf! Du siehst Gespenster. Ich möchte nicht über Daniel reden, da gibt es nichts. Er hat mich nach Hause gebracht und sich tausend Mal entschuldigt wegen des Zusammenpralls. Mehr nicht.“ Mit fester Stimme gab sie zu verstehen, dass das Thema damit für sie beendet war.

„Ach, nur falls es dich interessiert, meinem Fuß geht es schon wesentlich besser. Danke der Nachfrage.“

Sie beugte sich über den Tisch und langte nach der Speisekarte.

„Sorry. Es freut mich zu hören, dass der Sturz keine weiteren Folgen hatte. Glück gehabt!“

Jessica stupste Sarah freundschaftlich in die Seite, studierte sehr genau das Verhalten ihrer Freundin und sah sie bekümmert an. Sie konnte in Sarahs Gesicht lesen wie in einem offenen Buch, sah die Unsicherheit und das Wirrwarr ihrer Gefühle. Ihr war sofort klar, dass Sarah sich nur schwer offenbarte, das wusste sie aus der Vergangenheit. Nur mit Fingerspitzengefühl würde sie erreichen, dass die Freundin sich ihr anvertraute.

Als Sarah vor zwei Jahren hierher nach Garmisch kam und sie sich schnell anfreundeten, hatte sie ein halbes Jahr gebraucht, um ihr zu erzählen, weshalb sie von Hamburg weggezogen war. Paul hatte sie damals sehr verletzt und diese Wunden waren nur langsam verheilt. Aber die Narben, die sie hinterlassen hatten, waren heute noch sichtbar. Das war auch der Grund, warum sich ihre Freundin bisher auf keinen Mann einließ. Sie leckte immer noch an den alten Wunden.

Mark umwarb Sarah seit einem Jahr, jeder konnte es sehen. Nur Sarah sah es nicht oder wollte es nicht. Er stieß bei ihr auf Granit und einzig Jessica wusste, warum. Mark war ein toller Typ, er könnte jede Frau haben, doch er hatte nur Augen für Sarah. Sie würden ein schönes Paar abgeben, doch er bedrängte sie nicht, sondern wartete geduldig darauf, dass sie den nächsten Schritt tat. Schließlich gehörten immerhin zwei dazu, eine Beziehung einzugehen.

Jessica ließ vorerst das Thema auf sich beruhen, seufzte und nippte an ihrem Glas.

„Okay, dann wollen wir mal schauen, was es leckeres zum Essen gibt. Hast du schon gewählt?“

Beide suchten ihre Speisen aus und bestellten Bruschetta, Bandnudeln mit Meeresfrüchten sowie Spaghetti mit Spinat und Schafskäse und eine extra Portion Knoblauch für Jessica.

Während das Essen auf sich warten ließ, erzählte Jessica über ihre Kids und den neusten Klatsch und Tratsch der Stadt, und Sarah, froh über diese Ablenkung, lauschte ihren Berichten. Zwischenzeitlich wurde das Essen serviert und die Frauen ließen es sich schmecken, ohne dabei ihre Unterhaltung zu unterbrechen.

Nach dem Essen bestellten sie nochmals eine Flasche Rotwein und lachten über Jessicas Schilderungen und Geschichten zum neusten Klatsch.

Als Mark und Tom zu später Stunde auftauchten, waren beide schon längst beschwipst und forderten die Freunde kichernd auf, sich an den Tisch zu setzen, um weitere Geschichten auszutauschen.

Es wurde wie erwartet ein lustiger Abend, doch als Sarah zur Uhr schaute, erschrak sie, weil es schon nach Mitternacht und morgen, eigentlich heute, ein ganz normaler Arbeitstag für alle war. Sie gab den Freunden zu verstehen, dass es Zeit für den Aufbruch war, und so tranken sie ihre Getränke aus und bezahlten ihre Rechnungen.

Tom, der auf Alkohol verzichtet hatte, spazierte zu seinem Wagen, einem kleinen roten Mini, und forderte die drei zum Einsteigen auf, um sie sicher zuhause abzuliefern. Jessica nahm dankend und mit übermüdeten Augen das Angebot an und ließ sich förmlich auf den Beifahrerplatz plumpsen.

„Danke für das Angebot, aber ich laufe nach Hause. Sind doch nur fünf Minuten und ich glaube, die frische Luft tut mir im Moment wirklich gut“, winkte Sarah ab.

Bevor Tom sein Veto einlegen konnte, schritt Mark auf Sarah zu und legte ihr den Arm um die Schulter.

„Gute Idee. Ich bring dich nach Hause. Kein Problem, mir wird die frische Luft auch gut tun. Brauche morgen eh einen klaren Kopf.“

Mark zog Sarah noch näher zu sich heran, weil er spürte, dass der Alkohol ihr ziemlich zugesetzt hatte und sie leicht wankte.

„Alles klar, ihr beiden. Bis demnächst“, verabschiedete sich Tom, streckte den rechten Daumen nach oben und stieg zu Jessica ins Auto. Sarah und Mark schauten dem Auto nach, das sich langsam auf der verschneiten Straße entfernte.

Mark, der immer noch den Arm fest um Sarahs Schulter hielt, schob mit der freien Hand seinen Mantelkragen hoch und schlug den Weg zu Sarahs Haus ein. Dankbar stützte Sarah ihren Kopf an seine Schulter, vergrub ihre Hände tief in die Manteltaschen und passte sich seinem Schritt an. Keiner von beiden sprach ein Wort und gemächlich schritten sie durch die stille, weiße Nacht. Ringsherum schlief die Stadt. Bis auf einzelne, beleuchtete Fenster und das Licht der Straßenlampen, war es dunkel. Der Mond und kleine funkelnde Sterne waren am Himmel zu sehen. Sarah blickte hinauf zu den Sternen und versuchte, Sternenbilder zu erkennen, wenigstens den großen Wagen. Doch die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie hatte eindeutig zu viel getrunken, aber im Moment war das unwichtig. Der Abend war wunderbar und sie hatten sehr viel gelacht. Keinen einzigen Moment dachte sie an Daniel. Sie spürte eine innere Ruhe und genoss das Gefühl der Zufriedenheit.

Als sie schließlich an der Eingangstür zu ihrem Haus ankamen, nahm Mark seinen Arm von ihrer Schulter und stellte sich so dicht vor Sarah, dass kein Blatt mehr dazwischen gepasst hätte. Er schaute in ihr attraktives Gesicht und beugte sich zögernd zu ihr hinunter. Sarah hob den Kopf, um ihn ansehen zu können, spürte seinen verlangenden Blick und sah seinen schönen Mund auf ihren zukommen. Still stand sie vor Mark und schloss die Augen, um ihn gewähren zu lassen.

Erst berührten sich ihre Lippen ganz zart und Mark schloss langsam seine warmen Hände um ihr Gesicht und zog sie noch näher heran. Dann wurde sein Kuss fordernder, er schob seine Zunge zärtlich zwischen ihre Lippen und erkundete ihren Mund mit einer Sinnlichkeit, die Sarah so nie erwartet hätte. Es war ein angenehmes Gefühl, auf diese Weise von ihm geküsst zu werden. Sie spürte seine Leidenschaft, und seine Hände wanderten von ihrem Gesicht über ihre Schultern, hinunter zu ihrem Hinterteil. Er presste sie weiter an sich und Sarah spürte seine Erregung durch die dicken Mäntel. Er reagierte genau wie Daniel auf ihren Liebkosungen.

In diesem Augenblick schossen ihr Bilder von Daniel durch den Kopf, wie er sie verlangend geküsst und sie ihn auf intime Weise berührt hatte. ‚Oh Mann, was tue ich hier?‘

Mark war so vertieft, dass er nicht bemerkte, wie Sarah sich versteifte. Sie öffnete ihre Lider, nahm ihre Hände aus den Taschen und drückte sie behutsam gegen seine Brust, dass er langsam von ihr abließ und ihr tief in die Augen schauen konnte. Sarah sah das Feuer darin lodern. „Mark“, hauchte sie zu ihm auf, doch mehr brachte sie nicht über die Lippen. Ein leichtes Zittern durchfuhr ihren Körper.

„Sarah, ich begehre dich seit dem Tag, als ich dich das erste Mal traf. Ich habe mich in dich verliebt.“

Da waren die Worte ausgesprochen, vor denen sich Sarah schon seit langem fürchtete. Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippe. Mark war sympathisch und dieser Kuss zeigte ihr seine tiefen Gefühle, die er für sie empfand. Deshalb wollte sie ihm nicht vor den Kopf stoßen.

„Mark, ich weiß, aber ich kann nicht. Bitte bedränge mich nicht.“

Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten. In ihr herrschte ein wildes Durcheinander wie in einem Vulkan, in dem das Magma brodelte und kurz davor war, emporzustoßen und auszubrechen. Sie mochte Mark sehr, konnte ihm aber nicht das geben, was er verdiente, obwohl sie wusste, dass er sie aufrichtig mochte und ihr alles geben würde, was sie brauchte. Allerdings spürte sie seit drei Tagen diese ungeahnten Gefühle, die Daniel in ihr hervorrief, von deren Existenz sie bisher nicht wusste, dass es sie gab, und Küsse, die intensiver und heißer waren, als diese hier. Daniel war es, der ihre Leidenschaft aus tiefer Verborgenheit ins Licht geführt hatte, sie mit sich in unbekannte Stratosphären zog.

Über ihre Wange lief eine Träne und Mark wischte sie behutsam weg. Auch er war hin und her gerissen, wollte aber Sarah nicht bedrängen, ihr einfach Zeit geben. Seine Geduld schien unendlich.

„Geh schlafen, Sarah. Gute Nacht und träume süß.“

Mit einem unsicheren Lächeln beugte er sich erneut über sie und hauchte ihr einen zarten Kuss auf ihre blauen, leicht bebenden Lippen. Abermals strich er ihr zärtlich mit dem Daumen über die Wange, an der eben noch die Träne hinunter gekullert war, und wartete darauf, dass sie im Haus verschwand.

Sarah zog ihren Schlüssel aus der Manteltasche und drehte ihm den Rücken zu, um die Haustür zu öffnen. Sie spürte seinen brennenden Blick auf ihrem Rücken und schloss mit zitternder Hand die Tür auf. Ohne sich noch einmal umzuschauen, betrat sie das Haus und ließ leise die Tür ins Schloss fallen. Ihre Gedanken kreisten in ihrem Kopf und ihr war elend zumute. Was war nur in sie gefahren? Sie spielte mit den Gefühlen anderer und hatte Angst, Mark wehzutun. Gleichzeitig wusste sie, dass auch sie verletzt werden würde, wenn sie ihren Empfindungen nachgab und sich auf Daniel einließ.

Sarah lehnte ihren Kopf an die Haustür und ließ endlich ihren Tränen freien Lauf. Sie musste sich schützen und sich deshalb dazu zwingen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, und durfte sich keinesfalls auf Daniel einlassen. Er würde sie verletzen und tief in ihrem Innern eine Mauer einreißen und dabei das zerstören, was sie seit ihrem Umzug so sicher verwahrt hatte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, als ihre Tränen allmählich versiegt waren, schob sie sich mit letzter Kraft von der Tür in Richtung Treppe zu ihrer kleinen Dachwohnung.

Wetteinsatz mit bittersüßem Beigeschmack

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