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Kapitel 1

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„Das ist es, André. Das und kein anderes.“

Corinna läuft noch einmal vom Haus über das große Grundstück hin zur Treppe, die über zehn Stufen den Hang hinunter an den eigenen Bootssteg und den See führt. Das ist einfach hinreißend. André ist nicht ganz so enthusiastisch wie Corinna. Er muss das Gesehene erst einmal verarbeiten, und das kann dauern. Corinna sieht immer gleich auf einen Blick, ob die Details stimmen oder nicht, ob das Haus, die Gegend, das Grundstück, ihren Erwartungen entsprechen. Sie haben über den Verkauf ihrer Motoryacht nachgedacht. Seitdem haben sie sich vier Sommerhäuser angesehen. Die aufwendigen und immer erforderlichen Wartungsarbeiten an der Yacht, vor allem im Frühjahr und vor dem Winter, waren ihnen mittlerweile zu anstrengend geworden. André wollte es sich eigentlich nicht eingestehen, aber Corinna merkte, dass er mit seinen sechzig Jahren nicht mehr so flott und behände wie früher die Treppe zur Flybridge hochstieg, um dann dort oben, sechs Meter über dem Boden, auf der Reling balancierend, das stabile Aluminiumgestänge für das Winterdach zusammenzuschrauben. Gemeinsam hatten sie nun schon fast zwanzig Jahre ihre Freizeit im Boot und auf dem Wasser verbracht. Und André hatte in seiner ersten Ehe auch schon gut zehn Jahre lang jedes Wochenende im Boot zugebracht. Wunderschöne Jahre hatten sie gehabt, in denen André Corinna die einmalige Natur Schwedens gezeigt hatte und Corinna sie wirklich kennen- und lieben gelernt hatte. So eine faszinierende, vor allem aber unberührte und stille Natur kannte sie nicht aus ihrer Heimat Deutschland. Ziemlich genau zwanzig Jahre war es jetzt her, dass sie den Schweden André beruflich auf einer Tagung kennengelernt hatte. Sie arbeiteten in derselben Firma. Corinna in einer der deutschen Niederlassungen, André in einer schwedischen. Und nach knapp einem Jahr des Hin- und Herfliegens, hatte Corinna dann in Deutschland alles aufgegeben. Zusammen mit ihrem Sohn Dennis war sie nach Schweden gezogen, um gemeinsam mit André ein neues Leben anzufangen. In den vergangenen Jahren hatten sie erst Andrés Boot gegen ein größeres und dann auch das zweite gegen ein noch größeres, sehr komfortables eingetauscht. Jede Minute in dieser großen Motoryacht, die man in Schweden bescheiden einfach Boot nennt, hatten sie draußen in den Ostseeschären genossen. Sie waren einfach verliebt, glücklich und unbeschwert da draußen. Sie suchten sich

immer eine der unzähligen Inseln aus, an denen sie anlegten und dann dort das Wochenende oder mehrere Urlaubstage verbrachten. Drehte der Wind, war es auch Zeit, den Standort zu wechseln, damit das Boot wieder still lag. Andere Freizeitsegler steuerten 'ihre' Insel nicht an, das gebot einfach die schwedische Höflichkeit, sondern man suchte sich eine andere, freie Anlegestelle. Im Sommer hatten sie immer eine Insel nur für sich allein. Mit dem Herbst und dem Ende der Bootsaison und schließlich dem Winter gehörte ihnen fast das ganze Inselmeer. Nur sehr wenige Boote begegneten ihnen, und die Inseln und Inselchen versuchten, sich unter einer weißen Schneehaube zu verstecken. Es war eine faszinierende Landschaft, mit den langgestreckten weichen, grauen Felsen, Zeugen der Eiszeit, und den bizarren Krüppelkiefern, die aufgrund ihrer Statur den eisigen Winden hier draußen standhalten konnten. Es war nicht ganz ungefährlich, hier völlig allein herumzuschippern. Es konnte Stunden dauern, bis hier Hilfe kam, wenn man denn überhaupt in der Lage war, welche herbeizurufen, denn die Zeit der Handys war anfangs noch nicht gekommen. Allerdings gab es ein VHF Radio an Bord, und die Bedienung dieses Gerätes war das erste, was André Corinna beibrachte. Aber wenn man frisch verliebt ist, fühlt man sich jung, stark und furchtlos. André und Corinna genossen einfach die gemeinsame Zeit, die Natur und das Wetter, egal ob Sonne, Regen oder Schnee, hautnah. Stunden brachten sie zu, bei Wind und Wetter in dem mitgeführten kleineren Beiboot mit Außenbordmotor, das gleichzeitig Leben retten konnte, falls auf dem großen Boot ein Brand ausbrechen sollte, zu fischen. André zeigte Corinna immer wieder neue, sichere Fischgründe. Und Corinna, die vorher in Deutschland nie gefischt oder geangelt hatte, entwickelte einen freudigen Ehrgeiz, der auch immer mit gutem Fang reichlich belohnt wurde. André saß dann abends immer mit seiner Pfeife und einem Glas Wein am Felsen, an dem das Boot verankert lag, und räucherte die zuvor ausgenommenen und gereinigten Fische. Ein ungeheuer faszinierendes, schönes und romantisches Erlebnis, das Corinna für immer in ihrem Herzen tragen würde. Diese völlig einsamen Abende unter sternenklarem Himmel, an denen das Wasser die Rufe der Wasservögel von weit her zu ihnen hinüber trug.

Doch jetzt ist es Zeit für eine Veränderung, auch wenn André sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden kann, nicht mehr hinauszufahren in sein geliebtes Inselmeer, dem Archipelago von Stockholm. Corinna weiß, er wird sich erst dann von der Yacht trennen wollen, wenn sie eine schöne Sommerstelle gefunden haben, die natürlich am Wasser liegen muss. Natürlich gibt es Häuser am Wasser, doch sie sind teuer, viel zu teuer für Corinna und André als Zweithaus. Aber irgendwo im Wald zu sitzen und auf eine Wiese zu gucken, das war einfach undenkbar für André. Er würde eingehen wie eine Primel ohne sein Wasser. Die Weite der Ostseeschären mit ihrem kristallklaren Brackwasser und der vielfältigen, sehr eigenen Fauna, das war seine Welt. Aber irgendwo muss er jetzt auch zu Kompromissen bereit sein. Ein Haus in den Schären ist einfach unbezahlbar. Ja, mit den bisher besichtigten Objekten bewegen sie sich schon so ziemlich am oberen Limit dessen, was sie bezahlen können. Und alle Objekte waren eine Enttäuschung gewesen. Irgendwo musste ja der Haken für den günstigen Preis sein. Entweder konnte man das Wasser nur weit entfernt und hinter dichten Bäumen erahnen oder die Häuser waren alt und muffig und sie hätten viel Geld und Arbeit investieren müssen, um einen akzeptablen Wohnstandard zu erhalten. Also kam für sie nur eine Alternative in Frage, ein Haus an einem Binnensee. Jetzt stehen sie auf dem Grundstück und schauen hinunter auf den See. „Ich möchte noch einmal alles in Ruhe anschauen. Und dann nach Hause fahren und es noch einmal durchdenken.“ Da ist er wieder, der vorsichtige Rückzieher. Corinna kennt das schon. André würde sich, erst einmal wieder daheim, dann doch nicht entschließen können, das Haus zu kaufen. „Natürlich müssen wir noch einmal alles kritisch anschauen, aber ich möchte auf jeden Fall unser Interesse beim Makler anmelden. Schau mal, wie viele Leute hier durch das Haus laufen und wie viele sich schon beim Makler eingeschrieben haben.“ Der Makler ist gerade wieder mit einem Paar in ernster Diskussion. Dieses Haus ist einfach perfekt. Riesiges Grundstück, zur einen Seite direkt an einem Wald, also keine Nachbarn. Zur anderen Seite, mit gutem Abstand zur Grundstücksgrenze, ein weiteres Sommerhaus und nach Angaben des Maklers, bewohnt von einem älteren Ehepaar, Ornithologen, also keine Krachmacher.

Corinna und André hatten den Wagen auf dem Waldweg am Eingang geparkt. Von dort sind es etwa hundert Meter bis zum Haus. Und hinter dem Haus liegt der See, direkt am Grundstück, unterhalb der Terrasse. Zu dem relativ neu gebauten Haus gehören auch noch ältere Gebäude, eine größere Werkstatt, eine Garage und ein kleines Gästehaus; perfekt, wenn die Kinder zu Besuch kommen und übernachten wollen. Auf der großen Wiese zwischen Gästehaus und Haupthaus kann man Federball spielen oder Boule oder Fußball. Und der große Rasen zwischen Terrasse und See ist einfach perfekt für ein herrliches Sonnenbad, mit Blick auf den See. Morgens steht die Sonne schon früh auf der Vorderseite des Hauses und ab mittags und den frühen Abend über scheint die Sonne auf der Rückseite des Hauses, da, wo man am liebsten mit einem guten Buch auf der Terrasse sitzt, die Vögel beobachtet und ihrem Gesang zuhört oder mit Freunden ein gutes Essen und eine Flasche Wein genießt. „Natürlich weiß ich, dass man dies hier nicht mit dem Stockholmer Archipelago vergleichen kann. Seewasser ist nun mal nicht so kristallklar und sauber wie unser Ostseewasser. Das werden wir ganz sicher vermissen.“ Corinna lässt sich auf der Bank nieder, die zum Bootssteg gehört. „Ja, das glaube ich ganz bestimmt“, meint André, „die unendliche Weite wird mir fehlen und die Sonne, die abends am Horizont über dem Wasser untergeht“. Corinna sucht nach Argumenten. Das, was André sagt, stimmt, und es gibt nur ein einziges Argument, - Geld. „Wenn du die Sonne über dem Ostseehorizont untergehen sehen willst, dann gibst du mir jetzt mal schnell sechs Millionen Kronen, die lege ich zu dem Kaufpreis für dieses Haus dazu und ich garantiere dir, dass der Makler schon morgen das richtige Haus für uns findet.“ André sagt nichts und schaut hinaus aufs Wasser. Einen guten halben Kilometer kann man hier über das Wasser sehen, mehr nicht, dann verläuft der See in einer Biegung. „Sechs Millionen weniger und du hast dieses Haus mit einem See, deinem eigenen Bootssteg und nur einer Stunde Autofahrt von daheim entfernt.“ André räuspert sich, sagt aber nichts. Schnelle Entscheidungen sind nicht sein Ding. Corinna muss da immer ein wenig nachhelfen. Aber meistens bestätigt André hinterher, dass es wieder eine gute und richtige Entscheidung war, die Corinna da vorbereitet hat.Corinna wartet, aber da kommt nichts. Sie

wird ein wenig ungeduldig und schließlich setzt sie ihm die Pistole auf die Brust. „Denk mal an all die anderen Häuser und deren Kaufpreis. Das hier ist so gut, dass ich es kaufen werde, auch wenn du es nicht willst. Dann kaufe ich es eben allein.“ Erstaunt dreht André den Kopf zu ihr und hakt dann nach weiterem Schweigen schließlich ein. „Naja, dann sprechen wir eben mit dem Makler und bekunden unser Interesse“.

Na, das war doch schon mal was. Gesagt, getan. Corinna schaut noch einmal über den See und atmet die Stille tief ein. Wunderschön. Motorboote sind hier nicht erwünscht, hat der Makler gesagt, deshalb ist es hier auch absolut still. Sie gehen wieder zurück zum Haus und schauen sich noch einmal um. Am anderen Ufer des Sees, hinter dem Schilf, beginnen gerade die Birken und anderen Laubbäume ihre zarten hellgrünen Blätter zu entfalten.

André sagt nichts, aber Corinna malt sich bereits aus „Und auf dem Bootssteg wirst du morgens immer deine erste Tasse Kaffee trinken. Ist doch gemütlich oder?“ André nickt und lächelt. „Ja, vielleicht.“

Viel Erfahrung hat Corinna nicht mit dem Kauf von Häusern in Deutschland, aber eins steht fest, hier in Schweden ist alles ganz anders. Hier steht nicht der Eigentümer und spricht mit den Interessenten und wählt sie aus. Im Gegenteil, es ist sogar unerwünscht, dass die Familie sich im Haus aufhält. Und der Makler richtet das Haus vor der Besichtigung eher spartanisch her, das heißt, alle persönlichen Details, wie die flauschige Sofadecke und die Kissen der Oma, die bunten Spitzendeckchen mit der Vase in der Mitte und den Plastikblumen, das verstaubte Radio und die handgestrickten Puppen auf dem Sideboard, so auch die verschiedenen Rahmen mit den Bildern der Kinder und Enkel, alles wird irgendwohin verstaut, so dass die Einrichtung einen neutralen, angenehmen Eindruck macht. Kleine Gläser mit brennenden Teelichtern werden aufgestellt. Vielleicht sogar eine moderne Vase mit frischen Blumen. Und hier befindet sich nur der Makler im Haus, der Rede und Antwort steht, und am Hauseingang stehen blaue Plastiküberschuhe, die man sich überzieht, damit man keinen Schmutz ins Haus trägt. Ansonsten bewegt man sich völlig frei im Haus. Ist man ernsthaft interessiert, bekommt man eine Broschüre mit detaillierter Beschreibung und schönen Farbfotos vom Anwesen. Man schreibt sich beim Makler in die Liste ein und bekommt den Internetcode, unter dem man das Objekt findet. Und dann geht es eigentlich erst richtig spannend los. Jetzt zählt nur noch das Geld! Der Preis, den man vorher gelesen hat, ist nur der Ausgangspreis. Schließlich beginnt die Uhr für die Ausschreibung zu ticken und einer der Interessenten legt im Internet sein erstes Gebot, das mindestens etwas über dem Ausgangspreis liegt. Dieses wird dann von einem noch mehr Interessierten überboten und so geht das munter weiter. Corinna sitzt abends gespannt und fiebernd am Bildschirm und verfolgt zusammen mit André die Gebote. Sie haben mittlerweile viel geredet und sich nun wirklich mit dem Gedanken angefreundet, dieses Haus besitzen zu wollen. Anfangs bieten acht Interessenten, man sieht nur deren Code, keine Namen. Langsam aber sicher geht der Kaufpreis nach oben. Dann fallen plötzlich zwei Interessenten weg, später nach und nach weitere vier. Jetzt gibt es nur noch einen Konkurrenten und Corinna und André im Netz. Es ist 23 Uhr und um 24 Uhr wird die Ausschreibung abgeschlossen. Corinna bietet jetzt nicht mehr weiter und läßt den Konkurrenten im Glauben, er sei jetzt der alleinige Interessent. Sein Gebot liegt wenig über ihrem. Dann schließlich um 23 Uhr 55 hebt Corinna den nervösen Zeigefinger und schreibt das nächste Gebot in die vorgesehene Zeile, drückt aber noch nicht die ENTER Taste. Vier Minuten später drückt sie ENTER und starrt gespannt auf den Bildschirm. Nichts passiert. Der andere Interessent hat den Kaufpreis nicht noch einmal überboten. Er konnte auch gar nicht, die Zeit war zu knapp. Corinna und André schauen sich an.

Das war knapp. Sollte ihnen dieser kleine Trick geglückt sein? Sie reden noch viel und können die Nacht kaum schlafen. Viel mehr hätten sie auch nicht mehr bieten können. Mittlerweile war der Preis für das Haus um fast sechzig Prozent gestiegen. Aber sie sind sich einig, das ist es wert. Am nächsten Morgen ruft der Makler an „Herzlichen Glückwunsch. Sie haben den Zuschlag bekommen“. André hat zwar früher schon mehrere Häuser in Schweden gekauft, aber da galt immer ein fester Preis, weil es Neubauten waren. Und auch Andrés und Corinnas erstes gemeinsames Haus außerhalb von Stockholm wurde zu einem festen Preis verkauft. Für beide ist also diese ganze Prozedur völlig neu und sehr aufregend. Aber jetzt ist es geschafft. Sie haben ein Landhaus. Der Vertrag mit dem Eigentümer wird unterzeichnet, die Bank stellt die finanziellen Mittel zur Verfügung und die Grundbucheintragungen werden vorgenommen.

Einen Monat später übergibt André schließlich seine geliebte Motoryacht einer Bootsfirma im Yachthafen zum Verkauf. Und glücklicherweise gilt auch hier ein ähnliches Prinzip, der Meistbietende bekommt den Zuschlag. Handelt es sich um ein wahres Qualitätsboot, wie in diesem Fall, kann man damit rechnen, dass der Verkaufserlös um einiges höher ist, verglichen mit dem Preis, den André und Corinna sieben Jahre vorher für die Yacht bezahlt haben. Und tatsächlich deckt die erzielte Verkaufssumme des Bootes den Kaufpreis für ihr neues Landhaus so gut wie ab. Ein gutes Gefühl. André und Corinna sind zufrieden und glücklich. „Das muss erst einmal gefeiert werden, komm“. André steht mit einer Flasche Sekt und Gläsern in der Küchentür und Corinna legt das Geschirrtuch zur Seite und folgt André ins Wohnzimmer. „Du hattest wieder mal Recht, es ist jetzt wirklich Zeit, an Land zu gehen.“ Corinna lächelt. Sie kennt ihren André nur zu gut.

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