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Kapitel 1Ein Verhältnis

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Er wunderte sich, denn bis jetzt hatte er geglaubt, dass eine erfahrene Frau wie sie sofort spüren würde, dass er nichts für sie empfand. Trotzdem ließ sie nicht ab davon, ihm ihre glitschige Zunge ins Ohr zu stecken, bevor sie mit ihrer rechten Hand wieder seinen Kopf zu sich heranzog und ihm gierig ihre Zunge zwischen die geschlossenen Zähne presste… Sie stöhnte und er empfand so etwas wie Mitleid und hätte am liebsten laut losgelacht, sich von ihr frei gemacht, gesagt, dass alles doch auch anders zu regeln war, aber wie? Ihm fiel nichts ein und er öffnete seinen Mund und ließ sie mit ihrer Zunge und ihrem süß schmeckenden Speichel in seinem Mund herumwerkeln…Es ließ sich nicht vermeiden. Zum Glück funktionierte sein Körper, und sie schienanspruchslos: Es schien ihr zu genügen, dass er sich unter sie legte, dann in die Seitenlage ging, hinter ihr, um sie nicht ansehen zu müssen, während er ihre Brüste gegeneinander presste…Dabei wollte er doch nur das Schlimmste verhindern… Er arbeitete tüchtig, lauschte auf den Atem der Frau, die die Frau seines Professors war und der er nun verpflichtet war, für immer verpflichtet…Ihr Fett, das bei jeder Bewegung hin- und her wogte, war sonst stark genug, ihn gegen die feindliche Umwelt zu schützen…Nur so lange er mit sich geschehen ließ, was sie von ihm erwartete, würde sie ihn gegen seine Feinde beschützen! Warum war es so weit mit ihm gekommen? Er saß in der Falle! Nun hockte sie auf ihm und er schloss die Augen, als könnte er seine Lust so besser genießen…Dann war es vorbei! „Du bist heute so schweigsam, mein Kustos, schnurrte sie. Ob sie zufrieden war, vermochte er nicht zu sagen, denn sie war bereits aufgestanden und lief hinüber ins Badezimmer… „Wirf den Schlüssel in den Briefkasten, aber schließ ab!“, ermahnte sie ihn. Ein dicker Schmatzer traf ihn zwischen Auge und Mund, dann war sie weg! Sicherlich war sie diesmal unzufrieden mit ihrem Zusammentreffen, denn sonst, wenn sie zufrieden war, nahm sie ihn mit in das italienische Restaurant, zwei Straßen weiter. Ihr war es sicherlich egal, ob sie dort aßen, aber für ihn waren die Mahlzeiten, die sie bezahlte, die besten der ganzen Woche. „Ich habe Hunger!“ Und er stand auf und ging hinüber ins Badezimmer… Mit einem großen weißen Badelaken um die Hüften schritt er durch die verwaiste Wohnung, die in allem seinen Ansprüchen entsprach: große, geräumige Zimmer, sparsam möbliert mit ausgesuchten Stücken. Moderne Schränke im Schlafzimmer, antike Möbel im Arbeitszimmer, super moderne im Wohnzimmer… „Wer sind die Bewohner dieser Wohnung?“ „Stell nicht so viele Fragen, kümmere dich lieber um mich!“, hatte sie ihm geantwortet. Er stand vor dem verschlossenen Bücherschrank im Arbeitszimmer. Durch das Glas der Frontseite sah man die Buchrücken der wertvollen Ausgaben … Als er vor einigen Wochen dringend Geld benötigte- Patrick und ein paar Freunde wollten für ein paar Tage nach Barcelona und Patrick hatte ihn aufgefordert, doch mitzukommen… -, hatte er den Schrank zum ersten Mal geöffnet und … Lieber hätte er Geld gefunden, doch dann hatte er sich entschlossen, drei Bände aus der oberen hinteren Reihe zu nehmen, sodass man ihr Fehlen nicht sogleich bemerken würde…Wieder öffnete er den Schrank und zog mehrere Bücher aus der vorderen Reihe. Er legte sie auf einen kleinen Beistelltisch, der neben dem Schrank stand… Dann griff er sich drei weitere Bände aus der hinteren Reihe… Er stellte die Bücher der vorderen Reihe zurück auf ihren Platz, dann verschloss er den Schrank. Mit den drei Bänden, die er sich entliehen hatte, ging er hinüber zum Schreibtisch, doch setzte er sich heute nicht auf den Arbeitsplatz, obwohl er den Blick von hier durch die Wohnung besonders mochte…Er musste sich anziehen, die Wohnung verlassen und die Bücher zu dem Händler bringen, der ihm auch die anderen, ohne viel Fragen zu stellen, abgekauft hatte…Danach würde er sich beim Türken einen Dönerteller leisten…Er schloss die Wohnungstür ab: Dr. Wennigsen/Ponte, stand auf dem Namensschild…Er hatte in Südamerika eine Gastprofessur, sie lebte irgendwo in Italien, soviel hatte er doch heraus bekommen. Er drückte den Fahrstuhlknopf, die Plastiktüte mit den Büchern unter dem Arm… Es dauerte ihm zu lange, bis der Fahrstuhl von unten die dritte Etage erreicht hatte. So sprang er leichtfüßig die Stufen hinab, ohne dass ihm jemand begegnete. Er hielt den Wohnungsschlüssel in der Hand und fand den vereinbarten, ihm längst bekannten Briefkasten - und steckte den Schlüssel in seine Jackentasche. Morgen, ja morgen, würde er wiederkommen, um die geliehenen Bücher zurückzubringen… Dann konnte er sich von Johanna verabschieden, dann war er frei… „Ade, akademischer Muff!“ Er grinste, als er das Haus verließ. Abends sah man ihn in der Spielbank: Er trug seinen dunklen Armani-Anzug, ein offenes Hemd. Dreitausend wechselte er. Mit den Jetons ging er zum Rouletttisch… Erst riskierte er nur kleine Einsätze: Rot, Schwarz, Schwarz, Rot, Vierer-Zahlenkombinationen… Dann war er mutiger geworden, hatte gewonnen, doch nicht genug, um alle Bücher zurückkaufen zu können… Er gewann wieder: Rauschhaft ließ er sich führen: Rausch und Risiko… Um Mitternacht war das Geld weg… Er wollte weiterspielen, unbedingt weiterspielen! Wie betäubt verließ er die Spielbank… In seinem Mantel fand er 20 Euro… Wenig später stand er in der Spielhalle mit den Automaten… Es dauerte nur 10 Minuten, dann waren auch sie weg…Am nächsten Vormittag schrieb er eine Bewerbung: „Wie es ein Student eben tut…“ Er saß an seinem Arbeitstisch und fühlte sich besser. Er hatte seine Bewerbung abgeschickt: Sie war gelungen. Die richtige Mischung aus Coolness und spontan klingendem Enthusiasmus… Er hatte sich den Job schön geschrieben, denn es ging nicht nur darum, die Stelle zu bekommen, sondern auch darum, zu zeigen, dass er in der Lage war, eine gute, eine exzellente Bewerbung zu verfassen. Er konnte, wenn er wollte, auch in dieser Welt bestehen! Doch die Befriedigung, die er empfand, verblasste bereits und er verschwendete keinen Gedanken an die wirklichen Aufgaben, die ihn erwarten würden. Es ging einzig um das Geld und die Aussicht, Geld zu verdienen. Der Job interessierte ihn nicht, außer, dass es ein Einstieg war, ein Einstieg auf unterster Ebene. So niedrig, dass er noch nicht einmal Johanna mit ihren Kontakten überall hin hatte bitten können, sich für ihn zu verwenden…Er kappte die Verbindung zum Internet, klappte das Notebook zu und verließ sein Zimmer. Er lief durch die Straßen, noch immer im Hochgefühl, als hätte er nun endgültig den Grundstein für eine verheißungsvolle Zukunft gelegt… Er erreichte das Viertel mit den mondänen Geschäften und teuren Restaurants, das ihn magisch anzog. Der offenbare Wohlstand, der ihn umgab, selbstverständliches Attribut der bürgerlichen, der großbürgerlichen Welt, wiegte ihn in der Gewissheit, eines Tages dazu zu gehören… Nachmittags stand er wieder vor dem Wohnhaus. Er schloss auf und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Nochmals musste er sich ein paar Bücher ausleihen, die er demnächst… Er bemühte sich, keine Spuren zu hinterlassen, musste aber über seine überflüssige Vorsicht lachen, denn Johanna war sein Schutz und sein Alibi… Er schloss die Wohnungstür auf, dabei drehte er sich um, als würden ihm unsichtbare Zuschauer bei seinem Tun zusehen… Doch es gab nichts zu schließen… Hatte er gestern vergessen die Tür abzuschließen? Es konnte sein, denn er hatte nur noch an den Verkauf der Bücher gedacht und wie viel sie wohl bringen würden. Vorsichtig öffnete er die Tür und hörte als erstes ihre Stimme: “Lass dir ruhig Zeit, wir haben den ganzen Nachmittag für uns…!“, sagte sie zu jemandem, den er aber nicht sehen konnte… Johanna turtelte, so wie er es kannte, wenn sie mit ihm zusammen war… Sollte er die Wohnung betreten? Er entschied sich anders und schloss die Eingangstür geräuschlos. Unten warf er den Schlüssel in den Briefkasten, wütend, dass sie ihn daran gehindert hatte die Bücher mitzunehmen, die er so dringend brauchte! Erleichtert, dass er nicht ihr einziger Liebhaber war…Wenig später ließ er sich am Bahnhof vom Gedränge des Berufsverkehrs forttragen, drängte selbst zum einfahrenden Zug… Er fühlte sich aufgehoben inmitten der Menschen, war jetzt einer von ihnen… Ja, er war einer von ihnen auf der Jagd nach einer gewöhnlichen Existenz! Schläfrigkeit, mit Schweiß durchmischte Rasierwasserdüfte. Angestrengte, ausdrucksleere Gesichter. Mitgefühl und Verachtung weckende Gestalten. Menschen am Ende ihres Arbeitstages. Dazwischen fröhliche, animiert lachende Touristen. Er sah und vergaß. „Geh zu den Blankensteins! Sie werden dir weiterhelfen, denn sie haben viel an dir gut zu machen!“, waren die Worte seine Großmutter, als er sie verlassen hatte, um zu studieren. Auf seine Fragen, wieso die Blankensteins ihm verpflichtet wären, antwortete sie: „Sie waren nach dem Unfall deiner Eltern hier und haben alle Papiere mitgenommen! Sie sagten, sie brauchten sie für die Firma! Ich wusste ja nicht, worum es ging und habe sie gewähren lassen, doch ich glaube, dass nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist, damals, denn schließlich gehörte deinem Vater genau so viel von dem Unternehmen wie den Blankensteins. Ach, ich wünschte, ich wüsste mehr über diese Dinge, doch deine Eltern haben…“ Hier brach sie regelmäßig ab und in Tränen aus…“Geh zu ihnen, sie werden dir bestimmt weiter helfen, ich kann es doch nicht!“ Seid er hier studierte war er erst zwei Mal bei den Blankensteins gewesen, die ihn stets höflich, aber auch mit großer Distanziertheit aufgenommen hatten. Auch gaben sie ihm nicht das Gefühl, dass sie sich in irgendeiner Weise für die Entwicklungen in seinem Leben verantwortlich fühlten… Als er einmal die engen geschäftlichen Beziehungen ansprach, die die Blankensteins vor dem tödlichen Autounfall mit seinen Eltern unterhielten, gingen die Blankensteins nicht auf ihn ein, sondern wechselten wie selbstverständlich das Thema! Auch wenn ihm die gefühlvollen Andeutungen der Großmutter nicht weiterhelfen konnten, weil sie keinerlei Fakten enthielten, festigten sie in ihm doch die Überzeugung erlittenen Unrechts, das sich bei jedem Besuch verstärkte, da es die Blankensteins geschickt verstanden, ihm lediglich mit belangloser Höflichkeit zu begegnen, die jede Verbindlichkeit ausschloss. Dabei gestand er sich ein, dass die vagen Andeutungen der alten Frau auf ihn wie die Verheißungen eines luxuriösen Lebens gewirkt hatten, das sich bald einstellen musste und dessen Beginn er ungeduldig erwartete, weil es ihm zustand! Doch die Rolle des Bittstellers wollte er nicht einnehmen, dies verbot ihm sein Stolz! Und die Gewissheit, dass er um ein ansehnliches Erbe betrogen worden war, gab es nicht. Noch nicht! Irgendwann würde er genügend Beweise gesammelt haben, um sie damit zu konfrontieren. Doch zunächst blieb ihm nur die Rolle des „Wolfes im Schafspelz“, der höflich und fügsam die Gastfreundschaft der vermögenden Leute in Anspruch nahm. Ein Bild: Wie die Stifterfiguren auf einem mittelalterlichen Bild, sollte das Paar vor ihm knien, um endlich zu gestehen und ihm sein Vermögen zu übergeben, das sie sich von seinen Eltern ergaunert hatten! Mit diesen Phantasien im Kopf fuhr er hinaus zu ihnen. Sie lebten draußen, in einem Villenvorort der Stadt. Wieder ließ er sich beeindrucken von der Größe des Anwesens mit seinem parkähnlichen Garten und der Villa, die eine Großzügigkeit ausstrahlte, die seine Besitzer ihm gegenüber vermissen ließen. Hier hatte er in Kindertagen mit Miriam, der Tochter der Blankensteins, gespielt. „Aber komm doch herein!“ Er dankte und bedauerte beim Anblick des Paares, dass er überhaupt gekommen war. „Miri“ ist nicht da, sie hat ein wichtiges Gespräch mit ihrem zukünftigen Professor!“ „Bitte setz dich!“ Er verachtete die angestrengte Höflichkeit der beiden im Umgang mit ihm. Sie kannten ihn doch schon als Kind und nun mühten sie sich und behandelten ihn wie jemanden, dem eine neue Rolle zugedacht war. „Wie geht es dir, was macht das Studium?“ Er war froh, dass er die Bewerbung geschrieben hatte. So konnte er glaubhaft über seine Ambitionen, seine Zukunftspläne, sprechen, ohne ausführlich darlegen zu müssen, wofür er sich beworben hatte. Die Strategie ging auf, seine Gastgeber lauschten interessiert und schienen erfreut, einen jungen Mann vor sich zu haben, der konkrete Zukunftspläne hatte, auch wenn sie seinen Ausführungen nur aus Höflichkeit zu lauschen schienen. Denn im Mittelpunkt ihres Interesses stand allein Miriam. Sie und ihre Zukunft waren es, die den Abend bestimmten. Beide wollten von ihm wissen, ob er Miriams Entscheidung, ein Psychologiestudium zu beginnen, gut hieß… Sie brachten sogar ihr Abschlusszeugnis. Nur zögernd blickte er darauf und da Miriam nichtanwesend war, fühlte er sich unbehaglich, als läse er ihr geheimes Tagebuch. Gleichzeitig spürte er die Blicke, die auf ihn gerichtet waren und die auf ein bestätigendes Zeichen des Orakels warteten. Doch auch hier war es ihr Stolz auf die Tochter, den sie von ihm bestätigt sehen wollten. Es war Miriam selbst, die ihn befreite. Sie löste den Abend auf, weil sie kam, um wieder zu gehen. Sie war bereit, ihn mit zurück in die Stadt zu nehmen. Ein kurzer, förmlicher Abschied: „Ja, die jungen Leute!“ „Meine Eltern wollen natürlich nur das Beste für mich, auch wenn sie mich nicht verstehen!“ Miriam sah gut aus am Steuer ihres Wagens. Sie wirkte wie jemand, der gerade an Tillmann vorbeifuhr, ohne ihn wahrzunehmen. Sie schimpfte auf die Unkultur des Autofahrens, beklagte die Umweltzerstörung, ließ seine Argumente für eine Kultur inmitten einer sie bedrohenden Welt nicht gelten. Als er ausgestiegen war und sie davon fuhr, sah er an der Heckscheibe ihres Geländewagens „ABI 2014“ prangen. Er stellte die chinesische Porzellanvase behutsam in die Glasvitrine zu den anderen Ausstellungsstücken, die im nächsten Monat zur Auktion kommen sollten. Hier war er tätig: im Auktionshaus Brammer! Seriös, traditionsreich, anerkannt! Er hatte den Job über seinen Professor bekommen. Professor Palm, der gelegentlich Expertisen für die zur Versteigerung vorgesehenen Gemälde fertigte, und dessen Frau er einmal die Woche traf… Er war hier eher Transportarbeiter, denn Kunstsachverständiger. Doch behielt er diese Tatsache für sich. Auch für seine Bewerbung hatte er diesen Job hochstilisiert, wohl wissend, dass ein Anruf von Sotheby’s schnell Klärung über seine wirkliche Stellung hier im Haus bringen würde. Trotzdem mochte er die Atmosphäre in den Ausstellungsräumen, die für die kommende Auktion voll gestellt waren mit Möbeln, Gemälden, Skulpturen und Gegenständen des täglichen Lebens. An jedem dieser Stücke haftete die Zeit und unsichtbar die Schicksale ihrer ehemaligen Besitzer. Einige der Gegenstände erzählten sonderbare Geschichten. Manche waren Jahrzehnte verschollen, versteckt auf Dachböden, vergessen in Kellern und Kisten. Bewahrt von Eigentümern, die lieber hungerten, als sie herzugeben. Die Auktion brachte sie für einige Tage zurück ans Licht der Öffentlichkeit, bevor sie als Trophäe eines neuen Besitzers wieder aus den Augen der öffentlichen Wahrnehmung verschwanden. Als er das Auktionshaus verließ, wartete Deborah auf ihn. Er freute sich, sie zu sehen. Sie küssten einander und er begann zum Spaß eine wilde Knutscherei, als wäre er ausgehungert und gierig auf eine Frau. Deborah machte sich lachend frei. „Du Tier!“, lachte sie. Das Spiel gefiel ihr. „Soll ich dir die Kleider vom Leib reißen?“, grunzte er. „Oh, ja, tu es jetzt!“ Er küsste sie freundschaftlich auf die Stirn und lachend zogen sie weiter. Als sie im Fahrstuhl zur Redaktion hinauffuhren hatte sich seine Stimmung geändert. Auch wenn er nicht darüber sprach, Deborah fühlte seine Anspannung… In der Redaktion saß eine Schreibkraft mit Kopfhörern und bemerkte sie nicht, so emsig tippte sie ihr Diktat. Karl Friedberg, den Redakteur für den Kulturteil, fanden sie in der Cafeteria. Er war allein. „Hallo“, sagte Tillman, „das ist Deborah Schneider!“. „Hallo“, grüßte Friedberg, der in Tillmans Alter war, zurück. „Habt ihr was für mich?“ „Ja, ich glaube schon, die Adressen liegen im Postfach!“ „Okay!“, sagte Tillman. „Ist etwas Besonderes dabei?“ „Ich hoffe, du machst was Besonderes daraus!“ Friedberg schaute interessiert zu Deborah. „Wollt ihr einen Kaffee?“„Ich möchte lieber wissen, wo wir hin müssen!“, erwiderte Tillman. Er zog Deborah hinter sich her, die gern mit Karl Friedberg gesprochen hätte. „O. K., bring mir einen Knaller!“, rief ihnen Karl hinterher. „Ich wird’s versuchen!“, antwortete Tillman. Er war gespannt, welche Ausstellung für ihn geblieben war, denn außer ihm gab es noch fünf andere freie Mitarbeiter, die für den Kulturteil der Stadtzeitung schrieben. Es war ein lauer Vorfrühlingsabend. Die Galerie war hell erleuchtet und als er mit Deborah eintraf, kamen sie gerade rechtzeitig zur offiziellen Eröffnung. Im Halbkreis hatten sich die Besucher um die Galeristin geschart und sie wurden von ihr freundlich begrüßt. Dann übergab sie an die Referentin des Abends, die über den Künstler und sein Werk sprach. Tillman und Deborah standen nicht weit von ihr. Er machte sich Notizen, formulierte Fragen, die er bei einem späteren Gespräch mit dem Künstler stellen würde. Es ging um die halb abstrakt, halb gegenständlich gehaltenen Bilder eines japanischen Malers, der mit freundlich undurchdringlicher Miene neben der Galeristin stand. Man sah ihm nicht an, ob er verstand, was über ihn und seine Bilder gesagt wurde, doch wahrscheinlich ging er davon aus, dass seinen Arbeiten die angemessene Würdigung zuteil wurde. Tillman erinnerte sich an die Bedeutung des Zens in der japanischen Kunst, und er beschloss, die ausgestellten Bilder unter diesem Aspekt zu prüfen. Vielleicht konnte er auf die Kampfkunst der Samurai-Krieger verweisen und so Karl Friedberg zufrieden stellen, wenn er über Kunst und Krieg schrieb… Er war froh, dass er einen Aufhänger für seinen Artikel gefunden hatte. Er legte den Arm um Deborahs Schulter und küsste sie auf die Wange, leicht und schwerelos, als würde er seiner Muse für den Einfall danken. Auf der Rückfahrt trafen sie im Zug Joe und Vivian, die zu einer Party wollten. Deborah versuchte ihn zu überreden doch mitzugehen, nachdem sie von den beiden eingeladen worden war. „Ich kann nicht, ich werde mich gleich an die Arbeit machen!“, wehrte er ab. „Aber geh du doch mit!“ Deborah sah ihn unschlüssig an, dann schaute sie zu Vivian. „Soll ich?“ „Ja, komm mit, das wird bestimmt schrill!“, und sie lachte laut und übermütig. Nochmals blickte Deborah zu Tillman, aber er sah, dass sie sich längst entschieden hatte. „Komm, wir müssen hier raus!“, rief Vivian. Die drei verließen die Bahn, ohne sich nochmals nach ihm umzuschauen. Als er die Arbeit beendet hatte und den fertigen Artikel las, war es bereits zwei Uhr morgens. Sein erster Impuls war, Deborah anzurufen. Vielleicht war sie noch auf der Party und sie konnten zusammen in den kommenden Tag feiern. Doch als er zum Handy griff kamen ihm Bedenken. Er trat auf den kleinen Balkon hinaus und der Anblick der nächtlichen Straße wirkte beruhigend auf ihn. Langsam wich die Erregung, mit der er gearbeitet hatte. Er blickte auf die dunklen Fensterreihen der Häuser gegenüber. Hier und da war in einigen Fenstern das flackernde Licht eines Fernsehers zu sehen. In anderen sah er Lichter, die wie Illuminationen eines Rotlichtbezirks wirkten und die sich wie verheißungsvolle Inseln aus der nächtlichen Dunkelheit erhoben. „Ich weigere mich zu glauben, dass es mich nur gibt, damit ich brav das tue, was ihr von mir verlangt! Ich kann auch ohne Euch existieren! Das Leben besteht für mich nicht daraus, wie ein Rädchen im großen Getriebe zu funktionieren!“ Er saß in der Stadtbahn und draußen flogen die Häuser vorbei, fast zum Greifen nahe. Bürohäuser säumten die Strecke und die Angestellten in ihren Büros sahen aus wie Insekten, gefangen in ihren Zellen, denen sie nicht entkommen konnten oder wollten. „Mein Leben lang brav arbeiten für ein abgestottertes Auto mit Häuschen! Ich habe ein ungeheures Verlangen nach Freiheit und Reichtum!“ Er lächelte befriedigt. Die junge Frau, die ihm in der Bahn gegenüber saß, lächelt zurück. Er senkte den Blick und fühlte sich unbehaglich, weil er beobachtet worden war. Dann hob er den Kopf und schaute die junge Frau, die fast noch ein Mädchen war, genauer an. Ihr Lächeln gefiel ihm. Es war sanft und neugierig. Er nahm ein Stück Papier, schrieb seine Handy-Nummer darauf und gab sie ihr. „Wenn Sie wollen, können Sie mich ja mal anrufen!“, seine Stimme krächzte… Dann verließ er seinen Platz und als die Bahn hielt, stieg er aus. Diesmal fand er Karl Friedberg in seinem Büro. „Du bringst was? Was ist es?“, fragte er gleich hinterher. Erwartungsvoll blickte er Tillman an. Das war es, was er an ihm mochte: Karl Friedberg gab ihm das Gefühl mit seiner Arbeit willkommen zu sein. „Die Ausstellung in der Galerie „Zero“!“ „Ach, ja…, setz dich!“ Er reichte ihm den Artikel und Friedberg begann ihn sofort zu überfliegen… Tillman setzte sich auf den einzigen freien Platz vor dem mit Manuskripten beladenen Schreibtisch. Er beobachtete das Gesicht des Redakteurs. Nach ein paar Sekunden hob Karl Friedberg den Kopf und sagte lediglich: „Ja, mal sehen, ob wir dafür Platz haben!“ „Ich rechne fest damit!“, antwortete Tillman, schließlich brauchte er das Geld! „Wir wollen einiges verändern, mehr Hintergrundstories, mehr Action, weißt du?!“ Und nach einer kurzen Pause. „Wie lange schreibst du schon für uns?“ „Seit fast einem Jahr“, antwortete Tillman. „Seit einem Jahr?“, Karl dehnte die Worte, er schien unschlüssig. „Hast du schon mal eine Reportage, ein Personal-Story geschrieben?“ „Während des Studiums…“, begann Tillmann. „O. K.“, sagte Karl. „Ich kann dir nichts versprechen, aber es gibt da einen etwas ausgeklinkten Künstler im Umland, der jetzt in aller Munde ist, vielleicht kennst du ihn sogar…?“ Er begann zielstrebig in seinen aufgetürmten Unterlagen auf dem Schreibtisch zu suchen. „Nach allem, was man so hört, sollte ich lieber eine Frau zu ihm schicken, aber zwei sind schon abgesprungen! ... Willst du es versuchen, traust du dir das zu? Das wären mindestens drei volle Seiten plus Fotos. Die müsstest du allerdings auch machen. Ich kann dir keinen Fotografen mitgeben!“ Endlich hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. „Bruno Karzinger und so weiter, und so weiter!“ Seine Stimme brach ab. Er überflog den Text, den er vor sich hatte und sein Gesicht drückte Unmut aus, als verstünde er nicht, wieso die Informationen, die er brauchte, für ihn nicht kurz und bündig zusammengefasst waren. „Vielleicht sollte ich doch eine Frau schicken, oder traust du dir das zu? Wir brauchen Text und Bilder Ende des Monats! Machst du’s, oder soll ich jemand anderen schicken?“ „Ich mach es!“, sagte Tillman und versuchte so cool wie möglich zu bleiben. „Vielleicht hat Trix draußen noch ein paar Informationen für dich!“ Er reichte ihm das Blatt. Tillman nahm es. Es gab wirklich nicht all zu viele Informationen, doch fand er mitten auf der Seite ein Foto, auf dem ein Allerweltstyp abgebildet war. „Verlass dich nicht auf das Foto, keiner weiß, von wann das ist! Also…“ „Ich fände es trotzdem gut, wenn ihr meinen Artikel in der nächsten Ausgabe…“ „Mal sehen, mal sehen…“, sagte Karl. „Und vergiss nicht Quittungen zu sammeln. Wenn wir die Geschichte drucken, kannst du sie als Spesen abrechnen!“ „O. K., danke!“ „Und fahr mit dem Auto, sonst kommst du nie an!“, rief ihm Karl hinterher. Er verließ das Büro, ohne sich an Trix, die Sekretärin, zu wenden. Er würde selbst im Internet recherchieren. „Ja, ja, das ist es! “Als er allein im Fahrstuhl hinab fuhr, begann er einen kontrollierten Veitstanz und schlug mit den Fäusten in den leeren Raum. Als der Fahrstuhl auf der nächsten Etage hielt und zwei Frauen einstiegen, hatte er längst wieder sein Alltagsgesicht aufgesetzt. Wanda. Tillmann sah sie im Monat höchstens ein oder zwei Mal. Sie war ihm zu Beginn des Renaissance-Seminars aufgefallen. Sie selbst wirkte auf ihn wie die moderne Verkörperung des Ideals jener Zeit. Bei ihrem Anblick fühlte er sich unschuldig und rein. Er bewunderte Wanda wegen ihrer Schönheit und war glücklich, wenn er sie sah, ohne dass er mit ihr sprach. Er benutzte sie wie eine Droge, denn ihre Anwesenheit löste Empfindungen in ihm aus, wie es nur ganz wenige Kunstwerke vermochten: Eine Tür öffnete sich und er betrat schwerelos einen Raum vollkommenen Glücks, das der Auflösung seiner materiellen Existenz gleichkam. Er lachte über seine Schwärmerei, wollte sie aber auch nicht aufgeben. Diese Freude, dieses Glück wollte er konservieren, für immer bewahren, auch wenn er wusste, dass er sich etwas vormachte. Trotzdem wollte er sein Spiel fortsetzen. Während der Vorlesung war er nicht bei der Sache. Er dachte an seinen Auftrag und was es für ihn bedeutete, wenn er ihn erfolgreich abschließen konnte. Patrick, der neben ihm saß, stieß ihn an. Er drehte sich um und Patrick grinste ihn an. „Was ist los?“, fragte er.

„Ich brauche ein Auto, um aufs Land zu kommen!“ „Meins brauche ich die nächsten Tage selber, aber ich kümmere mich darum! Wann soll es losgehen?“ Tillman sah Patrick überrascht und zweifelnd an. Ihre Beziehung war bisher eher distanziert gewesen, bis auf die Reise nach Barcelona. Trotzdem hatte er Patrick von dem Auftrag erzählt. „Heute, morgen, besser wäre heute!“ Aber ohne weiter darüber zu sprechen, blickte Patrick bereits wieder nach vorn in die Dunkelheit, wo Professor Palm Landschaftsbilder von Nicolas Poussin projizierte um sie dann lustvoll zu sezieren… In der Pause holte er sich einen Kaffee. Patrick war allein losgezogen, doch als Tillman zurück in die Vorlesung wollte, traf er Wanda. Sie war im Flur stehen geblieben, bis er heran war. Er spürte ihren prüfenden Blick, jedenfalls kam es ihm so vor, als wollte sie irgendwie sicher gehen. „Ich habe von Patrick gehört, dass du ein Auto brauchst. Ist das so?“ Tillman war überrascht, dass Wanda ihn so einfach ansprach. „Ja, also nicht direkt…“, versuchte er auszuweichen. „Indirekt geht doch aber auch nicht, oder?“, Wanda schien das Frage- und Antwort-Spiel zu gefallen, gleichzeitig war ihre Stimme klar und sachlich. „Ich bin lange nicht gefahren, deshalb…“, zögerte er. „Und wo musst du hin?“, fragte sie. „Ungefähr sechzig Kilometer außerhalb der Stadt. Da gibt es auch keinen Zug, jedenfalls nicht direkt!“ „Und wann willst du dahin?“ Sie ließ nicht locker. „So schnell wie möglich…Es ist ein Auftrag für einen Artikel!“ Er hatte sich entschlossen, auch Wanda einzuweihen, denn es gefiel ihm, dass sich plötzlich alle für ihn zu interessieren schienen. „Für wen schreibst du?“ „Ach, nur für die Stadtzeitung. Kultur, Ausstellungen und so..!“ Er begann sachte zurück zu rudern, trotzdem war er mächtig stolz. „Ich kann dich ja fahren!“, bot Wanda an, als wäre es die einfachste Sache der Welt. „Das würdest du tun?“ „Wann wollen wir fahren?“. Wanda schien sich längst entschieden zu haben. „Vielleicht heute?“, auch Tillman war mutig geworden, wollte weiter auf der Woge surfen, die ihn erst überrascht und nun ungestüm voran brachte. „Ich kann ab drei!“ Sie schien nur noch auf sein Einverständnis zu warten. „Um drei? Wieso drei? Ja, das wäre super, drei Uhr, hier?“ Sie lachte. „Nein, ich muss vorher noch nach Hause, du nicht?“ „Doch, natürlich, ich auch!“, sagte Tillman. „Ich hol dich bei dir ab und dann geht es los! Gib mir deine Adresse, dann bin ich um halb vier bei dir, einverstanden?“ Er hatte längst angefangen seine Adresse auf einen Zettel zu schreiben und gab ihn ihr. Sie nahm den Zettel. „Ich kenne mich da aus, eine Freundin von mir wohnt in einer Nebenstraße! Bleibst du bis zum Ende der Vorlesung?“, fragte sie. „Ich weiß noch nicht, aber wahrscheinlich ja!“, denn er wollte sich unbedingt bei Patrick bedanken. Als er nach Hause kam, waren sie schon da. Im Hausflur standen ein paar Nachbarinnen und tuschelten miteinander. Trotzdem grüßten sie ihn wie immer, doch als er vorbei war rief eine triumphierend: „Sie haben Besuch!“ Auf dem Treppenabsatz vor seiner Wohnung stand ein Polizist in Uniform. „Sie können hier nicht durch!“ „Aber das ist meine Wohnung!“ Tillman zeigte auf die Tür, die offen stand. „Ist bei mir eingebrochen worden?“, fragte er arglos. Der Beamte schien erst jetzt zu begreifen, wen er vor sich hatte. Er schob seinen Körper zur Seite und gab damit den Zugang zur Wohnung frei. „Sie sind der Wohnungseigentümer?“, fragte er mit erwachtem Interesse. „Ja, ist etwas gestohlen worden?“, fragte Tillman und ärgerte sich, denn der Beamte konnte ja nicht wissen, ob etwas fehlte. Niemand außer ihm selbst konnte diese Frage beantworten und so stieß er die Wohnungstür weiter auf und betrat die Wohnung. „Herr Kommissar“, hörte er hinter sich die Stimme des Polizeibeamten, „das ist der Wohnungseigentümer!“ Tillman war an der Tür stehen geblieben, denn er war überrascht von der Anwesenheit so vieler Menschen in seiner kleinen Wohnung. Nach der Ankündigung seiner Person durch den Beamten, trat für einen Moment vollkommene Stille ein. „Sie sind Tillman Graat?“ Ein freundlich lächelnder Mann kam auf ihn zu. „Ja!“, antwortete Tillmann. Die Anwesenden sahen ihn an, als wollten sie es nicht glauben. „Sie sehen ja selbst, was hier los ist, wollen wir einen Kaffee zusammen trinken?“,fragte der noch immer lächelnde Mann, der nicht aussah wie ein Kommissar. „Ja. O.K.“, antwortete Tillman, dem das Angebot so überraschend wie ungelegen kam. Noch immer lächelte der Mann. „Aber, was…?“ „Sie sehen ja, dass wir uns hier nicht in Ruhe unterhalten können“, sagte Kommissar Wörner. „Kennen Sie hier in der Nähe ein Cafe, wo man reden kann?“ „Ja, das „Comrades“, schlug Tillman vor, ohne lange nachzudenken. „Na, dann gehen wir da mal hin! Und ihr macht hier weiter, bis wir wieder da sind!“ Kommissar Wörner drängte ihn freundlich, aber bestimmt zur Wohnungstür hinaus… Das „Comrades“ war noch leer, bis auf ein paar Zeitungsleser und Hörnchenesser. Kommissar Wörner hatte ihn zuerst hineingehen lassen. „Damit ich ihm nicht weglaufe!“, dachte er und grinste wissend. Er blickte sich im Cafe um, grüßte die weibliche Bedienung mit den Rastalocken und ging zu einem leeren Tisch im hinteren Teil des Lokals. „Ich nehme einen Kaffee mit viel Milch!“ „Für mich eine Schokolade!“, sagte Tillman und lächelte der Bedienung zu. Auch sie lächelte. Sie hieß Abigail, war aus Kanada und Tillman mochte sie, weil sie ihm das Gefühl gab, immer willkommen zu sein, auch wenn es ihm mal nicht so gut ging. „Um ihre Fragen zu beantworten“, begann Kommissar Wörner. Dabei blickte er der Bedienung nach, als erinnerte sie ihn an irgendwas oder irgendjemanden.„Also, die erste Antwort lautet: Es ist nicht bei ihnen eingebrochen worden! Wir sind von uns aus gekommen!“ Er machte eine Pause und sah Tillman an… „Und hier ist die richterliche Genehmigung, die wir brauchen, wenn wir uns

unangemeldet zu einer Wohnung Zutritt verschaffen!“ Er gab Tillman das Papier, dabei blickte er ihn unentwegt an. „Wie ein väterlicher Freund, der sich herablässt, einem Idioten den Wetterbericht zu erklären!“, dachte Tillman. „Und sie knacken einfach meine Wohnungstür, wenn ich nicht zu Hause bin?“ Er war wütend, dass die Leute nicht in seine Wohnung gekommen waren, um einen Einbrecher zu fassen, sondern dass sie in seinen Sachen rumwühlten, ohne dass er wusste, warum. Oder waren sie wegen der Bücher da? Aber das konnte nicht sein! „Es tut mir leid!“, sagte Kommissar Wörner, „aber wir tun nur unsere Arbeit, nicht mehr und nicht weniger!“ Er unterbrach sich, weil Abigail die Getränke brachte. Als sie ging, schaute er ihr erneut hinterher und Tillman war sich sicher, dass der Beamte später hierher zurückkommen würde, um sie nach ihm zu befragen. Was wollte der Bulle von ihm, und warum hatten sie nicht eine Frau, Typ attraktive Fernsehkommissarin zu ihm geschickt, mit der er hätte Eindruck machen können? Stattdessen saß er hier mit diesem Kerl, der immer noch lächelte, als machte es ihm Spaß hier mit ihm zu sitzen, weil er sowieso schon alles wusste. Das Lächeln, das ihm zunächst sympathisch vorgekommen war, erschien ihm jetzt penetrant und überheblich. „Sie haben vorgestern Abend die Familie Blankenstein besucht. Darf ich fragen, warum? „Nein, eigentlich nicht…!“, blockte Tillman ab. Kommissar Wörner sah ihn weiterhin mit einem Lächeln an…Tillman entschied sich, die Frage doch zu beantworten: „Es sind alte Freunde meiner Eltern. Da wollte ich mich mal bei ihnen sehen lassen!“ „Miriam Blankenstein ist seit vorgestern verschwunden, und ihre Eltern sagen, dass sie mit Ihnen zusammen das Haus verlassen hat!“ „Verschwunden, was heißt verschwunden?“ „Die Eltern haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben, weil ihre Tochter- trotz Absprache- nicht nach Hause gekommen ist!“ Kommissar Wörner blickte ihn aufmerksam an. Er lächelte nicht mehr. Tillman senkte den Blick und rührte in seiner Schokolade. Er dachte an die Autofahrt mit Miriam, doch in seiner Erinnerung war nichts gespeichert, so schnell waren sie auseinander gegangen. „Das stimmt doch, dass sie mit Miriam Blankenstein das Elternhaus verlassen haben?“ „Ja, natürlich stimmt das!“ Er sah Kommissar Wörner direkt in die Augen. „Wo sind sie zusammen hingefahren?“ „Wir sind nirgendwo zusammen hingefahren! Sie hat mich da vorne… Sie hat mich an der Ecke Liebigstraße abgesetzt! Dann ist sie weitergefahren, ich weiß nicht, wohin!“ Und erstaunt fügte er hinzu: „Miriam…?!“ „Warum sagen sie das?!“ „Warum? Sie hat noch im Auto gesagt, dass ihre Eltern nur das Beste für sie wollen! Sie, die gehätschelte, wohlbehütete, verwöhnte Tochter! Warum soll sie plötzlich verschwinden?“ „Worüber haben sie sonst noch während der Autofahrt gesprochen?“ „Ach, über dies und das, läppisches Zeug, wenn es so ist, wie sie sagen, dass sie plötzlich verschwunden ist!“ „Was haben sie gemacht, nachdem sie das Auto verlassen haben?“ „Ich bin nach Hause gegangen. Ich wollte das Fußballspiel sehen!“ „Und, wie ist es ausgegangen?“ „Drei zu eins, oder so, nicht?“ „Sie wissen es nicht genau?“ „Nein, ich bin eingeschlafen, es war nicht spannend!“ Wanda fiel ihm ein, Wanda, die mit ihm zu diesem Künstler fahren wollte. Sie sollte ihn auf keinen Fall mit diesem Polizisten sehen. Unter der Tischplatte sah er auf seine Armbanduhr. „Ich möchte jetzt zurück in meine Wohnung!“, sagte er und blickte den Polizisten direkt an. Kommissar Wörner schwieg. „Ich kann Ihnen leider nichts zum Verschwinden von Miriam sagen, möchte aber mein Leben weiterführen, wenn Sie nichts dagegen haben!“ Tillmans Handy fiepte und er nahm das Gespräch an. „Ich kann jetzt leider nicht sprechen, ich rufe nachher zurück!“ Und nach einer Pause: „Ja, O. K. Ciao!“, fügte er hinzu. Er beendete das Gespräch. Plötzlich fühlte er eine ungeheure Wut. Er hatte sich von diesem Kommissar einwickeln lassen, nur weil sie ihn in seiner Wohnung überfallen hatten und er zunächst nicht wusste, warum. Es war höchste Zeit das Gespräch, aber eigentlich war es ein Verhör, zu beenden. Kommissar Wörner lächelte. „Die Kollegen werden inzwischen mit ihrer Arbeit fertig sein, wir können ja mal nachsehen. Danach steht ihnen Ihre Wohnung wieder zur Verfügung!“ Als Abigail kam und Tillman seine Schokolade zahlen wollte, sagte Wörner: „Sie waren mein Gast!“ Erst wollte er protestieren, doch Abigails Anwesenheit ließ ihn stumm bleiben: ihr gegenüber wollte er seine Souveränität behaupten, als wären sie zwei Verschworene gegen die trübsinnigen Aufdringlichkeiten der Welt. Auf dem Weg zurück schwieg er. „Gleich wird er mir sagen, dass ich ihn anrufen soll, wenn ich etwas von Miriam höre! Gleich wird er mir sagen, dass ich…“ Als sie vor dem Haus ankamen, sagte Kommissar Wörner: „Wenn Sie etwas von Miriam Blankenstein hören oder sehen, hier ist meine Karte, rufen Sie mich an, ja?!“ Tillman blickte zur Seite, um nicht laut loszulachen. „Ja, das werde ich tun!“, brachte er dennoch heraus und öffnete die Haustür. Kommissar Wörner gab ihm die Hand. Dann machte kehrt, um Abigail zu befragen, wie Tillman vermutete. Im Hausflur traf er weder seine Nachbarinnen, noch stand auf dem Treppenabsatz zu seiner Wohnung der uniformierte Beamte. Einen Moment hoffte er, dass alles nur eine surreale Überlagerung der Wirklichkeit gewesen war, doch als er die Wohnung betrat und sah, was sie angerichtet hatten, befiel ihn erneut jene Wut, die ihn hilflos machte, da er sie auf niemanden lenken konnte. Die Wohnung war durchsucht worden und auch wenn es kein Dieb gewesen war, fühlte er sich doch schutzlos und ausgeliefert. Er dachte an Miriam und konnte sich ihr Verschwinden nicht erklären, doch ahnte er, was das für die Blankensteins bedeutete. Waren nicht sie es, auf die er wütend war? Anstatt mit ihm Kontakt aufzunehmen hatten sie ihm die Polizei auf den Hals gehetzt! Plötzlich war er froh, die Wohnung verlassen zu können. Er blickte auf die Uhr: In einer halben Stunde würde Wanda ihn abholen, wenn sie pünktlich war! Er nahm die Reisetasche, die Kamera, das Ladegerät für das Handy, das Notebook, Wäsche für zwei, drei Tage. Er stopfte alles in die Tasche und stellte sie an die Wohnungstür. Im Badezimmer bemerkte er die Schweißflecken, die das Hemd in den Achselhöhlen dunkel färbten. Er beschloss zu duschen, denn nun würde er mit Wanda eine kleine Partie aufs Land machen. Und er lachte über diese Version seines Vorhabens. Wieso hatte sie sich bereit erklärt, ihn zu fahren? Wieso war es Patrick gelungen, sie zu überreden? Was hatte er ihr gesagt. dass sie bereit war, ihn hinaus zu diesem Künstler zu fahren? Als er Bruno Karzinger telefonisch erreichen wollte, um einen Termin für ein erstes Interview zu bekommen, hatte er mit einem Thomas Peckart gesprochen, der ihm geraten hatte, einfach zu kommen, denn Bruno Karzinger würde erst entscheiden, ob er mit ihm sprechen wollte, wenn er ihn gesehen hatte…! Nach dem Duschen fühlte er sich besser. Er zog frische Sachen an, denn vielleicht musste er doch länger da draußen bleiben, als ihm lieb war. „Ich, der berühmte Wald- und Wiesen -Journalist!“, und er lachte übermütig über sich selbst und war doch gleichzeitig froh über seinen Auftrag, der ihn voran bringen würde. Dann sprach er mit Deborah. Sie freute sich, dass er diesen Auftrag von Karl Friedberg bekommen hatte und wünschte ihm Erfolg. „Und wie kommst du dahin?“, fragte Deborah „Eine Kommilitonin fährt mich!“ … „Nein, du kennst sie nicht. Ich kannte sie bis heute auch nicht“, behauptete er. „Patrick hat das arrangiert!“, fügte er wahrheitsgemäß hinzu. „Der smarte Patrick!“, dachte er. „Ja, sie sieht wahnsinnig gut aus!“, lachte er. Ich weiß nicht, warum sie es macht. Wir reden darüber, wenn ich zurück bin! Ich melde mich, Ciao!“ Er beendete das Gespräch und ging hinaus auf den Balkon. Und noch ehe er sich klar darüber geworden war, wieso das Gespräch mit Deborah so kläglich verlaufen war, sah er den azurblauen Fiat von Wanda, den sie ihm beschrieben hatte, in die Straße einbiegen. Er verriegelte die Balkontür, nahm im Flur seine Reisetasche und schloss hinter sich die Wohnungstür, die anscheinend jeder, der sich darauf verstand, zu jeder Zeit öffnen konnte.

HASSFRATZE

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