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7.

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Es war kühl. Leichter Nieselregen setzte ein. Als Koslowski seinen alten Suzuki Swift startete, fing Gregory Porters „Time is ticking“ an, melancholisch aus den Autoboxen zu tönen. Koslowski schaltete die Scheibenwischer an und prompt schaltete das Radio sich aus. Koslowski fluchte vor sich hin. Er hatte es vergessen. Schon vor Monaten wollte er wegen dieses immer wiederkehrenden Mysterium zu einer Werkstatt fahren. Grabowski saß angeschnallt und leicht verkrampft mit angewinkelten Beinen auf dem Beifahrersitz. Koslowski hatte vor dem Einsteigen die CD’s, die auf dem Sitz lagen, auf die Hinterbank geworfen und die Papier- und Essenskrümel auf den Boden gewischt.

Sie fuhren an einem dieser neu errichteten Einkaufscenter vorbei, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Für Koslowski sahen sie alle gleich aus, architektonisch so reizvoll wie eine Müllverbrennungsanlage. Eine gemischte Seniorengang, bewaffnet mit Rollatoren, schrammelte zielsicher den Fußweg entlang. Zwei Passanten wichen entnervt auf die Straße aus. Muss ja ein tolles Angebot im Center geben, dass die Rentner mit so einem Tempo durch Gegend wackeln, dachte Koslowski. Und da sah er auch schon das Werbeschild: Saturn - nur heute: Kaffeemaschine für neun Euro. Kein Wunder, dass sich Rentner auf einmal zu aggressiven Sprintduellen herausforderten. Er schüttelte den Kopf. Grabowski bemerkte es und lachte leise: »Schon erstaunlich. Sonst können die sich kaum fortbewegen, aber bei einem Angebot für eine Neun Euro Kaffeemaschine werden scheinbar heilende Kräfte freigesetzt, die sogar Jesus neidisch werden lassen. Vielleicht sollten die Krankenkassen einen Deal mit Saturn machen.« Koslowski musste bei der Vorstellung kurz auflachen.

Wenig später bogen sie von der Landsberger Allee in die Oderbergerstraße, um von dort einen Weg zu den Eingängen der Plattenbauten, die sich auf der Rückseite der Landsberger Allee befanden, zu finden. Koslowski verpasste die Zufahrt. Er seufzte genervt und fuhr weiter, die nächste Querstraße suchend. Linker Hand reckte sich die Oderbruchkippe in den grauen Himmel. Grabowski bekam einen verklärten Blick und sagte: »Hier auf dem Mont Klamott war im Winter die beste Rodelstrecke in Berlin. Davor ist die Maiglöckchenstraße. Mit einer Bande von dort hatten wir uns öfter mal einen Kampf geliefert.«

Koslowski sah Grabowski erstaunt mit hochgezogener Augenbraue an. Der nahm es nicht wahr und fuhr fort: »Einmal hatten die gemeint, einer von uns hätte den Seitenspiegel eines ihrer Mofas beschädigt. War natürlich gelogen.«

Seine Stimme ließ in ihrer Bestimmtheit keinen Zweifel zu. »Na wie das damals dann so war, wurde ein Treffpunkt ausgemacht, um die Sache endgültig zu klären. Gegen Abend sind dann so dreißig bis vierzig Jugendliche aufeinander losgegangen. Ich mittendrin. Es dauerte wahrscheinlich keine halbe Stunde, dann waren die Mannschaftswagen der Volkspolizei da.«

Koslowski hatte da so seine sichtbaren Zweifel, zumindest was das mittendrin betraf. Grabowski bemerkte Koslowskis Blick nicht. Er war in einer anderen Zeit.

»Mich musste dann mein Vater um 2:30 Uhr von der Polizeiwache abholen. Er war nicht sehr begeistert. Ich war so ungefähr 13 Jahre alt.«

Grabowski lächelte bei der Erinnerung still vor sich hin. Koslowski fragte sich gerade, was das für ein Vater war, der erst um 2.30 Uhr morgens seinen jugendlichen Sprössling von der Polizeiwache holte, als er rechts vor dem Seniorenheim in die Judith-Auer-Sraße einbog. Dann fiel ihm wieder ein, wie schleppend die Kommunikationswege im Osten oft gewesen waren, vor allem wenn man, wie 75% der Bevölkerung kein Telefon besaß. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Wenn er an Grabowskis Ostberliner Kinder- und Jugendzeit gedacht hätte, wäre ihm mehr der strebsame Jungpionier mit Halstuch und einem ordentlich geknüpften Pionierknoten in den Sinn gekommen. Später sicher mit einem ordentlich gebügelten FDJ Hemd. Koslowski blickte kurz zu ihm hinüber und sah, wie sich Grabowski die Bügelfalte seiner Hose zurechtzupfte. Er nahm es erleichtert zur Kenntnis. Ganz musste er sein Bild von Grabowski nicht korrigieren. Er bog in die Landsberger und hielt vor dem 2. Hauseingang. Nummer 167. Den Wagen parkte er halb auf dem Bürgersteig sehr zum Missfallen von Grabowski, der gezwungen war, die Tür beim Aussteigen festzuhalten, damit sie nicht auf den Asphalt schabte. Er schaffte es. Koslowski verzog anerkennend lächelnd den Mund. Grabowski sah erleichtert aus. Nur, um sich gleich zu fragen: Ging ihm das bei Koslowski immer so, dass er sich wie ein kleiner Schuljunge fühlte, der die Prüfung bestanden hatte?

Das Zuknallen von Koslowskis Fahrertür, riss ihn aus den Gedanken.

Koslowski schloß den Wagen nicht ab. Gemeinsam liefen sie zu dem Haus. Auf dem Klingelbrett am Hauseingang fanden sie den Namen Blaschek. Koslowski klingelte. Der Türsummer ertönte und gleichzeitig sagte eine klare Frauenstimme: »2. Stock.«

Sie nahmen die Treppe. Als sie im 2. Stock ankamen, öffnete sich die rechte Wohnungstür. Eine kleine stämmige Frau, mit rundem Pagenkopf sah ihnen neugierig entgegen.

Sie gingen ins Wohnzimmer. Koslowski sah sich kurz um. Die braune Schrankwand, ein Relikt aus DDR Zeiten und vermutlich genauso so alt wie ihre Kinder, die erwachsen von einem aufgestellten Foto lächelten, nahm fast die ganze Wand ein. Die Couch, die beiden Sessel und der Couchtisch waren etwas neueren Datums. Koslowski schätzte so um die 20 Jahre. Insgesamt machte die Wohnung einen weniger plüschigen Eindruck, als es Koslowski erwartet hatte. Er wusste auch nicht, warum er ältere Menschen meist mit Plüschsofas und Nippesfiguren in Verbindung brachte. Auf dem Tisch standen eine Porzellankanne und drei dazugehörigen Tassen auf Untertassen. Aber keine Platzdeckchen, bemerkte Koslowski erleichtert. Das Zuckerdöschen und ein kleines Kännchen mit Kaffeesahne standen auf einem ovalen Silbertablett daneben.

»Ich hab uns frischen Kaffee gemacht. Ich hoffe, Sie trinken welchen. Bitte nehmen Sie Platz«, sprudelte es aus ihrem kleinen Mund. Koslowski nickte, lächelte freundlich. Er spürte ihre Aufgeregtheit und ließ sich in den einen Sessel fallen. Grabowski setzte sich aufrecht in den anderen. Sie ging zum Tisch, goss vorsichtig die Tassen voll und sah die beiden Polizisten an. »Sahne und Zucker nehmen Sie sich bitte selbst.«

Dann setzte sie sich auf den vorderen Rand der Couch und strich dabei ihren gemusterten Rock glatt.

Koslowski schüttelte den Kopf und sagte: »Danke, ich trinke ihn schwarz.«

Während Grabowski zum Milchkännchen griff und sich etwas in seine Tasse goss.

»Sie wissen, warum wir hier sind?«, hub Koslowski an und sah sie dabei an. Sie nickte erst stumm, um dann zu sagen: »Es geht um den Richter.«

Sie seufzte und fuhr dann ohne Nachfrage fort: »Wissen Sie, nachdem ich meine Arbeit kurz nach der Wende bei Narva verlor, suchte ich vergeblich zwei Jahre lang nach einer neuen Arbeit.« Koslowski registrierte, dass sie Arbeit sagte und nicht Job. »Ich bekam immer wieder dieselben Absagen: Zu unqualifiziert, zu alt, waren die weniger freundlichen Aussagen. Mein Mann war ein Jahr früher verstorben. Motorradunfall. Wir waren nicht verheiratet. Damit bekam ich auch keine Witwenrente. In der DDR war das ja kein Problem. Ich hatte ja Arbeit. Aber als wir dann Westen wurden und ich arbeitslos, hätte ich die Witwenrente gut gebrauchen können.«

Koslowski hörte keine Bitterkeit in ihrer Stimme. Es war einfach nur eine sachliche Feststellung.

»Meine Kinder sind dann nach Westdeutschland, da gab es Arbeit für sie. Sie haben mich unterstützt. Sind gute Kinder.« Sie deutete mit einer kurzen Bewegung ihres runden Kinns zu dem aufgestellten Foto in der Schrankwand, das Koslowski schon bemerkt hatte.

»Hab auch schon Enkelkinder. Ich seh sie und meine Kinder leider nur viel zu selten«, sagte sie. Wieder seufzte sie, sah gedankenverloren in ihre Kaffeetasse, die noch unberührt auf dem Tisch stand.

Koslowski schüttelte leicht den Kopf, als Grabowski ansetzte, das Schweigen zu unterbrechen. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann fuhr sie fort: »Meine Bewerbung bei dem Richter war eine reine Verzweiflungstat. Ich hab mich damals auf alles beworben. Ich fühlte mich irgendwie nutzlos. Ich wollte auch meinen Kindern nicht auf der Tasche liegen. Ich bekam dann tatsächlich einen Termin zu einem Vorstellungsgespräch.« Sie sah Koslowski an, lächelte. »Ich machte mir aber nicht allzu viel Hoffnungen. Na ja was soll ich sagen: Das Gespräch fand eigentlich nicht statt. Der Richter führte mich stattdessen in die Küche und öffnete die Kühlschranktür. Machen sie mir etwas zu essen, mit dem was sie hier finden sagte er. Wenn es gut wird, haben sie den Job, Er war irgendwie ein mürrischer Einsiedler, der mit Menschen nicht gut konnte. Was soll ich sagen, zu meiner Überraschung bekam ich den Job. Ich kochte, wusch, putzte und reparierte. Eine in der DDR lebende alleinerziehende Mutter, die im Schichtbetrieb arbeitete, musste so etwas einfach können.«

Koslowski und Grabowski nickten zustimmend. »Wie war er so als Mensch?«, fragte Koslowski.

»Ein Griesgram. Mürrisch. Wenn man ihn nicht gut kannte. Man hat es nicht gleich gemerkt, aber er hatte ein gutes Herz. Hat viel für den Tierschutz gespendet und für zwei Patenkinder in Afrika. Er las viel und hörte Musik. Nahm auch oft Arbeit mit nach Hause.«

Koslowski sah sie überrascht an. In der Akte hatte er dazu nichts gelesen. Grabowski bemerkte Koslowskis fragenden Blick.

»Am Anfang dachte ich, er wäre einsam«, fuhr sie fort. »Und irgendwie unglücklich. War aber nicht so. Er wollte allein sein. Er fühlte sich wohl dabei.«

»Sie sagten: Er nahm sich oft Arbeit mit nach Hause. Wie ist das zu verstehen?«, hakte Grabowski nach.

Heiderose Blaschek sah Grabowski irritiert an. »Na er hatte öfter einen Stapel Akten mit nach Hause gebracht und las darin. Was dachten Sie denn?«

»An dem Abend auch?«, fragte Grabowski, ohne eine Miene zu verziehen nach.

»Ja.«

»Hatte er an dem Abend Besuch erwartet?«

Jetzt bekam Koslowski den zweifelnden Blick ab.

»Nein, natürlich nicht. Meinen Sie, dann hätte er sich Arbeit mit nach Hause genommen?«

»Wahrscheinlich nicht«, stimmte ihr Koslowski versöhnlich zu. »Sie sind dann ins Kino gegangen.«

»Noch nicht gleich«, unterbrach sie ihn. »Ich hab ihm noch einen Topf Chili zum Abendbrot heiß gemacht und warm gestellt. Schön mit angebratener Chorizo Wurst und frischem Koriander, so wie er es mochte. Dazu etwas frisch aufgebackenes Baguettebrot.«

»Wie war es, als Sie aus dem Kino wieder in die Wohnung vom Richter kamen? Irgendjemanden aus dem Haus kommen sehen? Irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Nein«, antwortete Heiderose Blaschek bestimmt, ohne zu zögern und schüttelte dabei den Kopf. »Ich wunderte mich nur, als ich die Wohnungstür aufschloss, dass alles dunkel war und der Lichtschalter nicht ging. Ich hab dann gerufen, aber keine Antwort bekommen. Es war merkwürdig still. Sonst lief ja immer irgendwie Musik. Ich bin dann zum Sicherungskasten neben der Eingangstür gegangen und hab da die Sicherung wieder reingedrückt. Sie ist gleich wieder rausgeflogen. Auf der Anrichte hab ich immer eine Taschenlampe liegen. Man kann ja nie wissen. Die hab ich mir gegriffen und bin zum Telefon gegangen. Wollte den Störungsdienst anrufen. Bis zu dem Moment dachte ich, der Richter wäre nochmal aus dem Haus gegangen. Dann wurde mir aber auf einmal irgendwie eiskalt. Ich bekam ein komisches Gefühl. Ich ging mit der Taschenlampe in der Hand durch die Wohnung und zuletzt ins Bad. Da hab ich ihn gefunden.«

Koslowski nickte. »Haben Sie sonst irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Vielleicht, dass etwas nicht an seinem gewohnten Platz lag? Hat was gefehlt?«

Sie überlegte kurz und sagte dann: »Mir ist nichts aufgefallen.«

»Waren die Akten noch vorhanden?«

»Ja«, antwortete sie zögerlich. »Aber jetzt, wo sie es sagen, es fehlte eine auf dem Stapel. Sie war schmal und es klebten mehrere Haftzettel darauf.« Sie sah die beiden verunsichert an. »Ich weiß nicht, ob ich es damals angegeben habe. Es war mir total entfallen.«

»Keine Sorge, so was kann passieren«, sagte Grabowski beschwichtigend.

Koslowski beugte sich nach vorn.

»Wussten Sie, dass Sie als Alleinerbin eingesetzt waren? Hat er mit ihnen darüber gesprochen?«

»Nein.« Sie schüttelte energisch ihren Kopf. »Aber es ist ja auch noch nicht bestätigt. Sein Sohn fechtet das Testament an. Ich weiß auch gar nicht, was ich mit der Wohnung soll. Sie ist viel zu groß und ich bin hier zu Hause.« Sie seufzte.

»Verkaufen Sie sie. Und mit dem Geld machen Sie sich ein schönes Leben. Ziehen Sie in die Nähe ihrer Kinder und Enkelkinder, damit Sie sie öfter sehen.«

Sie sah Koslowski an. »Geht das denn?«

»Warum nicht. Sie gehört ihnen ja.« Koslowski lehnte sich zurück. Frank Grabowski räusperte sich: »Noch einen guten Rat: rücken Sie ihren Kindern nicht zu dicht auf die Pelle. Das kann böse ausgehen.«

Koslowski sah seinen Kollegen fragend an.

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