Читать книгу Die Harry Brown Liste - J. U. Gowski - Страница 9
2.
ОглавлениеNasser Al-Sharif saß im hinteren Zimmer seines Bistros. Er war beunruhigt. Sein Gesicht glänzte. Die Wangen schimmerten schwarz, trotz der morgendlichen Rasur. Vor ihm auf dem alten runden Holztisch stand das zweite Glas Tee. Der Tee stark und süß, so wie er ihn mochte. Das erste Glas hatte ihn nicht beruhigt, das zweite würde es auch nicht. Er konnte den Anwalt nicht erreichen. Dr. Bommer wollte am Freitagabend vorbeikommen, ihm ein paar wichtige Unterlagen vorbeibringen. Jetzt, nach drei Tagen ohne Lebenszeichen von ihm wurde er langsam wütend. Es ärgerte ihn, dass er nur Bommers Handynummer und die Telefonnummer aus der Kanzlei hatte. Keine Privatnummer, keine Privatadresse. Das war schlampig und würde nachzuholen sein. Gut, es war bisher auch nie nötig gewesen. Trotzdem. Und die Kanzlei war am Wochenende geschlossen. Das ganze Wochenende hatte er gehofft, Bommer würde sich melden. Er hatte in der Kanzlei auf den Anrufbeantworter gesprochen. Vergeblich. Nasser Al-Sharif machte sich ernsthaft Sorgen. Es war Montagmorgen und noch keine Rückmeldung von Bommer. Das war mehr als nur ungewöhnlich. Noch hoffte er, ahnte aber auch, dass etwas passiert sein musste. Die Kanzlei öffnete um 10.00 Uhr. Er überlegte kurz, griff mit seinen dicken kurzen Fingern das Telefon und drückte die Kurzwahltaste. Auf der anderen Seite wurde abgenommen.
»Zarif?«, fragte Nasser.
»Ja«, meldete sich eine ruhige Stimme.
»Bevor du deine Runde machst, musst du etwas für mich erledigen.« Der andere wartete schweigend ab. »Fahr zu Bommer. Seine Kanzlei öffnet um 10.00 Uhr. Schleif ihn her, egal was er gerade meint wichtiges zu tun zu haben. Ich will seinen Arsch hier haben. Er wollte mir Freitagabend ein paar wichtige Unterlagen vorbeibringen. Er ist bisher nicht aufgetaucht und gemeldet hat er sich auch nicht.«
»Geht klar«, antwortete der andere nur und legte auf.
Nasser Al-Sharif lehnte seinen massigen Körper nach hinten. Die Stuhllehne knarrte. Er hoffte, dass seine Sorgen umsonst waren, dass Bommer es einfach nur vergessen hatte. Sein Gefühl sagte ihm was anderes.
Mohammed Javad Zarif überlegte. Wenn sein Boss sich so ausdrückte, lag etwas in der Luft, das unangenehm werden könnte. Er klappte sein Vertu Handy zu, steckte es in die Hosentasche. Er konnte Smartphones nicht leiden, empfand sie als stillos. Für ihn war das Handy zum Telefonieren da, nicht zum Chatten, Mails schreiben oder Spiele spielen. Er mochte Funktion gepaart mit Design. Genau wie er Uhren mit einem mechanischen Laufwerk bevorzugte. Nicht diese billigen chinesischen Quarzuhren, egal was für ein Design darum gebastelt wurde. Zarif sah auf seine Nomos Automatik und lächelte. Er hatte noch ein bisschen Zeit. Die Anwaltskanzlei befand sich in Berlin-Mitte, in einer Straße, die von der Chausseestraße abging. Den Namen hatte er vergessen. Von hier bis dorthin würde er bestimmt eine ganze Weile brauchen. Berufsverkehr und dann auch noch durch die Stadt. Er seufzte bei der Vorstellung. Was soll‘s. Auftrag ist Auftrag. Vielleicht sollte er doch etwas mehr Zeit einplanen. Unschlüssig stand er da, schaute aus dem Fenster. Das Wetter vom Wochenende mit den böigen Regengüssen hatte sich beruhigt. Der Wind hatte sich gelegt und die schweren Regenwolken hatten sich verzogen. Doch der Himmel war immer noch grau. Die Bäume ragten kahl in den Morgen. Über dem Landwehrkanal waberten Nebelfetzen hoch. Er griff zum Autoschlüssel, der auf dem kleinen Tischchen neben dem Fenster lag und betätigte an der Fernbedienung den Knopf für die Standheizung seines Autos. Er wollte es warm haben, wenn er einstieg. Er überlegte kurz, ob er Abbas anrufen sollte. Rechtzeitig erinnerte er sich an Abbas‘ kaum zu stoppenden, fast kindlichen Redefluss. Er schüttelte unbewusst den Kopf. Wenn der erst mal auf Touren gekommen war, gab es kein Halten. Er entschloss sich, die Fahrt allein zu unternehmen, zu genießen. Auf Kopfschmerzen konnte er gut verzichten. Er steckte seine Pistole, eine Walther PPQ M2 in das Schulterhalfter. Als Sicherheitskurier einer Werttransportfirma besaß er den dazu nötigen Waffenschein. Die Firma gehörte Nasser Al-Sharif. Die Waffe war neu, hatte im Gegensatz zu seiner alten einen längeren Lauf, auf den er, wenn nötig einen Schalldämpfer raufschrauben konnte. Und ein 15 Schuss Magazin. Man konnte nie wissen. Er zog sich das Jackett über. Das sollte bei dem Wetter reichen. Er hatte nicht vor, stundenlang draußen spazieren zu gehen. Noch einen kurzen kritischen Blick in den Spiegel, dann verließ er die Wohnung. Unten am Hauseingang traf er die neu eingezogene siebenköpfige Familie. Die Mutter und ihre drei Töchter mit ihren Kopftüchern standen mit dem jüngsten männlichen Spross zwei Meter abseits vom Familienoberhaupt. So war es ihnen seit Jahrhunderten beigebracht worden. So war ihr Stand. Mann und Frau lebten in zwei parallelen Welten. Der Mann hatte dabei definitiv die bessere Option. Sie versuchten verzweifelt den kleinen, verzogenen Märchenprinzen zu bändigen, während der Vater seinem älteren Sohn Anweisungen gab. Körperlich hier, hatte ihr Geist das bäuerliche Zentralanatolien nie verlassen. Zarif schüttelte den Kopf, er war in einem gebildeten Elternhaus aufgewachsen. Er grüßte sie mit einem Kopfnicken, mehr nicht. Sein Vater hatte es ihm beigebracht: sei höflich und grüße. Er ging an ihnen vorbei. Sie grüßten freundlich lächelnd zurück. Er nahm es kaum wahr.
Zarif konnte sich an seine Kindheit im Libanon nicht mehr erinnern. Er war erst zwei Jahre alt, als seine Eltern von dort flohen. Er hatte keinen Bezug zu seiner ursprünglichen Heimat. Er empfand sich als Deutscher, auch wenn er Schweinefleisch nicht mochte. Er sprach deutsch, er dachte deutsch. Seine Eltern hatten bei seiner Erziehung viel Wert darauf gelegt. Sie sagten: Du hast den Vorteil zwei Welten zu kennen. Nimm das Beste davon und dann mach das Beste daraus. Den Vorteil kann dir keiner nehmen. Er hatte sich daran gehalten.
Er betrat die Straße. Das Paul-Linke-Ufer begrüßte ihn mit kalter, klarer Luft und kahlen Bäumen. Raureif lag auf den Autos. Er ging hinüber zu seinem Jaguar, den er auf der anderen Seite geparkt hatte. Er mochte den britischen Stil, die Klasse und die Arroganz, aber auch den Humor. Drei Eigenschaften davon schienen den Deutschen zu fehlen. Nur bei der Arroganz konnten sie mithalten. Für ihn unverdientermaßen. Er schüttelte wieder unbewusst den Kopf.Auf eine gewisse Art verachtete er die Deutschen. Er lächelte, als ihm auffiel, dass er ganz schön viel verachtete und seufzte. Er wusste, er war ein Snob. Warum waren seine Eltern nicht nach Großbritannien ausgewandert? Ausgerechnet Deutschland. Aber er hatte sich fest vorgenommen, es irgendwann nachholen. Doch jetzt erst mal zu Bommer. Er stieg in den beheizten Jaguar, startete ihn und fuhr mit einem satten Brummen los.