Читать книгу Die Harry Brown Liste - J. U. Gowski - Страница 15
8.
ОглавлениеMurad Ekici schwitzte trotz des kühlen Wetters. Er war spät dran, stellte er mit einem Blick auf die Bahnhofsuhr fest. Nervös strich er sich über das gegelte schwarze Haar. Er war als Terminvertreter von einer auswärtigen Kanzlei engagiert worden. Die Uhr zeigte 11.00 Uhr und um 12.00 Uhr war der Termin im Gericht. Seit Wochen fuhr die S-Bahn unregelmäßig. Ausfälle waren an der Tagesordnung. Entweder Streik oder Havarien, man konnte es sich aussuchen. Da er kein Geld für ein Auto oder Taxi hatte, war er auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Er hatte sich eigentlich darauf eingestellt und in den letzten Tagen hatte das mit dem Zeitfenster auch immer geklappt. Nur heute war er zu spät losgegangen. Schuld daran: seine Frau. Sie hätte sich keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können, um das leidige Thema Haushaltsgeld anzusprechen. Sie war immer noch eine schöne Frau. Doch die Hoffnung, die sie mit der Heirat verbunden hatte, die Frau eines angesehenen und gut verdienenden Rechtsanwalts zu werden, zerbröckelte im Laufe der Jahre. Was blieb waren Verbitterung, Schulden und der vorwurfsvolle Blick ihrer Augen, ohne Liebe. Dieser lukrative Nebenjob, der keinen großen Zeitaufwand von ihm forderte, stellte so eine willkommene Einnahmequelle da, solange seine eigene Kanzlei nicht richtig lief. Und das tat sie seit Jahren nicht. Doch das würde sich demnächst ändern. Er hatte vor ein paar Wochen ein Mandat angetragen bekommen, was viel Geld einbringen würde. Mit einem Schlag wäre er die Schulden und eine Menge Sorgen los. Morgen wollte er es seiner Frau sagen.
Er sah auf die Uhr. 11.15 Uhr. Der Bahnsteig war voll mit Menschenmassen. Es waren wieder zwei Bahnen ausgefallen. Zum Glück hatte eine Position am Bahnsteig ergattert, die sicherstellte, dass er mit der nächsten Bahn mitkommen würde. Er sah sich um. Kurz hinter sich erkannte er das Gesicht des freundlichen alten Mannes wieder, der in den letzten Tagen öfter dieselbe S-Bahn wie er nahm. Irgendetwas an dem Gesicht hatte ihn schon die letzten Male irritiert. Er kam nicht darauf, was es war.
Er grüßte ihn: »Hallo.«
Der alte Mann grüßte freundlich zurück.
»Na wenigstens haben wir eine gute Ausgangsbasis. Die nächste S-Bahn ist unsere.«
Der alte Mann nickte zustimmend und lächelte dabei. Ekeci drehte sich wieder um. Jetzt fiel ihm auf, was ihn an dem Gesicht irritierte: Es war geschminkt. Sollte der Alte schwul sein? Er schüttelte sich bei dem Gedanken. Da hörte er das Rattern der S-Bahn und er machte sich kampfbereit, als plötzlich im aufkommenden Gedränge ihn, von den anderen unbemerkt, eine Hand in den Rücken stieß. Er fiel. Sein erschrockener Schrei ging in den kreischenden Bremsgeräuschen des Zuges unter, der zehn Meter weiter zum stehen kam. Zu spät für Murad Ekici.
Meyerbrinck sah von seinem Schreibtisch auf, als Koslowski das Büro betrat. »Na ihr habt aber lange gebraucht.«
»Die Stadt ist dicht. Seit die S-Bahn wieder ihre Wartungsprobleme hat, kommt man in der Stadt einfach nicht vorwärts. Am S-Bahnhof Landsberger Allee hat es dann auch prompt einen Feuerwehreinsatz mit Krankenwagen gegeben. Da ging nichts mehr. Jemand ist vom Bahnsteig auf die Gleise gefallen und das vor der einfahrenden S-Bahn. Er ist überrollt worden. Frag mich bloß, was die da noch mit einem Krankenwagen wollten.«
Koslowski zog die Parkajacke aus, hängte sie über die Stuhllehne und ließ sich dann in den Stuhl fallen.
»Und bei dir?«
»Ich hab den Antrag für die Bommergeschichte zu denen rüber gefaxt und die Unfallakte sollte in der nächsten Stunde bei uns sein. Sie wollten sie gleich zu uns faxen.«
»Prima.« Koslowski verschränkte die Arme hinter den Kopf und überlegte. »Die Blaschek sagte, dass Richter Trimmel Akten mit nach Hause genommen hat. Laut ihrer Aussage fehlte eine, als sie ihn fand. Kannst du mal beim Gericht anfragen ob die vielleicht wissen, welche Akten er an dem Abend mit nach Hause genommen hat. Ich hol mir inzwischen einen Kaffee und warte auf das Fax.«
»Gut, ich nehme Ben mit.«
»Ben? Wie bunt ist sein Hemd heute?«
»Sehr bunt, und gestreift.« Meyerbrinck lachte als Koslowski das Gesicht schmerzhaft verzog.
Dann stand er auf und griff sich seinen Mantel. In der Tür blieb er nochmal stehen. »Ach so, das hätte ich beinahe vergessen, Van Bergen will dich sprechen.«
Van Bergen sass an seinem großen Schreibtisch, als Koslowski an den Türrahmen seines Büros klopfte. Van Bergen hob seinen Kopf und winkte Koslowski herein.
»Schließ die Tür, Sal.« Koslowski trat ein und schloss die Tür. An der Wand hing das s/w Foto von James Baldwin und Marlon Brando. Koslowski sah es jetzt mit anderen Augen, seit er etwas mehr von Van Bergens Privatleben wusste. »Wie läuft es bei euch beiden?.« Van Bergen folgte Koslowskis Blick und schmunzelte.
»Taek will jetzt ein eigenes Thai-Restaurant eröffnen. Er ist etwas gestresst, aber sonst geht es uns gut.«
»Hört sich gut an. Ich meine das mit dem Restaurant.« Koslowski kratzte sich verlegen am unrasierten Kinn. Van Bergen lachte. »Alles Gut, Sal. Alles gut.«
Er zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Setz dich, Sal.« Koslowski kam der Aufforderung nach. Van Bergen strich sich über seinen grauen Bürstenhaarschnitt und sagte: »Wie fang ich an? Also durch Nicklas Tschillners plötzlicher Kündigung damals ist ja eine Stelle immer noch unbesetzt. Was hältst du davon, Frederieke Bloom wieder ins Team zu holen?«
»Will sie die drei Jahre Mutterschaftsurlaub nicht nehmen?«
»Hat sie. Die drei Jahre sind rum.« Koslowski sah Van Bergen zweifelnd an. »Glaub mir ruhig. Sie ist auch ganz froh darüber, ihr fällt die Decke auf den Kopf. Die drei Jahre zu Hause haben ihr gereicht. Und ich glaube, sie würde sich freuen wieder in ihrem alten Team arbeiten zu können.« »Glaubst du oder weißt du es schon?«, konnte sich Koslowski nicht verkneifen. Dann überlegte er. »Aber wie soll das gehen? Kleines Baby und Außeneinsatz? Und der Vater ist nicht bekannt, wird ihr also keine große Hilfe sein.«
Van Bergens harter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Schön das du deine Kollegen schützt. Aber ich weiß, dass du es weißt, dass Di Stefano der Vater ist.«
Koslowski schaute Van Bergen irritiert an. »Hier bleibt wirklich nichts geheim.«
Van Bergen lachte. »Ja und ein kleines Baby ist das Kind auch nicht. Immerhin schon drei Jahre.«
Nach einer kurzen Pause sagte Koslowski »Egal, wie stellst du dir das vor?«
»Ich dachte an Innendienst. So zu sagen als eure Schreibkraft, Bürochefin. Du kannst es nennen, wie du willst. Auch erst mal nur halbtags.«
»Scheint ja schon beschlossene Sache zu sein, so wie du das sagst.« Koslowski sah Van Bergen mürrisch an. Der konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Was genau ist dein Problem, Sal? Sei doch froh, dass euch jemand den Schreibkram und das Organisatorische abnimmt.«
»Ich hab einfach kein Bock darauf, dass private Dinge dann im Team ausgetragen werden. Und das wird nicht ausbleiben.« Koslowski sah seinen Chef ernst an.
Van Bergen nickte. »Versteh ich, aber lass es uns probieren. Wenn es nicht klappt, findet sich eine andere Lösung.«
Koslowski zuckte resigniert mit den Schultern und stand auf.
»Lass die Tür auf, wenn du rausgehst.«, sagte Van Bergen zum Abschied und vertiefte sich wieder in die Akte, die auf seinem Schreibtisch lag.
Koslowski holte sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten im Flur, was diesmal erstaunlicher Weise ohne den obligatorischen Fußtritt funktionierte. Als er sein Büro betrat, sprang gerade das Faxgerät summend an und warf einige Blätter aus. Er ging hin. Es war der erwartete Bericht von Bommers Unfall. Koslowski griff sich die Blätter und mit dem Kaffee in der Hand, machte er es sich auf seinem Bürostuhl bequem. Vom Kaffee schlürfend, las er sich den Bericht durch. Nach einer Weile legte er die Blätter weg. Er hatte nichts Auffallendes bemerkt. So wie es da stand, ein ganz normaler Unfall. Bei regnerischem Wetter und damit schlechter Sicht, zu schnell gefahren. Auf der letzten Seite stand noch, dass die Fotos vom Unfall per Mail kommen würden. Er stellte den Becher mit dem kleinen Rest Kaffee bei Seite und schaltete seinen Rechner an. Es klopfte an dem Türrahmen. Koslowski sah auf. Matteo Di Stefano stand in der Tür. »Kann ich stören?«
»Hast du schon.«, erwiderte Koslowski unwirsch.
»Ich wollt nur sagen, dass mit Frederieke ist nicht auf meinem Mist gewachsen.«
»Hab ich mir schon gedacht. Nur wäre es schön gewesen, wenn ihr vorher mit mir gesprochen hättet.«
»Wollt ich ja, aber Frederieke nicht. Sie meinte, du wärst damit nicht einverstanden.«
»Matteo, du musst jetzt nicht deine Frau in die Pfanne hauen. Sie hat deine Loyalität verdient.« Di Stefanos Gesicht wurde rot und er sah verlegen zu Koslowski.
»Und sie hat recht. Es gefällt mir immer noch nicht.«, fuhr Koslowski fort. »Aber jetzt ist es, wie es ist und ihr müsst das Beste daraus machen. Seht zu, dass ihr das in die Reihe bekommt. Ich hab schon genug mit Grabowski zu tun, wenn sich mal wieder eine seiner großen Lieben von ihm trennt. Da brauch ich nicht noch einen Beziehungsstress in der Abteilung.«
»Versprochen«, antwortete Matteo erleichtert. »Kann ich dir noch einen Kaffee holen?«
Koslowski grinste. »Wenn du schon so fragst. Schwarz, ohne Zucker. Aber bitte nicht aus dem Automaten. Davon hatte ich schon zwei.«
Di Stefano lächelte mitfühlend und verließ das Büro. Koslowski wandte sich dem Rechner zu und öffnete mit einem Mausklick das Postfach. Die Fotos von der Direktion Eberswalde waren da. Er klickte die Fotos durch. Die Leiche von Bommer war kein schöner Anblick. Die vordere Seite des Autos war nur zusammengepresstes Blech. Er klickte weiter. Dann wurde Koslowski stutzig. Er klickt das letzte Foto zurück und sah es sich genauer an. Auf der Beifahrerseite war das Seitenfenster zertrümmert. Es befanden sich nur noch Restesplitter in dem Rahmen. Alle anderen Scheiben waren ganz, bis auf die gesplitterte Frontscheibe. Er klickte die Fotos weiter, suchte Aufnahmen von dem Innenraum des Wagens. Und dann fand er es. Die Fenstersplitter lagen alle im Innenraum des Wagens. Jemand hatte die Scheibe von außen eingeschlagen. Er sah sich das Foto von dem Innenraum der Fahrerseite nochmal genauer an. An der Seite zur Tür war Nässe zu sehen. Und es war kein Blut. Koslowski griff sich nochmal den Bericht. Als der Wagen gefunden wurde, waren die Türen geschlossen. Wie also kommt Nässe in einen geschlossen Wagen? Koslowski lehnte sich zurück und dachte nach. Es ließ eigentlich nur einen Schluss zu: Die Tür stand offen, als es regnete. Also musste jemand die Tür geschlossen haben. Eingeschlagene Fensterscheibe, offene Tür. Für ihn stand fest, es hatte sich jemand an dem Auto zu schaffen gemacht. Er klickt sich noch einmal durch die Fotos. Bei Einem blieb er hängen. Vergrößerte es. An einem Baum glaubte er etwas Schwarzes zu erkennen. Es sah aus wie ein Stück Klebefolie.
Di Stefano betrat mit zwei Bechern Kaffee den Raum, sah auf den Monitor und fragte: »Ein neuer Fall für uns?«
Koslowski nahm Di Stefano den gereichten Becher ab und antwortete: »Es sieht ganz so aus.«