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Kapitel 2
ОглавлениеSo trug es sich damals zu, als ich mich zu meiner ersten Seefahrt aufmachte.
Wahrscheinlich wäre mir dieses Ungemach, sowie weitere Schicksalsschläge erspart geblieben und mein Leben hätte zudem einen gänzlich anderen Verlauf genommen, wenn ich mich meinen Studien gewidmet oder den üblichen Weg zur nahen Schmiede eingeschlagen hätte.
Mein Name ist Hendrik, Hendrik van Houten, und würde mir im Jahre 1634 jemand erzählt haben, dass ich einmal die Leitung des bekannten Handelshauses der van Dycks übernehmen sollte, den hätte ich schlichtweg als von allen guten Sinnen verlassen beschrieben. Nun leite ich das Handelshaus schon seit geraumer Zeit und brachte es sicher durch die Wirren und Unruhen der vorangegangenen Jahre.
Es sind diese wenigen Augenblicke des Müßiggangs, wenn angetan von einem guten Schluck des Portweins, das Gefühl in mir aufkommt, in einem nicht endenwollenden Traum zu stecken. Dann überkommen mich die Gedanken an diese zurückliegende Zeit.
Zu Beginn der so lange währenden Unruhen, erblickte ich im Jahre 1618 das Licht der Welt. Wohlbehütet, jedoch unter bescheidenen Verhältnissen, wuchs ich als Kind von Reijke und Simon van Houten in Amsterdam auf. Mein Vater unterrichtete als Lehrer die Kinder der wohlbetuchten Kaufleute und der angesehenen Familien. Deshalb erging es uns nicht schlecht in dieser überaus reichen Stadt. Auch wenn unser Wohlstand, im Vergleich zu diesen Leuten, eher bescheiden daher kam.
Erklärlicherweise erlernte auch ich frühzeitig das Lesen und Schreiben und erhielt überaus gute Kenntnisse in der Mathematik. Dabei bereiteten mir diese Fähigkeiten, insbesondere das Jonglieren mit den Zahlen, sehr viel Freude, was in diesen Zeiten durchaus nicht als üblich anzusehen galt. Als junger Bursche verdiente ich mir ein wenig Geld hinzu, indem ich bei einer nahegelegenen Schmiede aushalf. Stunde um Stunde bewegte ich dort den Blasebalg, um die Glut in der Esse auf die richtige Temperatur zu bringen.
Zu Beginn meines dortigen Wirkens hörte ich zu gerne die verschiedenen Klänge der kleinen und großen Hämmer. Wenn sie auf das rotglühende Eisen trafen und der darunterliegende Amboss seinen Ton dazu gab, klang es beinahe wie eine hübsche Melodie. Dazu erschien es mir überaus interessant zu sehen, mit welchen geschickten Bewegungen der Schmied aus dem heißen Metall, mit gezielten Hammerschlägen ein Hufeisen, einen kunstvollen Beschlag oder gar ein Schwert erschaffen konnte. Der anfänglich als Ansporn empfundene Hammerschlag, in dessem Rhythmus ich den Blasebalg bediente, entpuppte sich jedoch bereits nach kurzer Zeit als unangenehmer Lärm, der mir nach getaner Tat einen Brummschädel bescherte. Zudem, wenn ich den Flammen einmal zu nahe kam, senkten sie mir das braungelockte Haar an. Die Arbeit war schweißtreibend und schwer und die Bezahlung weiß Gott nicht gerade üppig, doch dies war allemal besser, als nur herumzulungern und auf vermeintlich bessere Zeiten zu hoffen.
Meine kräftezehrende Arbeit in der Schmiede sahen die Eltern nicht allzugerne. Weitaus lieber wäre es ihnen gewesen, würde ich mich mehr noch mit dem Studium, zum Beispiel dem der Medizin befassen. Natürlich war es auch nicht mein Wunsch, dass spätere Leben in der Schmiede zu verbringen; aber mehr noch als das Wissen um die Medizin, begeisterte ich mich für die Mathematik. Damit wollte ich später vielleicht ebenso vermögend werden, wie die feinen Leute der Stadt. Weiterhin begeisterte ich mich für die Kartographie, fand Interesse an fremden Ländern und nicht umsonst ging mein Blick oftmals über die Dächer der Häuser hinweg, in Richtung des Hafens. Verträumt sah ich die großen Masten der Schiffe näherkommen und malte mir aus, einst selbst an Bord zu sein und die Karten, die derzeit die Welt bestimmten, um ein Vielfaches zu bereichern. Und ich meinte schon, da gäbe es genug zu tun.
So trieb es mich hin und wieder zum Hafen, wo ich den Gesprächen und Erzählungen lauschte und in Träumen versunken auf das Meer schaute.
Es war schließlich vorbei, dass die Erde in der westlichen Hälfte überwiegend den Spaniern und in der östlichen Hälfte den Portugiesen zugeschrieben werden konnte.
Lange hatten die Portugiesen versucht, den von ihnen entdeckten See-weg nach Indien geheim zu halten, um so alleine von den Vorteilen des Handels mit diesen Regionen zu profitieren. Von Europa aus, um Afrika herum zum Indischen Subkontinent und weiter zu den Gewürzinseln Hinterindiens, erschlossen die portugiesischen Entdecker diese Handelswege über das Meer. Sie traten nun neben die Bisherigen, die sich im Mittelmeer und dem Roten Meer befanden; sowie den Karawanenwegen, die von Osmanien bis hin nach Asien führten. Diese Wege zu Lande, die durch unwegsames Gelände, durch Wüsten, wie auch zu Oasen führten, trugen den Namen Seidenstraße.
Diese althergebrachten Routen kontrollierten jedoch eine Vielzahl regionaler islamischer Herrscher. Jeder von ihnen wollte Nutzen daraus ziehen und erhob Steuern, Zölle und forderte für Wegerechte. Zudem taten Diebesbanden ein Übriges, sich der kostbaren Frachten zu bemächtigten, so dass die Preise für die begehrten Waren ins Unermessliche stiegen. Der nunmehr mögliche, direkte Handel mit Hinterindien auf dem Seeweg, versprach somit nicht nur weitaus höhere Profite, sondern ging zudem gefahrloser und schneller vonstatten.
Gefahrloser stellte sich der neue Weg zur See schon dar, jedoch eben nicht frei von jeglicher Gefahr. Wütete auf dem Festland Europas die Pest und hielt der anfängliche Religionskrieg viele Gebiete in seinem festen Griff, so tobte auf der See hingegen ein nicht minder schlimmer Handelskrieg. Engländer, Spanier, Portugiesen und Franzosen, aber nicht zuletzt auch wir Niederländer versuchten, dem jeweils Anderen die Rechte streitig zu machen.
Unter den Flaggen ihrer Länder, machten zudem Freibeuter Jagd auf die Handelsschiffe; aber auch gemeine Piraten machten die Seefahrt überaus unsicher.
Mancher Kaufmann unseres Landes machte sich daran, selbst ein Schiff auf den Weg nach Ostindien zu bringen. Da gleich die ersten Fahrten überaus erfolgreich verliefen, taten sich immer mehr auf, weitere Schiffe zu entsenden. Doch der einzelne Kaufmann und Reeder war vergleichsweise schwach und nur ein Zusammenschluss versprach ausreichend Schutz vor den vielfältigen Gefahren. Aus den vielen einzelnen Initiativen niederländischer Kaufleute und Reeder formierte sich dazu im Jahre 1602 die Vereenigde Oost-Indische Compagnie, die kurzgenannt als VOC, von nun an die Weltmeere befuhr und zu großen Teilen beherrschte.
Aber die VOC fungierte weit darüber hinaus, als dass sie nur eine Handelskompanie verkörperte. Ausgestattet mit prächtigen Schiffen, oftmals den Galeonen, die nicht nur reichlich Platz für Waren boten, sondern mit etlichen Kanonen auch gut gerüstet aufbrachen, machte sie anderen Ländern so manches Gebiet streitig. Nach und nach brachte sie so unter anderem die wichtigsten portugiesischen Faktoreien in fernen Ländern unter ihre Kontrolle und sorgte auf diese Weise für Wohlstand in unserem Land. Da ist es nur zu gut zu verstehen, dass die bisherigen Profiteure ihre Plätze nicht friedlich hergaben.
Bei allem Ungemach und einem steten Hin und Her zeichnete sich immer deutlicher ab, dass zwei Punkte auf der Weltkarte, nämlich Batavia und Amsterdam, über Wohlstand, über Gedeih und Verderb bestimmten. Was sich bis zum heutigen Tage nicht geändert hat.
Eben diese Schiffe, mit ihren mutigen Männern an Bord waren es, die den Wohlstand unserer Stadt und unseres Landes ausmachten; und so gingen nicht nur meine verträumten Blicke zum Hafen, sondern es glich einem allgemeinen Fest, wenn sie aus Übersee zurückkehrten.
Jedesmal bot sich ein prächtiges Bild, wenn sich eine dieser gewaltigen hölzernen Festungen dem Amsterdamer Hafen näherte. Rasch fanden sich zahlreiche Schaulustige ein, um dem folgenden regen Treiben beizuwohnen. Das Entladen der Schiffe war immer ein großer Moment um zu entdecken, welche Schätze der fernen Länder die vollgefüllten Bäuche freigaben und welche Waren in wenigen Tagen in den Geschäften oder auf den Märkten ausliegen würden. Ebenso konnte man die abenteuerlichsten Gestalten antreffen, wie auch allerhand Gesindel, welches darauf aus war, im dichten Gedränge der Gaffenden, die Geldbeutel der gut Betuchten zu schneiden.
Was für ein betörender Duft lag über den Märkten, welche die eingeführten Gewürze wie Pfeffer, Gewürznelken, Muskat oder Zimt verströmten. Ingwer, Weihrauch und Myrrhe stellten ebenso einen immensen Wert dar, weil sie, wie die vorgenannten Kostbarkeiten, nicht nur zum Würzen der Speisen, sondern auch als Konservierungsstoffe und Grundlage für Arzneimittel unverzichtbar wurden. Edle Hölzer kamen aus den dicken Bäuchen der Galeonen zum Vorschein, Seidentuch und feinstes Porzellan.
Allerdings blieb es zumeist beim Anschauen dieser Waren, denn für die Meisten, waren sie schlichtweg unerschwinglich.
In diesen insgesamt angespannten Zeiten galt es für meine Familie als ein eher seltenes Vergnügen, einem derartigen Schauspiel beiwohnen zu dürfen. Nicht anders war es an diesem sonnigen Tag, dem 6. August des Jahres 1634, an dem sich meine Eltern mit mir auf den Weg machten, das bunte Treiben zu beobachten. Gewillt, später daheim von meinen eignen Entdeckungen berichten zu können, entfernte ich mich von den Eltern. Jedoch nur soweit, um sie in diesem Meer aus Menschen, nicht aus den Augen zu verlieren. Hätte ich auch nur geahnt, dass diese wenigen Schritte für mich, das spätere höchste Glück, doch zuvor die tiefste Trauer bedeuteten, so wäre ich gerne daheim geblieben, um mich unter der strengen Aufsicht des Vaters, weiterhin den Studien zu widmen.
Emsig wie die Ameisen, schafften die Seeleute die kostbare Fracht aus der Tiefe des Schiffes ans Tageslicht. Kiste um Kiste, Kübel um Kübel und Sack für Sack barg man aus den Tiefen des leicht im Wasser des Hafens schwankenden Kolosses. Und so rasch, wie die Waren emporkamen, so rasch verschwanden sie in den nahegelegenen Lagerhäusern. Zum Teil sonderlich anzuschauende Menschen kamen mit den Lasten daher. Nicht weniger fremdartig als ihre Kleidung, erschienen bei manchen die Gesichter oder gar die Bemalung der Haut. Ein vielfältiges Sprachengwirr, die Befehle der Schiffsoffiziere oder der Handelsherren, erfüllten das gesamte Hafengelände.
Das besondere Interesse der Zuschauer galt oftmals den riesigen Fässern, die mit Weinen, Gewürzen oder mit sonstigem edlen Zeug gefüllt, noch auf Deck lagen. Fest verzurrt und gehalten von dicken Tauen, bedurfte es neben viel Geschick auch kräftiger Männer, diese Fässer unversehrt über die angelegte Rampe hinab zu bekommen, um sie anschließend zu den Lagerhäusern zu rollen.
Dem Ebenholz gleich, glänzten die bloßen Oberkörper der muskelbepackten Kerle, die sich daran zu schaffen machten.
Welch ein Gegensatz zu dem alltäglichen Hafenbetrieb, wenn die üblichen Fischerboote oder kleinere Frachtschiffe ihre Güter an Land schafften.
War dies für die Einen eine überaus schweißtreibende Arbeit, so ging es für die Zuschauer zu, wie auf einem großen Jahrmarkt. Händler boten zahlreiche Waren und Speisen feil und Gaukler zeigten ihre Kunststücke. Währenddessen schleppten die Arbeiter weiter unentwegt Säcke und Kübel von Bord und endlich, endlich machten sich andere daran, die Taue zu lösen, welche die gewaltigen Fässer umspannten.
Doch kaum fielen die ersten Stricke von ihrer Last befreit zu Boden, erfüllten Geräusche die Luft, wie man sie sonst nur beim Abfeuern von Musketen vernehmen konnte. Mit lautem Knallen barsten die verbliebenen Taue, die dem gewaltigen Druck der Fässer nicht mehr standhalten konnten. Tauenden zuckten wie übergroße Peitschen über das Schiff, wobei sie so manchem Seemann schmerzhafte Verletzungen beibrachten. Schlimmer jedoch, bahnten sich nun die Fässer unkontrolliert ihren Weg. Übermächtig und nicht mehr aufzuhalten, rollten sie auf der angelegten Rampe hinab und auf die dichtgedrängt stehenden, schauenden Menschen zu.
Das daraufhin einsetzende Durcheinander und der gewaltige Lärm wurden nur übertroffen von den Schreien der Menschen, die vor den gewaltigen Lasten davon rannten oder bereits von ihnen erfasst worden waren. Hin und her, auf und ab, wogten die Körper, als wären sie selbst Fässer, die auf den Wellen tanzen. Gestoßen von Männern und Frauen, die sich gleichfalls in Sicherheit bringen wollten, schien um mich herum mit einemmal eine Stille zu herrschen, die jedoch wohl nur ich so wahrnahm.
Mit Entsetzen sah ich, nur wenige Schritte entfernt, meine Eltern leblos am Boden liegen. Eines der schweren Fässer hatte auch sie er-fasst. In einem Zustand, den ich als schlaftrunken bezeichnen möchte, sah ich, wie sich der Boden vor ihnen rot verfärbte. Blut, überall Blut und dazu das hilflose Jammern und Schreien Anderer, das wie aus weiter Ferne zu mir drang. Als wäre ich nicht selbst Teil des Geschehens, stand ich stumm und fassungslos da und hätte doch so gerne meine Gefühle in die Welt geschrien. Ich bitte um Verständnis, dass ich an dieser Stelle meiner Erzählungen von weiteren Schilderungen des Leids und meines Gemütszustandes Abstand nehme.
Üblicherweise kamen zu derartigen Anlässen nicht nur die Leute, welche sich einen schönen Tag machen wollten, sondern natürlich auch die Eigner der Schiffe, die Handelsleute und andere Persönlichkeiten von Rang und Namen. Zu diesen zählte auch der mir bis dahin nur namentlich bekannte Johan van Dyck, der von seinem alten und erkrankten Vater Pieter, die Leitung des bekannten Amsterdamer Handelskontors übernommen hatte und hier sehr aufmerksam verfolgte, welche Waren sein Interesse finden konnten.
Johan van Dyck, der mit seiner Frau Mirte eine kinderlose Ehe führte, stand natürlich nicht unter dem gemeinen Volke, als das Unglück hereinbrach. Dennoch wurde er von diesem Ereignis ebenso überrascht, wie alle anderen Zuschauer. Entgegen mancher Herrschaft jedoch, suchte er in diesem Wirrwarr sein Heil nicht in der Flucht, sondern versuchte zu helfen und Leid zu lindern. So stieß Herr van Dyck auf mich, einen Sechzehnjährigen, der nicht recht verstehen konnte, was um ihn herum geschah und der nun völlig allein und mittellos dastand. Erwachsen zwar und dennoch hilflos. Unzählbar Viele, Seemänner, Kaufleute und auch Kinder, waren durch das Geschehen betroffen und so ist es wohl bei allem Leid als ein Glücksfall anzusehen, dass ausgerechnet Herr van Dyck auf mich traf und sich meiner annahm. Mich neben den am Boden liegenden Eltern zu sehen, die sich nicht mehr bewegten, schien ihn doch sehr mitzunehmen.
Seit jeher zählten die van Dycks in Amsterdam zu den umgänglichen Handelsherren, die ein großes Herz gegenüber den Menschen besaßen, denen das Glück nicht immer hold gesonnen war. Unter dem Eindruck, dass es womöglich auch seine Fracht war, die meine Eltern um ihr Leben brachten, forderte mich Herr van Dyck auf, ihn zu seinem Kontor zu folgen. Noch völlig unter dem Eindruck des unglückseligen Geschehens und gleichzeitig dankbar dafür, dass sich überhaupt jemand meiner annahm, trottete ich wie willenlos hinter ihm her. Es mag sonderbar erscheinen, jedoch hier, nur wenige hundert Schritte von dem Unglücksort entfernt und damit dem schaurigen Lärm und dem Schreien der Verletzten entkommen, fiel mir zunächst das riesige Backsteingebäude auf. Groß prangte in schmiedeeisernen Lettern das van Dyck daran. Als sich die schwere und aufwändig beschlagene Holzpforte öffnete,
bemerkte ich zunächst eine Mixtur betörender Düfte. In reger Betriebsamkeit wurden im Innern des Gebäudes Fässer gerollt, Säcke gestapelt und Kübel geschoben. Ich stand wahrhaftig in einem der Lagerhäuser des so bekannten Amsterdamer Handelshauses.
„Komm hier rüber, Junge“, vernahm ich eine angenehme, weibliche Stimme. In prachtvollen Kleidern, das Haupt geschmückt von einem großen Hut, stand ich einer edlen, wohlaussehenden Dame gegenüber, die sich als die Gemahlin Herrn van Dycks zu erkennen gab. Ich weiß noch, dass ich mich tief verbeugte, bevor ich den angebotenen Platz auf einer langen Bank einnahm. Doch weder wusste ich, mich recht zu verhalten, noch waren meine Gedanken so klar, als dass ich die Eindrücke der letzten Stunde verarbeiten konnte.
Mit beruhigenden Worten sprach Frau van Dyck auf mich ein und ließ Speisen für mich auftragen, die verlockend dufteten. Aber ich ver-spürte keinen Appetit und das Gesprochene erreichte mich nicht.
Erst als Herr van Dyck hinzutrat, holten mich seine Worte aus der Unwirklichkeit zurück.
„Wie ist Dein Name, junger Mann?“
„Hendrik, Hendrik van Houten, mein Herr“, brachte ich aufgeregt her-vor.
„Van Houten? Der Name klingt bekannt, betreiben Deine Eltern ein Geschäft in der Stadt und beziehen gar Waren von mir?“, bohrte er weiter.
„Nein, edler Herr, mein Vater ist Lehrer - war Lehrer“, korrigierte ich meine Aussage und unterdrückte mühsam die aufkommenden Tränen. „Richtig, Simon van Houten, der Lehrer“, nickte Herr van Dyck versonnen und strich sich mit der Hand über seinen Bart. „Nicht, dass ich Deinen Vater je persönlich kennenlernte, doch von Freunden, deren Kinder er unterrichtete, hörte ich nur Gutes über ihn. Ich selbst habe keine Kinder, darum blieb mir das Vergnügen ihn kennenzulernen, leider verwehrt. Ein angesehener Mann, Dein Vater; und Du hinterlässt auch keinen schlechten Eindruck. Doch angesichts des schlimmen Unheils will ich Dich nicht länger mit Fragen löchern. Ich kann Dir zunächst nur eine Kammer für die Nacht hier im Kantor anbieten und dann lass uns morgen weiter reden.“
„Vielen Dank, mein Herr“, mehr brachte ich nicht hervor und dennoch war ich wahrhaftig von einer großen Dankbarkeit erfüllt. Denn lieber hätte ich unter einer der vielen Brücken genächtigt, als nun alleine in die elterliche Wohnung einzukehren, die wir am Morgen noch gemeinsam verlassen hatten.
Die zurückliegenden Ereignisse und die fremde Umgebung machten es mir jedoch trotz aller Müdigkeit unmöglich, in den Schlaf zu finden. Es waren jeweils nur kurze Momente, in denen mich die Müdigkeit übermannte und sich die Augen schlossen. Doch augenblicklich holten mich die beginnenden unschönen Träume zurück in die Wirklichkeit. Ohne Appetit und mehr, um die nicht enden wollende Zeit der Dunkelheit zu überbrücken, wagte ich mich bei flackerndem Kerzenschein an die zuvor bereitgestellten Speisen.
Erlösend wirkten die ersten frühen Sonnenstrahlen, die mich durch das kleine Fenster wohlig wärmend trafen. Nicht nur das zu vernehmende Gezwitscher der Vögel kündigte den neuen Tag an. Das Getrappel von Pferdehufen erfüllte die Gassen und ich meinte sogar, bereits das Klingen eines Schmiedehammers zu hören. Kam es aus der Schmiede, in der ich zeitweilig an der Esse stand? An der mit Wasser gefüllten Schüssel erfrischte ich mich und versuchte beinahe krampfhaft, mir die Geschehnisse des Vortages vom Leib zu waschen. Ich rückte gerade meine Kleidung zurecht, als es an der Tür klopfte.
„Herr van Houten, Herr van Houten; Herr van Dyck wünscht Euch zu sprechen“.
„Ich bin sofort bei Euch“, rief ich aufgeregt und öffnete die Tür. „Wenn Ihr mir bitte folgen wollt“, sprach mich die Magd an, die kaum älter als ich selbst war.
Hocherhobenen Hauptes und mit einem Stolz, als wäre sie die Herrin des Hauses, führte mich das Fräulein auf eine gewaltige Eichentür zu. Mit ihren dürren Fingern schlug sie kaum merklich gegen das schwere Holz, öffnete diese, bevor von drinnen ein Ton zu vernehmen war und meldete mit einem unterwürfigen Knix: „Verehrte Herrschaft, Herr van Houten.“ Und schon war sie in den Gängen verschwunden, als wäre sie nie dagewesen.
„Junge, tritt ein und nimm Platz“, begrüßte mich Herr van Dyck.
Überaus nervös antwortete ich mit einem „Vielen Dank, edler Herr.“
„Ich kann mir sehr gut vorstellen und es ist Dir deutlich anzusehen, dass die vergangene Nacht Dir keinen erholsamen Schlaf brachte“, begann Herr van Dyck das Gespräch. „Aber bei allen traurigen Ereignissen gilt es dennoch, nach vorne zu schauen, denn wir können das Geschehene nicht rückgängig machen. Du kannst versichert sein, dass ich mich um alle Belange, die mit dem Ableben Deiner Eltern zu tun haben, kümmern werde. Doch was wird aus Dir, was hast Du bislang gemacht? Gestern hast Du kurz geschildert, einen Arbeitsplatz in der Schmiede gefunden zu haben. Ist es das, was Du weiterhin zu tun gedenkst?“
„Mein Herr, meinem Vater war sehr daran gelegen, dass ich das Studium der Medizin aufnehme. Selbst fühle ich mich jedoch mehr zu der Mathematik und dem Gebiet der Kartographie hingezogen.“
„Schau an, schau an. Doch es ist nicht verwunderlich, dass der Sohn eines gebildeten Mannes über gute Eigenschaften verfügt und nicht den Rest seines Lebens in einer Schmiede verbringen will. Wenngleich Dir die Arbeit dort sicher nicht geschadet hat. Du siehst kräftig aus, besitzt starke Hände und Arme; gepaart mit einem guten Verstand, könnte ich für so einen Mann durchaus Verwendung finden. Wenn Dir daran gelegen ist, dann kann ich Dir eine Arbeit in meinem Kontor anbieten. Du wirst arbeiten müssen, wie alle anderen auch; Du erhältst die gleiche Entlohnung und ich kann Dir versprechen, dass Du ausreichend Zeit für Deine Studien finden wirst. Wie Du siehst, habe ich hier eine Vielzahl an Büchern, die Du dazu durchaus nutzen kannst. Ebenso kann ich Dir die Kammer, in der Du die letzte Nacht verbracht hast, zur Verfügung stellen.“
„Edler Herr, ich weiß nicht, was ich sagen, wie ich Euch danken soll“, konnte ich nur mühsam hervorbringen.
„Zunächst lass einmal das edler Herr beiseite und sprich mich mit Herr van Dyck an, das ist mir so angenehmer. Dann sollten wir uns nach einem Frühstück gemeinsam auf den Weg machen, um alle erforderlichen Dinge zu regeln.“
„Edler Herr, äh, ich meine Herr van Dyck, ich bin Euch undendlich dankbar.“
Obwohl sich derart viele Gedanken meinem Kopf breit machten, dass ich kaum imstande schien, auch nur einen davon klar zu erfassen, so drängte es sich mir geradezu auf, wie sehr sein angenehmes Äußeres mit seinem Handeln übereinstimmte. Stattlich in der Figur, wenngleich er mich nur wenig überragte und dazu auf das Ordentlichste bekleidet, den Bart gepflegt und die Haltung kerzengerade, gebot man ihm Respekt, ohne dass er ihn einfordern musste.
Wie von Herrn van Dyck versprochen, kümmerte er sich um alles, was es in meinem Leben nun zu regeln galt. Selbstverständlich blieb es mir dabei nicht erspart, nocheinmal in die elterliche Wohnung zurückkehren zu müssen. Reichtümer gab es hier nicht zu entdecken, doch alles weckte die Erinnerung an die geliebten Eltern. Ich nahm meine persönlichen Dinge mit, einige Stücke, die Mutter und Vater stets am Herzen lagen und natürlich die große Anzahl an Büchern, die mein Vater im Laufe der Zeit angesammelt hatte und zum Unterrichten nutzte. All dies ging in wenige Kisten. Den verbleibenden Hausrat, so sagte Herr van Dyck, wollte er nach Möglichkeit gut für mich verkaufen und den Rest, mein Einverständnis vorausgesetzt, an Bedürftige verteilen.
Ja, und so begann ich meine Arbeit im Handelskontor der van Dycks.
Was mich jedoch zunächst verwunderte war die Tatsache, dass dabei weniger meine Fähigkeiten gefragt waren, von denen Herr van Dyck doch anfangs so angetan schien. Lesen, Schreiben oder gar die Fähigkeiten der Mathematik, die waren mir hierbei nicht von Nutzen. Vielmehr schleppte ich Stoffballen von hier nach dort, trug Kisten, die mit Porzellan gefüllt und Säcke, aus denen der Duft fremder Gewürze drang, zu dem für sie bestimmten Platz. Weit mehr als ein halbes Jahr schuftete ich so und kannte somit jede Stelle, wo sich die Muskatnüsse befanden oder Pfeffer und Weihrauch gelagert wurden. In diesem Regal befanden sich die Seidenstoffe, in jenem die aus Leinen. Schleppte ich heute Kisten nach vorne, damit deren Inhalt zu den Häusern der feinen Gesellschaften gelangte, dann schleppte ich morgen wieder Kisten dorthin zurück, um die freien Plätze aufzufüllen.
Weiß Gott, es gab für mich keinen Anlass, unzufrieden zu sein. Pünktlich wie die anderen Mitarbeiter, erhielt ich meinen Lohn und, woran ich schon gar keinen Gedanken mehr verschwendet hatte, an einem Tag einen Beutel voller Gulden, die aus dem Verkauf des Hausrats stammten.
Jeweils zum Abend hin stellte mir die Magd das Essen in die Kammer. Dermaßen feine Speisen, wie ich sie früher daheim nur sehr selten vorgesetzt bekam. Wenn ich Herrn oder Frau van Dyck während dieser Zeit einmal zu Gesicht bekam, erkundigten sie sich sehr höflich nach meinem Wohlbefinden. Hin und wieder nutzte ich diese Gelegenheit, um nach einem der Bücher zu fragen, in dem ich während der Abendstunden bei flackerndem Kerzenschein lesen wollte. Am frühen Morgen, noch bevor ich den Dienst antrat, stellte ich es zurück an seine Stelle und folgte den Anweisungen des Vorarbeiters, schleppte wieder Kisten und Säcke. Nicht, dass ich diese Arbeiten scheute, sie bescherten mir schließlich ein eher sorgenfreies Leben. Nur mit jeder freien Stunde, die ich mich mit den Büchern befasste, wuchs meine Unzufriedenheit. Keineswegs wollte ich undankbar erscheinen und folgte deshalb weiterhin den Anweisungen.
Dabei fiel mir auf, wie sehr Herr van Dyck stets darauf bedacht war, mich seinen Mitarbeitern gegenüber, als Herrn van Houten vorzustellen, wogegen er mir gegenüber häufiger in die Anrede mein Junge verfiel oder mich bei meinem Vornamen nannte.
„Hendrik, Du hast Dich gut gemacht“, sprach mich eines Tages Herr van Dyck an. „Du weißt auf Anhieb, wo welche Waren zu finden sind und kennst Dich aus mit der Lagerarbeit. „Ich denke, es wird Zeit, Deine Fähigkeiten anderswo einzusetzen. Mir schwebt vor, dass Du dich mit den Listen befasst, welche die Warenein- und Ausgänge festhalten und dazu kontrollierst, wo der Schwund entsteht, den wir gelegentlich feststellen müssen. Kannst Du dir das vorstellen?“
„Sehr gerne, Herr van Dyck“, strahlte ich über das ganze Gesicht. „Es ist ja nicht so, dass ich die körperliche Arbeit verschmähe, doch nun darf ich endlich auch mehr meinen Kopf benutzen.“
Mein neuer Arbeitsraum lag nun nicht mehr weit entfernt von dem, welchen Herr van Dyck täglich aufsuchte. Nur hin und wieder machte ich mich noch auf in die Kellergewölbe, wo sich die Weinfässer befanden oder in die Hallen mit den endlosen Reihen an Gewürzsäcken. Immer, um die Unstimmigkeiten auszumerzen, welche gelegentlich in meinen Listen auftauchten. Die entstanden natürlich auch, wenn einer der Arbeiter eine Kiste mit dem edlen Porzellan achtlos neben die Tuchballen stellte oder gar eine davon zu Bruch ging.
Schneller als andere addierte ich endlose Zahlenkolonnen, stellte neue Warengruppen zusammen oder machte Vorschläge, wie das Eine oder Andere vielleicht besser zu handhaben sei. Nun gut, es waren nicht alle meine Vorschläge im Nachhinein betrachtet sinnvoll, doch meine Einsatzbereitschaft nahm man sehr wohlwollend zur Kenntnis. Mein Gefühl täuschte mich nicht, dass Herr van Dyck, nachdem er mich zuvor in den Lagerhallen schuften ließ, doch ein überaus großes Interesse an mir und meinen Fähigkeiten zeigte. So ließ es auch nicht mehr lange auf sich warten, bis Herr van Dyck mir antrug, meine bisherige Kammer gegen größere Räume im privaten Wohnhaus der van Dycks zu tauschen. Aber nicht nur dadurch fühlte ich mich sehr geschmeichelt. Auch die Tatsache, dass ich bei der täglichen Arbeit mehr und mehr zu immer wichtigeren Aufgaben herangezogen wurde, machte mich sehr stolz.