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VIII
ОглавлениеAls ich meine Zigarette geraucht hatte, ging ich an Deck und schlenderte nach vorn, um mir die Arbeit dort anzusehen. Über mir hoben sich die Formen der Segel undeutlich von dem sternenübersäten Himmel ab. Die Segel sollten gemehrt werden, aber es schien sehr langsam zu gehen. – Jedenfalls kam es selbst mir, der doch der reinste Anfänger auf diesem Gebiet war, so vor. Kaum zu erkennende Männergestalten zogen in langem Reihen an Tauen. Sie arbeiteten unter mürrischem, müdem Schweigen, obgleich der allgegenwärtige Pike Befehle fauchte und schwefelstinkende Flüche und Verwünschungen auf ihre sündigen Köpfe hinabschmetterte.
Nach allem, was ich über Seefahrten gelesen hatte, stand unerschütterlich bei mir fest, dass kein Schiff je unter so traurigen Verhältnissen und so vielen falschen Griffen in See gestochen war. Es dauerte nicht lange, so kam auch Mellaire und half Pike, die Leute zurechtzuweisen und zu kommandieren. Es war noch nicht acht Uhr abends, und alle Mann waren an Deck. Es schien, als ob die Leute nicht einmal die Taue kannten. Hin und wieder sah ich einen der beiden Steuermänner auf die Reling springen und den Leuten das richtige Tau in die Hand drücken.
Ich dachte mir schließlich, dass die Männer an Deck die unfähigsten wären. Von oben hörte ich nämlich Rufe und Geräusche, aus denen ich schloß, dass diejenigen, die jedenfalls als etwas befahren gelten konnten, dort oben im Begriff waren, die Segel loszumachen.
Aber an Deck! Zwanzig oder dreißig von den armen Teufeln zogen an einem Tau, um eine Rahe aufzuheißen, aber sie taten es ohne jedes Zusammenspiel der Kräfte und mit peinlich langsamen und schlaffen Bewegungen.
»Alle Mann hieven, alle zugleich, hiev ahoi!« brüllte der Steuermann. Und dann gelang es ihnen mit Mühe, ein paar Fuß weiterzukommen, bis sie wieder stehenblieben. Sobald jedoch einer der Steuermänner hinzusprang und mit seinen Kräften half, ging es ohne Halt über das ganze Deck. Denn waren die Steuermänner auch alte Leute, so wog doch jeder von ihnen ein halbes Dutzend dieser Schwächlinge auf.
»Das ist alles, was heute noch von Seeleuten übriggeblieben ist.« Pike machte eine kleine Pause, um mir das ins Ohr zu fauchen.
»Es ist sonst nicht Sache der Offiziere, hier zu hieven und zu schuften. Aber was zum Deibel soll man machen, wenn die Bootsleute schlimmer sind als die Gasten?«
»Ich dachte, Seeleute singen immer beim Hieven«, sagte ich.
»Tun sie auch. Wollen Sie hören?«
Ich spürte den Spott in seiner Stimme, sagte aber doch, dass ich es gern hören möchte.
»Hör mal her, Bootsmann!« knurrte Pike. »Wach mal auf! Laß singen. Das große Marsfall!«
In der Pause, die jetzt folgte, hätte ich wetten mögen, dass Sundry Buyers seine Hände gegen den Unterleib drückte, während Nancy sich, das Gesicht in unendlicher Hoffnungslosigkeit erstarrt, die Lippen netzte, um mit dem Gesang zu beginnen.
Er war es auch, der jetzt begann, denn ich glaube nicht, dass ein anderer eine so klägliche Begräbnisstimme erhoben hätte. Es klang unmusikalisch und unschön, leblos und unbeschreiblich ungemütlich. Die Worte selbst aber zeigten, dass sie eigentlich vor Feuer und Wildheit brausen und jauchzen sollten, denn was Nancy so wehmütig ableierte, lautete:
»Fern, fern, fern von hier ...
Schöne Stiefel hat Paddy Doyt,
deshalb woll'n wir ihn töten heut ...«
»Halt die Schnauze! Aufhören!« brüllte Pike. »Es ist kein Begräbnislied! Ist denn keiner, der was singen kann? Na man los, das Lied von der Großmarsrahe!« Er unterbrach sich und war mit einem Sprung auf der Finkennetzreling, um den Leuten die falschen Taue wegzunehmen und ihnen die richtigen in die Hand zu stecken.
»Und jetzt los, Bootsmann! Hiev ahoi!«
Aus der Finsternis stieg Sundry Buyers Stimme auf, heiser und hüstelnd und noch schauriger als die Nancys.
»Heißt auf die Großmarsrahe –
Den Whisky her, Johnny!«
Der zweite Vers war ein Kehrreim, der im Chor gesungen werden sollte, aber nur zwei schwache Stimmen fielen ein. Mit zitternder Stimme sang Sundry Buyers die nächste Strophe:
»Am Whisky starb mein Schwesterlein –
Den Whisky her, Johnny!«
Da aber griff Pike ein, nahm das Tauende, das dem Koveinagel am nächsten hing, und erhob seine Stimme, die seltsam fremd und wild klang:
»Am Whisky starb mein Alter auch!
Den Whisky her, Johnny!«
Er sang eine nach der anderen der primitiv-wilden Strophen und versetzte die Mannschaft in solche Stimmung, dass sie ihre Arbeit tat und begeistert den Kehrreim mitbrüllte.
Und solange er seine Stimme hören ließ, waren sie wach und arbeiteten rasch und rührig, bis er den Gesang abbrach und zu belegen befahl.
Im selben Augenblick verließ das Leben sie wie die Luft einen aufgeblasenen Ball. Sie waren wieder wimmernde, wertlose Geschöpfe, die sich gegenseitig im Wege standen, im Dunkeln strauchelten und schwankten und nicht wußten, wie sie ein Tau anfassen sollten. Und wenn sie endlich eines erwischten, war es natürlich ein falsches. Es gab selbstverständlich auch Drückeberger unter ihnen, und einmal hörte ich vom Mittschiffshaus das Klatschen von Schlägen, Flüche und Stöhnen, bis zwei Männer aus der Dunkelheit auftauchten, während Pike ihnen eine Litanei des Unheils vorsang, das sie treffen würde, wenn sie es noch einmal versuchten.
Das Ganze war viel zu entmutigend und trostlos, als dass ich Lust verspürt hätte, länger stehenzubleiben und zu warten. Ich schlenderte deshalb achteraus und stieg auf die Kampanje. In Lee des Navigationshauses spazierten Kapitän West und der Lotse friedlich auf und ab. Auf meinem Wege achteraus sah ich den welken alten Mann, den ich schon früher bemerkt hatte, am Steuerrad stehen. Im Lichtschein des Kompaßhäuschens sahen seine kleinen blauen Augen noch bösartiger aus als sonst. So jämmerlich klein war er und so groß das messingbeschlagene Rad, dass beide von gleicher Größe zu sein schienen. Sein Gesicht war welk, narbig und runzelig, und er wirkte um fünfzig Jahre älter als Pike. Er war ein ausgemergelter Greis, den man sich kaum als befahrenen Seemann auf einem der stolzesten Segler der See vorzustellen vermochte. Später erfuhr ich – natürlich durch Wada –, dass er Andy Fay hieß und nicht mehr als dreiundsechzig Jahre für sich in Anspruch nahm.
Ich lehnte mich in Lee des Steuerhauses an die Reling und starrte in die windumsausten Spieren und die zahllosen Taue hinauf. Nein, entschied ich, nein ... die Reise lockte mich nicht. Die ganze Atmosphäre an Bord war nicht, wie sie sein sollte. Zuerst die kalten Wartestunden auf den Molen. Dann, dass Fräulein West mitgekommen war. Endlich die Mannschaft aus halbverreckten Männern und Irrenhauskandidaten. Ich dachte, ob der verwundete Grieche im Mittschiffshaus vielleicht noch daläge und unverständliches Zeug schwätzte, oder ob Pike ihn schon zusammengenäht hätte ... und mir war ganz klar, dass ich keine Lust verspürte, dabei zu sein, wenn der Steuermann den Chirurgen spielte.
Selbst Wada, der nie auf einem Segelschiff gefahren war, hegte seine Zweifel in bezug auf diese Reise. Ebenso erging es dem Steward, der den größten Teil seines Lebens auf Seeschiffen verbracht hatte. Für Kapitän West kam die Mannschaft ja nicht in Frage. Und Fräulein West war so abscheulich robust, dass sie Dinge dieser Art nur optimistisch betrachten konnte. Sie lebte; ihr rotes Blut sang ihr in die Ohren, dass sie immer leben würde und dass ihrer prachtvollen Persönlichkeit nichts Böses geschehen könnte.
Oh, glaubt mir, ich habe die Wege des roten Blutes kennengelernt. Aber jetzt erschien mir die rotblütige Gesundheit Fräulein Wests tatsächlich als Beleidigung ... denn ich wusste, wie gedankenlos und rücksichtslos das rote Blut ist. Und für mindestens fünf Monate – Pike hatte ja ein Pfund Tabak oder ein Monatsgehalt wetten wollen – sollte ich gezwungen sein, auf einem Schiff mit ihr zu bleiben. So gewiß der Saft, der das Weltall durchströmt, immer und ewig derselbe bleibt, so sicher wusste ich, dass sie mich, ehe die Reise zu Ende war, mit ihren Werbungen belästigen würde. Nicht etwa, dass ich so überzeugt von meiner eigenen Unwiderstehlichkeit wäre, ich hatte nur einen alles eher als erhabenen Begriff von der Frau als Männerjägerin. Nach meinen Erfahrungen mit Frauen machen sie Jagd auf Männer aus dem blinden Naturtrieb, der auch die Sonnenblume zwingt, sich nach der Sonne zu drehen, oder den wilden Wein Flächen suchen läßt, an die er sich mit seinen Ranken anklammern kann.
Nennt mich blasiert – ich habe nichts dagegen, wenn man damit weltmüde im intellektuellen, künstlerischen und gefühlsmäßigen Sinne meint, wie eben ein junger Mann in den Dreißigern es werden kann. Ich war nämlich in den Dreißigern, und ich war müde all dieser Dinge – müde und voller Zweifel. Das war auch einer der Gründe dieser Reise. Ich wünschte, von mir selbst, von all diesen Dingen fortzukommen und dadurch mit ihnen fertig zu werden.
Zuweilen schien es mir, als hätte diese ganze Weltmüdigkeit ihren Gipfel durch den Erfolg meines Schauspiels erreicht – meines ersten Stückes – wie ja alle wissen. Aber es war ein solcher Erfolg geworden, dass mir selbst Zweifel gekommen waren, ganz wie bei dem Erfolg meiner Gedichte.
Jetzt wird man vielleicht zu verstehen beginnen, was ich unter der Weltkrankheit verstehe, die mich ergriffen hatte. Tatsächlich war ich sehr krank gewesen und war es noch. Mich hatte die törichte Idee gepackt, mich von der Welt zu isolieren. Einen Augenblick hatte ich sogar daran gedacht, nach Molokai zu gehen und mein Leben den Aussätzigen zu widmen – ich, der dreißig Jahre alt, stark und gesund war –, ich, der nie etwas Tragisches erlebt, und der schließlich ein Einkommen hatte, dass ich nicht wusste, wohin damit, ich, dem es gelungen war, dank selbständiger Arbeit seinen Namen auf aller Lippen zu bringen!
Vielleicht wird man denken, dass der Erfolg mir einfach den Kopf verdreht hatte. Sehr richtig. Zugegeben. Aber der verdrehte Kopf war nicht aus der Welt zu schaffen, war nicht zu ändern, war eben meine Krankheit, und zwar eine wirkliche Krankheit und eine unabweisbare Tatsache. Ich hatte einen intellektuellen und künstlerischen Wendepunkt erreicht, einen Wendepunkt in meinem Leben. Und ich hatte selbst die Diagnose meiner Krankheit gestellt und mir als Kur diese Reise verschrieben. Und hier traf ich nun diese erschreckend gesunde und in ihrem tiefsten Wesen weibliche junge Dame – Fräulein West. Wahrhaftig das letzte, womit ich gerechnet hatte.
Eine Frau! Der Himmel mag wissen, dass die Frauen mich mit ihren Nachstellungen genug geplagt hatten, um sie gründlich kennenzulernen. Ich überlasse es Ihnen, lieber Leser, zu urteilen: dreißig Jahre alt, von nicht gerade abschreckendem Äußern, mit einem Namen und einem wirklich imponierenden Jahreseinkommen ... warum sollte die Frauen mir da nicht nachlaufen? Selbst wenn ich ein erbarmungswürdiger Buckliger gewesen wäre, würden sie mich allein meiner künstlerischen Position und meines Einkommens wegen verfolgt haben.
Ja ... und die Liebe! Die Liebe? Sollte ich die Liebe nicht kennen – lyrische, leidenschaftliche, verrückte, romantische Liebe? Das alles aber gehörte für mich einer längst vergangenen Zeit an. Natürlich hatte auch ich gezittert und gesungen, geschluchzt und geseufzt – oh, ja, ich hatte auch den Schmerz kennengelernt und meine Toten begraben und beklagt! Aber das lag alles so ungeheuer weit zurück. Wie jung war ich doch damals gewesen – vierundzwanzig erst! Und nach all diesen Erfahrungen war ich zu der bitteren Weisheit gelangt, dass selbst der Schmerz, den man für unvergänglich hält, dass selbst er eines Tages vergeht und verweht. Und dann, ja dann hatte ich wieder lachen können und hatte Liebesspiele gespielt mit den süßen abenteuerlustigen Motten, die um das Licht meines Vermögens und meiner Künstlerschaft geschwärmt waren, und als ich alles das hinter mir hatte, zog ich mich, angeekelt von der Schlauheit und Ränkesucht der Frauen, wieder zurück und stürzte mich in lange und kampfreiche Abenteuer im Reiche des Geistes. Und jetzt war ich also hier, an Bord der Elsinore, aus dem Sattel gehoben bei meinen Zusammenstößen mit den großen Problemen, mit zerschlagenem Schädel fortgetragen vom Schlachtfeld des Geistes.
Während ich mich an die Reling lehnte, versuchte ich mich von den Vorahnungen kommenden Unheils zu befreien. Aber immer wieder kehrten meine Gedanken zu Fräulein West zurück, die dort unten trällernd umherging, eifrig damit beschäftigt, ihr kleines Nest zu bauen. Und von ihr glitten meine Gedanken weiter zu dem ewigen Mysterium der Frau. Ja, selbst ich mit meiner ganzen Verachtung für das Weib, selbst ich wurde doch immer wieder von ihrem nie zu lösenden Rätsel eingefangen.
Oh, nein, ich mache mir keine Illusionen. Die Frau, die Liebessucherin, sie, die Quälende und Besitzende, die Zarte und doch Gewalttätige, Sanfte und doch Vergiftende, die hochmütiger ist als Luzifer und doch, wie er, keinen Stolz kennt, sie übt eine ständige, fast krankhafte Anziehungskraft auf jeden aus, der zu denken vermag. Was für eine Flamme ist es, die all ihre Widersprüche und ihr Unedles durchglüht? Was ist es, das ihr den unbarmherzigen, leidenschaftlichen Drang nach Leben, immer neuem Leben auf diesem Stern eingibt? Es gibt Zeiten, da diese Sucht nach Leben mir frech und schreckenerregend erscheint. Seelenlos. Nein, man entgeht der Frau nie. Wie ein Wilder nach einem tiefen Tale zurückkehrt, wo es Gespenster und vielleicht auch Götter gibt, so kehre auch ich immer wieder zu meinen Betrachtungen über die Frau zurück.
Die Stimme des Steuermanns unterbrach meine Grübelei. Ich hörte ihn vorn auf dem großen Deck fauchen:
»Ahoi, du da, auf die Großmarsrahe! Wenn du die Seising kappst, haue ich dir deinen verfluchten Schädel zu Mus, verstanden?«
Dann hörte ich ihn wieder rufen, aber seine Stimme schien wie verwandelt. Da er auch den Namen Henry rief, verstand ich, dass es sich um den Jungen vom Schulschiff handelte:
»Du, Henry, die Oberbramleesegelrahe! Aber dreh mir die Seising nicht auf, hörst du? Die Rahe entlang und dann ans Drehreep.«
Das riss mich aus meinen Träumereien. Ich beschloß, zu Bett zu gehen. Als ich die Hand nach dem Türgriff des Navigationshauses ausstreckte, hörte ich wieder die Stimme des Steuermanns:
»Aufwachen, ihr Affen! Und ein bisschen willig!«