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DAS GLEICHGEWICHTSSYSTEM

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Jeder Tänzer braucht eine exzellente Balancefähigkeit. Wie sonst sollte es möglich sein, auf der Spitze eines Ballettschuhs tanzen zu können? Der Gleichgewichtssinn basiert zum großen Teil auf der Tiefensensibilität oder Propriorezeption. Die Bezeichnung Propriorezeption liefert einen wichtigen Hinweis. Der Name leitet sich vom lateinischen proprius ab, was „eigen“ bedeutet. In unserem Kontext meint es den Sinn der Eigenwahrnehmung, der uns spüren lässt, wie unser Körper im Raum steht. Die Tiefensensibilität macht es möglich, im Dunkeln, bevor sich der Vorhang hebt und das Licht angeht, auf die Bühne zu gehen, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Sie hilft auch dabei, eine neue Choreografie einzustudieren, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und wirkt unterstützend bei Drehungen und bei der Koordination von Bewegungen, bei denen einzelne Körperteile gleichzeitig unterschiedliche Aktionen ausführen. Tiefensensibilität und Gleichgewicht basieren auf drei Körpersystemen:

1.Vestibuläre Wahrnehmung

2.Motorische Wahrnehmung

3.Visuelle Wahrnehmung

Das vestibuläre System ist im Gleichgewichtsorgan im Innenohr angesiedelt (Abb. 2.4). Es hat zwei Aufgaben: Hören und Tiefensensibilität. Das Außenohr sendet Schallwellen ans Trommelfell, wo die Hörschnecke (Cochlea) die Tonsignale abnimmt und an den Hörnerv übergibt, der sie ins Gehirn weiterträgt.


ABBILDUNG 2.4Anatomie des Ohrs

Das Gleichgewichtsorgan besteht aus halbkreisförmigen Kanälen tief im Innenohr, den Bogengängen, die mit Flüssigkeit gefüllt und mit winzigen Härchen besetzt sind. Sie helfen, bei Drehbewegungen wie Pirouetten oder Fouettés das Gleichgewicht zu halten. Für das Gleichgewicht bei linear ausgeführten Bewegungen sind dagegen die sogenannten Vorhofsäckchen verantwortlich, in denen kleine Kristalle namens Otolithen (Ohrsteine) an den Sinneshärchen sitzen.

Das Innenohr enthält zudem auch den Push-Pull-Mechanismus, bei dem die Bogengänge bei horizontalen Kopfbewegungen gemeinsam das Gleichgewicht regulieren. Der linke Bogengang wird bei Drehungen nach links stimuliert, der rechte Bogengang bei Drehungen nach rechts. In den Bogengängen befinden sich eine Flüssigkeit sowie winzige Härchen, die Flimmerhärchen, deren Signalkoordination dafür sorgt, dass der Kopf aufrecht bleibt. Funktionieren die Innenohrsysteme einwandfrei, kann man Drehungen ohne Probleme üben.

Das zweite wichtige System für Tiefensensibilität und Gleichgewicht – das motorische System – umfasst sensorische Rezeptoren, die zum Halten des Gleichgewichts bestimmte Körperteile stimulieren. Die Rezeptoren sitzen in den Gelenken, Muskeln, Bändern und Sehnen und arbeiten permanent an der räumlichen Orientierung des Körpers. Das Rückenmark überträgt die Informationen der Rezeptoren für die Tiefensensibilität an das Gehirn, damit dieses das Gleichgewicht regulieren kann. Eine schlechte Tiefensensibilität verursacht daher Gleichgewichtsprobleme und somit unkoordinierte und ungenaue Bewegungen. Dies kann zu einer falschen Körperausrichtung und letztlich zu einer Muskelschwäche führen. Folge: Die Verletzungsanfälligkeit ist erhöht.

Das dritte System ist die visuelle Wahrnehmung, die in Koordination mit der motorischen Funktion für effiziente Bewegungen sorgt. Wo fängt man beispielsweise an, wenn man ein neues Stück einer Choreografie lernen will? Ob Sie es glauben oder nicht, aber man beginnt die Schritte schon beim bloßen Ansehen in Nerven und Muskeln zu fühlen, noch bevor man einen einzigen Schritt davon ausprobiert hat. Diese starke Verbindung kommt von der Präzision unserer visuellen Wahrnehmung. Lehrer und Choreografen müssen also ihren Schülern zeigen, was sie lernen sollen, damit bereits durch das Sehen der Lernprozess in Gang gesetzt wird. Unsere Augen sehen die Choreografie und senden unmittelbar Signale an die Sehrinde im Gehirn, wo sie verarbeitet werden. Das passiert schnell und effizient durch spezielle Nervenzellen, die Körperbewegungen, Gleichgewicht und Kopfbewegungen organisieren.

Arbeiten all diese Systeme zusammen, gelingen perfekte Drehungen. Sehr effizient ist hier zum Beispiel Spotting, weil Augen und horizontale Kopfbewegung für optimale Kontrolle miteinander kombiniert werden. Beim Spotting, ohne das man das Gleichgewicht nicht halten könnte, muss man den Kopf schneller drehen als den Körper. Die Augen ruhen dann bis zum Beginn der nächsten Rotation auf einem Fokuspunkt. Der Moment, in dem der Kopf innehält, damit die Augen fokussieren können, erlaubt dem Körper, seine Stabilität zurückzugewinnen, bevor er in die nächste Drehung geht. Schüler müssen unbedingt lernen, den Kopf bei Pirouetten im Lot zu halten. Jede Abweichung von der Senkrechten – egal, ob nach oben, unten oder zur Seite – verwirrt die vestibulären und visuellen Systeme, die dann im Versuch, das Gleichgewicht zu halten, überkompensieren. Um dies zu vermeiden, sucht man sich einen Fokuspunkt und fixiert diesen solange wie möglich, auch wenn der Körper sich bereits dreht. Wenn die Sichtverbindung zu diesem Punkt nicht mehr gehalten werden kann, muss sich der Kopf etwas schneller drehen als der Körper. So können die Augen und das visuelle System den Punkt wiederfinden, um erneut Gleichgewicht und Stabilität herzustellen. Effizientes Spotting lässt sich lernen – der Körper gewöhnt sich daran. Es ist unverzichtbar für Mehrfachdrehungen wie Fouettés und Chaînés.

Alle drei Gleichgewichtssysteme empfangen und senden Botschaften für den Gleichgewichtserhalt vom und an das Gehirn. Sie können Ihr Gleichgewicht verbessern, indem Sie diese Systeme trainieren. Wenn Sie zum Beispiel Balanceübungen auf einem Fuß machen und diese auf einer instabilen Fläche ausführen, regt das die Propriorezeptoren des motorischen Systems dazu an, Botschaften ans Gehirn zu senden, um den Gleichgewichtssinn zu stärken. Führen Sie die Übungen mit geschlossenen Augen aus und schalten damit das visuelle System aus, müssen das vestibuläre und motorische System härter arbeiten. Dieser Effekt lässt sich auch erreichen, indem man mit offenen Augen trainiert, aber ständig von einer Seite zur anderen schaut. Sie können auch Relevé an der Stange mit geschlossenen Augen üben. Achten Sie darauf, in welche Richtung Sie schwanken und wie lang sie das Relevé halten, bevor Sie zur Stange greifen müssen.

Das Gleichgewicht lässt sich kurz gesagt trainieren und weiterentwickeln, um die neuromuskuläre Koordination zu verbessern. Übungen für das Training des Gleichgewichts finden Sie in Kapitel 11.

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