Читать книгу Kālī Kaula - Jan Fries - Страница 26
Vaiṣṇavas, Śaivas und Śāktas
ОглавлениеZu der Zeit, an der wir das Ende des frühen Hinduismus erreichen, waren die Hauptkulte jene von Viṣṇu, Śiva und von lokalen Gottheiten, von denen die meisten weiblich waren. Daher entwickelte der moderne Hinduismus die religiösen Hauptbewegungen namens Śaivas (Anhänger von Śiva) und Vaiṣṇavas (Anhänger von Viṣṇu). Diese Bewegungen waren keineswegs klar definiert, und es gab keine festen Grenzen zwischen ihnen. Stell sie Dir als Vorlieben vor, die vom Temperament abhängig sind: Keine Religion Indiens hat es je geschafft (oder sich darum bemüht) ein einzelnes Dogma zu entwickeln. Viele Anhänger erfreuten sich an beiden Bewegungen oder entwickelten ihre eigene persönliche Version von ihnen. Eine der neuen Ideen dieser Systeme ist es, dass Viṣṇu eine Personifikation von Brahman sein kann und dass die Verehrung von Viṣṇu der Vereinigung mit dem All-Selbst gleichkommt, das seit den Upaniṣaden von so großer Bedeutung war. So wurde Viṣṇu für die Vaiṣṇavas zu Brahman, dem höchsten Prinzip. Dasselbe gilt für Kṛṣṇa. Die Śaivas sahen die Dinge in demselben Licht, nur gingen sie davon aus, dass Brahman tatsächlich in Śiva zu finden ist, der das höchste Prinzip darstellt. Diese Idee wurde zuerst in der Kaivalya Upaniṣad, 16-18, vorgestellt, brauchte aber ein paar Jahrhunderte, bis sie populär wurde:
Er ist das höchste Brahman, das Selbst von allem, die Hauptgrundlage dieser Welt, subtiler als das Subtile, ewig. Das bist du, du bist das. Die Welt, die in den Stadien des Wachens, Träumens und traumlosen Schlafes erstrahlt; im Wissen, dass es Brahman ist, das ich bin, wird man von allen Fesseln befreite. Was auch immer in den drei Stadien des Bewusstseins als Objekt des Vergnügens erscheint oder der Vergnügte oder die Vergnügung - Ich bin anders als sie, der Zeuge (davon), reines Bewusstsein, der ewige Śiva.
Viṣṇu und Śiva nahmen Funktion und Eigenschaften (bzw. Nichteigenschaften und Formlosigkeit) des All-Selbst an, sie wurden das gewaltige unfassbare ewige Bewusstsein, das sich durch das ganze Sein erstreckt. Hier haben wir es mit Religionen zu tun, die auf vielerlei Weise interpretiert wurden. In den Volksreligionen blieben Viṣṇu und Śiva Götter mit Geschichten, Persönlichkeit und Temperament, die angerufen werden konnten, um das Leben leichter zu machen. In eher intellektuell geprägten Kreisen wurden die anthropomorphen Repräsentationen der Götter als nützliche Nebensächlichkeiten betrachtet. So konnten die Götter auf vielerlei Weise verstanden werden, und jede davon ist wahr.
Mit dem Aufkommen der Śiva-Verehrung begannen die lokalen Göttinnen, die Dorfgöttinnen und Göttinnen des Landes an Bedeutung zu gewinnen. Diese Göttinnen waren schon lange Zeit, bevor wir ihnen in der Literatur begegnen, beliebt gewesen. Wie Du Dich erinnerst, kamen schon in den ältesten vedischen Hymnen viele Göttinnen vor. Auch wenn diese längst nicht so häufig gefeiert wurden wie Agni, Indra und Soma, hatten sie ihren Platz in der Welt. Literatur wird üblicherweise von gelehrten Leuten geschrieben, oft von Städtern, die wenig Interesse an den ländlichen Bräuchen haben. Nur wenige Brahmanen kümmerten sich darum, den Glauben der einfachen Bevölkerung aufzuzeichnen, und aus diesem Grunde ist unser Wissen über die Göttinnenverehrung in frühen Zeiten schmerzlich unvollständig. Mit dem Aufkommen der Śaiva-Bewegung begannen einige dieser Göttinnen in der Literatur erwähnt zu werden. Zunächst sind sie nur Partnerinnen von Śiva, der als ihr Herr und oft als ihr Lehrer fungiert.
Wenn Du Darstellungen von großen Śivas mit winzigen Frauen siehst, die auf ihren Knien sitzen, siehst Du ein Beispiel dafür. Wir begegnen hier einer faszinierenden Umdeutung. Das formlose, undefinierte, passive All-Bewusstsein (Brahman) galt ja als Absolute Realität, während die Welt der Form, Materie und Natur (Prakṛti) als Illusion und magische Erscheinung (Māyā) das Gegenstück darstellte. Dabei sahen die Seher der Upaniṣaden keineswegs ein glückliches Paar in den beiden: Brahman war ihnen genug, und alles, was Form, Namen und Identität hatte, war Verblendung und Falschheit und sollte unbedingt abgelehnt werden. Wenn Śiva also dem formlosen Brahman entsprach, wurde seine Partnerin zu einer Repräsentation des Universums, zu seiner Form, Gestalt, Erscheinung und Energie (Śakti). Und hier veränderte sich etwas überaus Wichtiges: die so trügerische Welt der Erscheinungen begann zu einem Teil des Göttlichen oder zu dessen Ausdruck zu werden. Die Göttinnen waren die persönliche Śakti (Kraft, Energie, Macht) ihres männlichen Partners. Damit war, für einige mutige Pioniere, die Welt nicht mehr eine üble Täuschung, sondern direkter Ausdruck des Allbewusstseins.
Offenbar hielten aber manche Menschen die Göttinnen für noch wichtiger als das. Schon in der Hymne an Vāc haben wir einen Versuch erlebt, die Göttin ‘Stimme’ als höchste Kraft im Universum zu preisen. Zwei Passagen im Mahābhārata zeigen, dass Göttinnen wie Kālī, Durgā und Jayā nicht nur verehrt, sondern als Teile einer gemeinsamen Essenz angesehen wurden (siehe das Kapitel über Kālī). Ein paar Jahrhunderte später, um das Jahr 500 herum, hatte sich diese Situation völlig verändert. Eine neue Gruppe von Anhängern war aufgetaucht, die wir heutzutage Śāktas nennen. Diese akzeptierten Viṣṇu und Śiva, bestanden aber darauf, dass der höchste Weg zur Befreiung nur in der Verehrung und Erfahrung der Göttinnen, d.h. Śakti, zu finden ist. Śakti bedeutet Energie und Kraft, ein Begriff, der im indischen Denken auch Form, Materie und Gestalt beinhaltet.
Bild 15
Śiva
Oben: Śiva-Liṅga mit vier Köpfen, Stein, 2. Jahrhundert v.u.Z.
Mitte: Ein schrecklicher Śiva, Messing, Rajasthan, 17. Jahrhundert, 32,5 cm.
Unten: Śivas Stier Nandi (der Frohe), Terrakotta, 2. Jahrhundert v.u.Z.
Diese Kraft kann auf vielerlei Weise verstanden werden. Für die Śaivas ist Śakti die Kraft, aber Śiva derjenige, der sie hat. Da Śiva mit dem formlosen undefinierbaren Brahman gleichgesetzt werden kann, dem alles durchdringenden Bewusstsein der Welten, kann Śakti als die Gesamtheit aller Form, allen Seins, aller Manifestation verstanden werden. Dies formt ein göttliches Paar, das aus formlosen, passivem Bewusstsein (Śiva) und Form, Energie, Erscheinung (Śakti) zusammengesetzt ist. Oder wir haben Śiva als formloses Bewusstsein und Śakti als Bewusstsein in Form. Im Grundmodell der Śaivas ist Śiva das höchste Bewusstsein und Śakti sein Ausdruck. Die Śāktas bestehen darauf, dass Śakti nicht nur Energie/ Materie, sondern auch Bewusstsein ist. In ihrer Weltanschauung ist Śakti das höchste Prinzip. Es ist Śakti, die zur Befreiung führt und es ist Śakti, die Brahman plus alle Götter, Geister und Lebewesen und Dinge erschafft. Du findest Parāśakti (Höchste Śakti) als das absolute Bewusstsein, manchmal, aber nicht immer in Verbindung mit Sadāśiva (Ewiger Śiva). Parāśakti gebärt alles, ihr erstes Kind ist Śiva als formloses Bewusstsein. Śiva erschafft daraufhin Śakti als Bewusstsein, das sich in Form und Energie manifestiert. Aus dieser Śakti heraus kommt das ganze Universum zum Vorschein. Solche Modelle wurden bis zu einem erstaunlichen Grad von erleuchteter Komplexität entwickelt. Nun erscheint Śakti selten als solche. Im Allgemeinen manifestiert sie sich als eine von tausenden Göttinnen der populären Volksreligion. In Südindien liegt die Betonung auf gütigen und artigen Göttinnen, während das nördliche und östliche Indien die Kulte gefährlicher und zerstörerischer Göttinnen entwickelte. Ihre Kulte weisen einige radikale Unterschiede auf, abhängig davon, wie Du Dich der Göttin näherst und was sie mit Dir so anstellt. Aber die Dinge sind noch komplexer. Wie June McDaniel (2004 : 5) so nett zusammenfasst:
Manche Shakta-Traditionen sagen, dass alle Göttinnen Manifestationen derselben großen Göttin sind, Adi Shakti oder Parama Shakti, während andere sagen, dass die vielen Göttinnen getrennt und einzigartig sind, oder manchmal, dass sie Manifestationen eines oder mehrerer Götter sind. Es gibt Shakta-Monismus, in dem alle Phänomene Teile der Göttin sind, deren tiefste Natur Brahman oder das universelle Bewusstsein ist. Es gibt Shakta-Monotheismus, in dem alle anderen Gottheiten Aspekte einer einzigen Göttin sind, die das Universum erschaffen hat. Es gibt Shakta-Dualismus, in dem das göttliche Paar Shiva und Shakti die Urgottheiten sind und Shakti die wichtigere Figur ist, die Mutter des Universums. Es gibt Shakta-Polytheismus, in dem viele Göttinnen große Macht haben und manchmal mit anderen Göttinnen oder männlichen Göttern um Macht und Anhänger kämpfen. Und es gibt Shakta-Henotheismus, in dem viele Göttinnen als legitim anerkannt werden, aber eine die mächtigste ist.
Die Śāktas entstanden als ein Kult, der die göttliche Weiblichkeit verehrte. In ihrer Weltanschauung waren die Götter statisch und passiv (genau wie das Brahman), während die Göttinnen dynamisch, aktiv und lebendig waren. Die Śākta-Verehrung gedieh besonders in Orissa, Kaschmir, Gujarāt, Nordostindien, Bengalen, Assam und dem südlichen Himalaya. Im sechsten oder siebenten Jahrhundert begann die Bewegung nach einem einigenden Prinzip zu suchen, d.h. einer Göttin, die die vielen lokalen Göttinnen verkörpern konnte. Eine solche Göttin wurde einfach Devī genannt, ein Begriff, der wörtlich Göttin bedeutet, von dev-, die Strahlende, Leuchtende, Himmlische. Erstmals taucht sie im sechsten oder siebenten Jahrhundert im Devīmāhātmyam auf. Die Devī zieht Anhänger aus allen Klassen der Gesellschaft an. Viele Westler nehmen an, dass die Devī die verborgene Essenz aller anderen Göttinnen ist, eine einzelne Göttin, die sich in Myriaden von Formen manifestiert. Sozusagen das einigende Prinzip als Essenz aller speziellen Formen. Historisch gesehen war es andersherum. Tausende Jahre lang ist eine große Anzahl von Göttinnen verehrt worden. Jede von ihnen wurde von ihren Anhängern als die größte Göttin gepriesen, so wie jeder Gott als größter Gott von allen gefeiert wurde. Für jeden Anhänger war und ist die persönliche Gottheit die größte von allen. In diesem Sinne war die Devī die Summe aller Göttinnen, aber andererseits war die Devī nur die Manifestation der persönlichen Göttin. Jede Dorfgottheit ist für die Dorfbewohner die größte Göttin, die sich in den anderen Göttinnen und natürlich auch als Devī manifestiert. Ich betone diesen Punkt, weil es noch immer Autoren gibt, die verkünden, es hätte eine einzelne große Göttin (im Sinne eines Monotheismus) in der frühen Vorgeschichte gegeben, die später zu tausenden von separaten Göttinnen (Polytheismus) wurde. Die Göttinnen sind nicht einfach Aspekte einer großen Göttin. Manche Śāktas nannten sie Devī.
Und auch hier gibt es ein interessantes Verständnisproblem. Wenn wir ‚die Göttin‘ sagen, tun wir etwas, was in der indischen Literatur gar nicht möglich ist. Wie Constantina Rhodes (2010 : 19) so schön hervorhebt, gibt es in der Devanāgarī-Schrift ja keine Groß- und Kleinschreibung, wodurch Nomen und Namen nicht unterschieden werden. Daher kann ein beliebiger Begriff auch als Name verstanden werden. Dazu kommt, dass im Saṁskṛta keine definierten und undefinierten Artikel verwendet werden: die Göttin ist also auch eine Göttin und vor allem nur Göttin. Die Idee einer separaten, einzigen, von anderen abgesetzten Göttin ist also in europäischen Sprachen viel tiefer verwurzelt als im indischen Denken. Devī war nur eine Kandidatin. Andere Śāktas hatten eine ähnliche Idee und versuchten, Lalitā als die große Göttin einzusetzen. Oder sie bevorzugten Kālī, Lakṣmī, Tārā oder Durgā. Es gibt keine einzige große Göttin im indischen Denken, aber Du kannst vielen Indern begegnen, die darauf bestehen, dass ihre persönliche Gottheit die größte ist oder alle anderen in sich beinhaltet.
Kommen wir nun zur Verehrung: Die Śākta-Verehrung kann mehrere höchst unterschiedliche Formen annehmen. Sie kann intellektuell oder ungebildet sein. Sie kann still und gelassen sein wie in einer ruhigen Meditation, oder ekstatisch und verrückt wie in den schamanischen Kulten der göttlichen Besessenheit. Sie kann auf obskuren Tantras oder weithin bekannten Purāṇas basieren. Sie kann volkstümliche Verehrung mit Ritual und Opferung sein, sie kann in den höchst raffinierten Riten der inneren (meditativen) Alchemie zum Ausdruck gelangen oder Bhakti sein und extreme Emotionalität und liebende Hingabe verlangen. Oder eine Mischung von allem. Wie Du siehst, ist das Wort Śākta ein sehr loser Begriff, der auf vielerlei Weise verstanden werden kann. Und mit der Erscheinung der Śāktas sind wir glücklicherweise am Beginn der tantrischen Epoche angelangt.
Bild 16
Nandi bei Nacht