Читать книгу Mitternachts-Thriller Sammelband 4001 - Vier Romane um Liebe und Geheimnis Juli 2019 - Jan Gardemann - Страница 16
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Als wir auf unsere Zimmer gehen wollten, nahmen wir aus Versehen den falschen Treppenaufgang und gelangten in einen breiten, weitläufigen Flur, der große Ähnlichkeit mit jenem hatte, an dem unsere Quartiere lagen.
Charles, der Butler, kam uns entgegen und klärte uns über unseren Irrtum auf.
"Gilford Castle ist ein wahres Labyrinth", meinte ich.
Und der Butler zeigte Verständnis.
"Ich verstehe sehr gut, was Sie meinen. In den ersten Jahren hier habe ich mich auch des Öfteren vertan ... Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihren Quartieren ..."
Doch ich blieb stehen.
Mein Blick war geradezu gefesselt von einem der großen Gemälde aus Öl, die an der Wand hingen.
Bei den meisten handelte es sich um Portraits.
Besonders das Portrait eines Ritters hatte mich in seinen Bann geschlagen. Ich blickte in braune Augen und fein geschnittene Züge. Aber in den Augen leuchtete etwas, das mich erschauern ließ. Wilde Entschlossenheit bis hin zu Grausamkeit. Die Hand hielt dieser Ritter fest um den Knauf seines Schwertes.
Ich erschrak.
Das Gesicht ...
Es sah Robert Clayton auf eine Weise ähnlich, die geradezu unheimlich war ...
"Wer ist auf diesem Bild dargestellt?", fragte ich Charles.
"Sir Henry of Gilford, der um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts hier residierte ..."
"Er sieht Robert sehr ähnlich."
"Finden Sie?" Der Butler klang reserviert und kühl, wie stets.
"Von wann stammt das Bild?"
"Oh, ich glaube aus dem 18. Jahrhundert. Im Mittelalter hat man auf diese Weise noch nicht malen können. Soweit ich weiß, hat es der damalige Schlossherr nach einem alten Kupferstich anfertigen lassen, der Sir Henry darstellte ... Eigentlich hat es mal eine Ölgalerie aller Schlossherren bis 1798 gegeben, aber die meisten Bilder fielen einem Brand zum Opfer. Dies ist eines der wenigen, die gerettet werden konnten und bis heute erhalten sind ..."
Ich sah den Butler etwas erstaunt an.
"Sie scheinen sich ziemlich intensiv mit der Geschichte dieser Burg auseinandergesetzt zu haben ..."
"Madam – ich bin ein Teil davon, wenn auch ein sehr später!"
"Ich verstehe."
"An diesem Ort ist die Vergangenheit jederzeit spürbar. Es ist schon so ähnlich, wie Mister McRory heute Abend sagte. Auf gewisse Weise leben die Geister der Toten und an gewissen Orten glaubt man, ihnen näher zu sein ..."
"Und dies ist ein solcher Ort?"
"Zweifellos", erklärte er. "Zweifellos ..."
Wir ließen uns zu unseren Räumen bringen und als wir dort angelangt waren, fragte ich ihn noch: "Was wissen Sie über diesen Sir Henry ..."
"Wissen?", echote der Butler und zum ersten Mal erschien auf seinem Gesicht so etwas wie die blasse Ahnung eines Lächelns. In seinen Augen flackerte etwas auf, das ich nicht zu deuten wusste. "Ich weiß nicht, ob 'wissen' in diesem Zusammenhang das richtige Wort ist, Madam. Ich weiß nur, was über Sir Henry erzählt wird ... Sagen, die in dieser Gegend von Generation zu Generation weitergegeben werden und bei denen schwer abzuschätzen ist, wie groß der geschichtliche Kern wirklich ist ..."
"Erzählen Sie es mir trotzdem. Und sagen Sie mir auch, ob Sie etwas über diese Joanne wissen ..."
Er hob die Augenbrauen.
"Der Vorfall von heute Abend scheint sie sehr zu beschäftigen, Miss Vanhelsing."
"Sie nicht?"
Darauf bekam ich keine Antwort. Stattdessen berichtete mir der Butler von der Legende, die es über Sir Henry und Lady Joanne gab ...
"Sir Henry of Gilford liebte eine junge Lady namens Joanne. Seine Liebe war derart stark, dass sie schon beinahe an einen Wahn heranreichte. Tragischerweise erwiderte Joanne diese Liebe nicht. Sie fühlte sich vielmehr zu Sir Wilfried of Mornsley, den Nachbarn derer von Gilford, hingezogen und wollte ihn heiraten. Sir Henry konnte das nicht verwinden. Er kam mit einer Schar Gefolgsleute, legte Mornsley Castle in Schutt und Asche und tötete Sir Wilfried in einem erbitterten Kampf."
"Und Joanne?", hakte ich nach.
"Sie musste dies mit ansehen und verfluchte Henry über den Abgrund des Todes hinweg, wie es in einer alten Chronik heißt. Sir Wilfried ließ Joanne auf seine Burg führen und gefangen nehmen. Als wenige Monate später die Pest diesen Landstrich heimsuchte, erinnerte sich Sir Henry ihres Fluchs und bekam große Furcht. Er klagte Joanne der Hexerei an und ließ sie hinrichten ... Noch auf dem Scheiterhaufen soll sie ihren Racheschwur erneuert und bekräftigt haben ..." Der Butler atmete tief durch und fügte dann hinzu: "Es ist spät. Sie sollten jetzt zu Bett gehen. Aber wenn Sie Interesse haben und Mr. Clayton es erlaubt, dann werde ich sie gerne in das Archiv von Gilford führen. Es befindet sich unter dem Dachboden und wurde durch meinen vorhergehenden Herrn sehr gut in Ordnung gehalten. Ich habe ihm oft bei der Archivierung assistiert."
"Ich danke Ihnen", sagte ich.
Ich sah ihm noch einige Augenblicke lang nach, bevor er schließlich hinter der nächsten Ecke verschwand.
"Ich frage mich, was wir heute Abend gesehen haben", meinte Jim. "Hast du eine Ahnung?"
"Jedenfalls keinen Zaubertrick à la David Copperfield!"
"Bist du dir sicher?"
Ich seufzte.
Was sollte ich ihm sagen? Dass ich es gewissermaßen wusste? Dass ich die mentale Energie, die von dieser Erscheinung ausgegangen war, geradezu gespürt hatte? Meine seherische Gabe war ein Geheimnis zwischen mir und Tante Lizzy. Und auch wenn Jim und ich uns ziemlich nahestanden, wollte ich ihm doch kein Sterbenswörtchen darüber sagen ...
Niemand sollte davon erfahren, solange das irgendwie möglich war. Schon deswegen nicht, weil die meisten Menschen dann sofort an dem Verstand desjenigen zu zweifeln beginnen, der solche Dinge behauptet. Ich selbst hätte noch vor gar nicht allzu langer Zeit einen solchen Bericht nur mit großer Skepsis zur Kenntnis genommen. Schließlich handelte es sich bei den meisten, die solche Fähigkeiten zu haben vorgaben, in Wahrheit tatsächlich um Scharlatane oder Geldschneider.
Manchmal auch um Psychopathen, die keine andere Möglichkeit sahen, in die Medien zu kommen.
Es hatte eine ganze Weile gedauert, ehe ich diese Gabe hatte akzeptieren können. Tante Lizzy hatte mich immer wieder darauf gestoßen und mir gesagt, dass es keinerlei Sinn machte, die Augen vor den Tatsachen zu verschließen. Ich musste lernen, mit meiner Gabe umzugehen und versuchte es, so gut ich konnte ...
"In einer Beziehung verstehe ich diesen Clayton nicht", sagte Jim dann.
"Wovon redest du?"
"Von diesen ganzen Schnorrern, die seine Burg bevölkern. Bei manchen mag es sich ja um echte Freunde handeln oder um Leute aus der Musikbranche, die er zu diesem Fest eingeladen hat. Aber ich habe mich ein bisschen umgehört. Andere scheinen hier mehr oder minder ihren zweiten Wohnsitz zu haben ..."
"Vielleicht fühlt er sich einsam."
"Robert Clayton?"
"Warum nicht?"
"Das wäre eine Erklärung ... Ich würde mich jedenfalls nicht so ausnutzen lassen ..."
"Ich glaube nicht, dass er das so empfindet, Jim!"
"Wie auch immer. Ich hatte übrigens vor diesem Ted McRory auf den Zahn fühlen, aber ..."
"Aber was?"
"Er war plötzlich verschwunden. Ich konnte ihn nirgendwo auftreiben ..."
Ich sah ihn an. Er hatte Ringe unter den strahlend blauen Augen und ich sah vermutlich nicht besser aus. Es war ein anstrengender Tag gewesen.
"Gute Nacht, Jim", sagte ich.
"Gute Nacht."