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Brigitte

Wegen des Arzttermins war Brigitte an diesem Tag früher aufgestanden, normalerweise schlief sie um diese Zeit noch, aber sie wollte die Erste im Sprechzimmer sein, da sonst die Wartezeiten nicht auszuhalten waren. Daher war es draußen noch ein wenig dämmrig, als sie schon im Wartezimmer saß und sich in einem fort die Augen rieb. „Nehmen Sie noch einen Moment Platz“, hatte die Sprechstundenhilfe gesagt. Warum eigentlich? Sie war die Erste hier, worauf sollte sie denn warten? Bis die Ärztin sich ein Frühstück genehmigt hatte? Oder einen Schnaps, damit sie ihren Job ertragen konnte? „Das wäre nichts für mich“, dachte Brigitte und musste grinsen. Den ganzen Tag nur ekelhafte Krankheiten direkt vor der Nase, davon lag sie mit ihrem Beruf ja meilenweit entfernt. Gut, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, arbeitete sie auch nicht wirklich nah an der Grenze zur klinischen Reinheit, sonst wäre sie auch nicht regelmäßig hier. Aber dennoch: Müllmänner und Frauenärzte rangierten aus ihrer Sicht in Sachen Reinlichkeit noch deutlich unter ihr, und für sie zählte nun einmal nur ihre Sicht.

Sie schaute sich im Wartezimmer um und langweilte sich. Die abgegriffenen „Lesezirkel“ mit ihren Boulevard-Blättern sah sie sich schon lange nicht mehr an. Die Geschichten über die letzten Aktivitäten irgendwelcher Trottel aus irgendwelchen Königshäusern und die neuesten Mutmaßungen über andere Idioten, die die Zeitschriften unerklärlicherweise für erwähnenswert erachteten, ermüdeten sie noch mehr als alles andere. Da war stumpf vor sich hin zu starren noch besser, als sich diesen Unsinn durchzulesen. Sie ließ ihren Blick schweifen, der Raum war gänzlich in öden Pastelltönen gehalten, es gab fleischfarbene Schränke und Anrichten, darauf Vasen mit Plastikpflanzen, die Wände sahen nikotingelb aus, fast so wie die Vorhänge in ihrem Wohnwagen. Dazu schien irgendwo im Zimmer eines dieser Raumdeos versteckt zu sein, denn es roch auffällig nicht nach Arztpraxis, sondern irgendwie künstlich, nach Plastik-Pfirsich oder etwas Ähnlichem. Sie grinste und betrachtete die riesigen Bilder, die überall aufgehängt waren und ausnahmslos Blüten zeigten, die weiblichen Genitalien ähnelten. Ob es dafür wohl einen speziellen Beruf gab? „Guten Tag, darf ich mich vorstellen, ich bin Mösenblüten-Fotograf.“ Dafür musste eine spezielle Industrie existieren, mutmaßte sie, ein vollständiger Geschäftszweig, der weltweit diese lächerlichen Bilder produzierte. Und sobald die Neuigkeit die Runde machte, dass eine neue Blume, eine besonders schöne der Gattung Orchidaceae Vaginaris gesichtet worden war, machten sich Horden von Mösenblüten-Fotografen auf den Weg, um die neue Pflanzenmuschi zu fotografieren und Frauenärzte weltweit damit zu beglücken. Was sollte das überhaupt? Meinte jemand tatsächlich, dass Frauen nicht wüssten, wie sie unten herum aussahen und deshalb mit solchen Bildern aufgeklärt werden mussten? Sollten die Patientinnen schon einmal thematisch eingestimmt werden? Was für ein Unsinn.

Eine weitere Frau betrat das Wartezimmer und nickte Brigitte wohlwollend zu, so als wären sie beide Teil einer gemeinsamen aber hoch geheimen Verschwörung. Brigitte starrte unbeteiligt zurück, und ihr Blick fiel auf das Kind, das an der Hand der Frau lief. Der Junge hätte ein nettes Kerlchen sein können, aber seine Mutter hatte offensichtlich Komplexe und eine Mischung aus Dressman und Perückenständer aus ihm gemacht. Der Kleine konnte gerade eben allein laufen und trug eine für sein Alter völlig abwegige Frisur, die eine Hälfte hochgeföhnt, die andere mit Gel an den Kopf geklebt. Seine Klamotten waren noch grotesker, befand Brigitte nach einem kurzen Blick: Der Junge trug eine Lederhose, die wahrscheinlich ein Vermögen gekostet hatte und ihm in einem Monat nicht mehr passen würde, dazu Turnschuhe einer bekannten Marke und ähnlicher Halbwertzeit, ein Halstuch und einen Pullover mit der Aufschrift: „Minnesota Soccer 1972“. „Wer denkt sich so einen Blödsinn aus?“, dachte Brigitte. Es gab offensichtlich mehr Berufe, als man gemeinhin annahm. Hier war die Ausprägung eines weiteren zu sehen: Texter für schwachsinnige Sprüche auf Kinderpullovern. Sie ignorierte die offensichtlich viel zu stolze Mutter und starrte auf eine Mösenblüte, die ihr ihre Lippen auf unfassbaren drei Quadratmetern entgegenstreckte. In der Zwischenzeit hatte sich das zukünftige Laufstegwunder seiner Mutter entwunden und begann damit, die ausgelegten Zeitschriften in akkurate kleine Fetzen zu reißen und den ein oder anderen davon zu essen. Brigitte dachte sich, dass die Mutter offensichtlich noch schwerwiegendere Probleme hatte als ihren Modetick, denn diese machte keinerlei Anstalten, ihren Sprössling von seinem Tun abzuhalten. Modezombie-Attitüde gepaart mit antiautoritärer Erziehung, das könnte eine interessante Kombination werden, aber Brigitte würde es wahrscheinlich nie erfahren, denn zu ihrem Kundenkreis würde ein derart verzogenes Balg wohl niemals gehören, dem stand der Sinn nach Höherem, da ging unter ein paar richtig großen Scheinen für eine Nummer gar nichts.

Die Lippen verschwammen vor Brigittes Augen, als der Kurze gerade anfing, sein Werk der Zerstörung mit lautem Kreischen und Johlen zu begleiten, aber glücklicherweise wurde sie durch den Ruf der Ärztin erlöst, die ihren Kopf aus dem Behandlungszimmer streckte und sie zur Untersuchung hereinrief. Brigitte folgte nur zu gerne und drückte sich eilig an der Ärztin vorbei, die ihr die erste der Doppeltüren aufhielt.

Im Behandlungszimmer versuchte Brigitte erfolglos, ihre Nervosität zu überspielen. Nicht, dass sie Angst vor der Untersuchung gehabt hätte, es würde schon alles in Ordnung sein, sie hatte keinerlei Anzeichen einer Erkrankung, die letzte Infektion mit Tripper war Jahre her, an das letzte geplatzte Gummi konnte sie sich kaum noch erinnern. Und trotzdem war sie hier auf der Liege mit den Beinstützen nur eine schüchterne Frau, sie fühlte sich mehr als nackt und schämte sich beinahe für ihre Weiblichkeit. Vielleicht lag es daran, dass sie bei der Ausübung ihres Berufs immer die Zügel in der Hand behielt und sie es war, die bestimmen konnte, was passierte und was nicht. Hier war sie hilflos und ausgeliefert, fühlte sich klein und verletzbar und war jedes Mal heilfroh, wenn es vorüber war.

Die Ärztin war freundlich, aber nüchtern und professionell distanziert, Brigitte hatte nicht den Eindruck, dass sie wegen ihres Berufs Vorurteile hatte. Trotzdem wirkte sie ein wenig abwesend, so als wollte sie eher jetzt als gleich mit der Untersuchung fertig sein, und Brigitte fragte sich, ob die Ärztin die Frau mit den Komplexen und dem kleinen Kind genauso behandeln würde. Aber im Gegensatz zu dem, was Brigitte bei anderen Ärztinnen schon erlebt hatte, war das hier das reinste Paradies. Und bei einem Arzt war sie nur ein einziges Mal gewesen. Kälter als seine Hände war nur noch sein Blick, und als er sie fragte, ob sie Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Sexualpartnern betreibe, bildete sie sich ein, er würde sich nicht nur wünschen, dass sie zustimmte, sondern auch, dass sie ihn direkt in die Reihe dieser Partner aufnahm.

Zurück auf der Straße zündete sich Brigitte eine Zigarette an, inhalierte tief und schüttelte sich kurz. Sie zog die Augenbrauen hoch, seufzte und lächelte schon wieder beim Gedanken an die überdimensionalen Blüten im Wartezimmer. Es blieben ihr noch ein paar Stunden bis zum Beginn ihrer Schicht, aber es war noch zu früh, eine ihrer Kolleginnen anzurufen und zu einem gemeinsamen, späten Frühstück abzuholen, daher machte sie zunächst nur ein paar Besorgungen und fuhr dann zurück in ihre kleine Wohnung, um ein wenig aufzuräumen und ihre Katze zu versorgen.

Der Blick aus dem Fenster ihrer Küche ging in einen Innenhof und zeigte ihr täglich nichts anderes als Backsteinmauern und verzinkte Balkongeländer, die erst im letzten Jahr neu angebracht worden waren und im grotesken Gegensatz zur bröckelnden Fassade standen, die sie jetzt zierten. Wenn man den Hals verrenkte, konnte man ein Stück Himmel sehen, aber im Moment war das die Mühe nicht wert, es sei denn, man konnte einem einheitlich-schmierigen Grau etwas abgewinnen. Brigitte setzte eine zweite Kanne Kaffee auf, goss die Blumen und stellte der Katze eine große Portion Futter hin, die für den ganzen Tag reichen würde. Während der Kaffee durchlief, wechselte sie die Katzenstreu aus, wischte die Fensterbänke und brachte ihr Bett in Ordnung. Sie ordnete die Kissen auf dem Sofa neu und rückte an ein paar Bildern herum, die gar nicht schief hingen. In den Wechselrahmen gab es Aufnahmen ihrer Eltern und ihres Sohnes, ein Gruppenfoto mit ihren Kolleginnen und ein paar der Vorgängerinnen ihrer Katze.

Sie füllte die Thermoskanne mit dem Kaffee, kippte das Fenster und rauchte die nächste Zigarette. Durch ihren Kopf zogen Bilder, die sie aber nicht festhielt, sie blickte einfach ins Leere, durch die Mauern der Nachbarhäuser hindurch in eine unbestimmte Ferne. Auf die Frage, ob sie glücklich sei, hatte sie keine Antwort, aber sie stellte diese Frage auch nicht, für sie ging es darum, ob sie zufrieden war, und das war sie. Hätte ihr jemand einen Koffer Geld vor die Tür gestellt, hätte sie die Sachen sofort hingeschmissen, wäre in eine andere Stadt und in eine schönere Wohnung gezogen, aber was dann? Zufriedenheit war für sie nicht das Gefühl, versorgt zu sein, sich um nichts kümmern zu müssen, denn das war gleichbedeutend mit Langeweile. Zufrieden bedeutete, sich keine Gedanken darüber machen zu müssen, ob man in der Lage sein würde, die Miete zu bezahlen, oder aus einem Fenster blicken zu können, das keine schöne Aussicht bot, und sich trotzdem wohlzufühlen. Glück war das nicht, aber was war es dann? Das, was die Plastikmenschen im Fernsehen, diese abgeleckten Arschlöcher, einem verkaufen wollten? Diese Märchen, die sie einem jeden Tag auftischten, in sogenannten Dokumentationen und in den angeblichen Nachrichten? Bestimmt nicht. Es war Jahre her, dass Brigitte eine Zeitung angefasst hatte, und den alten Fernseher hatte sie nicht ersetzt, als er endlich den Geist aufgab. Lediglich einen Film im Kino gönnte sie sich von Zeit zu Zeit, das aber auch nur dann, wenn die Kolleginnen sie mitschleppten.

Das erste Klingeln des Telefons drang nur schwerlich durch den Nebel ihres Tagtraums, sie brauchte eine kurze Weile, um zurückzukehren, drückte die Zigarette aus und nahm den Hörer. Tanja, eine ihrer jüngeren Kolleginnen, wollte sich mit ihr zum Frühstück treffen. Brigitte war plötzlich nicht nach Gesellschaft zumute, aber trotzdem sagte sie zu. Tanja war eine der angenehmeren Frauen, mit denen sie täglich zu tun hatte. Jung und knackig, noch am Anfang ihrer Karriere, trotzdem aber bei Weitem nicht so naiv und blauäugig wie viele, die sie schon hatte kommen und gehen sehen, die meinten, sie könnten das schnelle Geld machen und sich nach ein paar Jahren Arbeit zur Ruhe setzen und nur noch am Strand liegen. Dass sie einen Knochenjob verrichteten, merkten die Mädchen schnell genug, entsprechend hoch war der Durchsatz an neuen Gesichtern und Körpern, aber nur wer seinen Beruf liebte, ihn nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit dem Herz ausführte, konnte so lange bestehen, wie Brigitte es getan hatte. Das erzählte sie zumindest jedem, den es etwas anging, aber wichtiger war, dass sie selbst daran glaubte.

„In einer halben Stunde im Mickys, bis dann.“

Sie legte auf und machte sich daran, die Tasche mit ihrer Arbeitskleidung und ein paar Utensilien zu füllen, die sie nach jeder Schicht mit nach Hause nahm, um sie zu reparieren, zu flicken oder einfach nur fachgerecht zu säubern und auszukochen.

Einige Zeit später war sie bereit und die Tasche gepackt, der Tag konnte zum zweiten Mal beginnen.

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