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Brigitte

Tanja und Brigitte saßen unter einem Heizpilz und mit Decken auf den Knien in einem Straßencafé. Die Temperatur war weit entfernt davon, noch als sommerlich bezeichnet werden zu können, aber Rauchen war im Café verboten, daher saßen sie mit ihren Zigaretten draußen, sahen auf die Straße und unterhielten sich. Brigitte war deutlich älter als Tanja und verglichen mit ihr schon seit Ewigkeiten im Geschäft, aber trotzdem verstanden sich die beiden bestens in einer Art Mutter-Tochter- und Beste-Freundinnen-Beziehung.

„Was glaubst du, ist Toni schon unterwegs?“, fragte Tanja, und Brigitte sah auf die Uhr.

„Bestimmt nicht, der lässt sich von seiner neuesten Eroberung gerade noch ein wenig entspannen“, entgegnete sie.

Beide lachten. Toni war quasi der Vermieter ihrer Arbeitsstelle, er kümmerte sich um ihre Wohnwagen, ließ sie morgens von seinen Gehilfen, die sie auch reparierten, wenn es nötig war, an Ort und Stelle schleppen. Er war aber auch ihr Beschützer und damit derjenige, dem sie am Ende des Tages Rechenschaft ablegen mussten über ihre Arbeit und ihre Einkünfte. Waren sie fleißig, war er glücklich, lief das Geschäft schlecht, ermahnte er sie mit strengen Worten. Trotz allem konnten sie sich glücklich schätzen, Toni zu haben, einen gutmütigen Kerl, solange das Geschäft lief, aber darüber hinaus nicht unnötig hart, so wie viele seiner Kollegen, die sich in den letzten Jahren auf dem Markt breitgemacht hatten. Toni war eine alteingesessene Größe und hatte es verstanden, seiner Konkurrenz die Stirn zu bieten. Waren nach und nach viele Arbeitsplätze zunächst von russischen, dann von asiatischen und später wieder von anderen Gruppen übernommen worden, stand Toni noch immer wie ein einsamer Fels in der Brandung und behandelte seine Mädchen mit einer in diesem Geschäft seltenen und fast unüblichen Fairness.

Am gestrigen Tag hatte Tanja freigehabt und war mit ihrem zweijährigen Sohn im Zoo gewesen, davor hatte Brigitte sich eine Auszeit genommen, um einige Behördengänge zu erledigen, also brachten sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand.

„Weißt du, wer gestern wieder bei mir war?“, begann Tanja. „Dreimal darfst du raten.“

Brigitte legte die Stirn in Falten und tat so, als würde sie angestrengt überlegen. „Der Papst?“

„Nein, nein, der kommt doch nicht mehr, seit er verheiratet ist.“

„Ach so, klar, hatte ich vergessen.“

Sie grinsten.

„Nein, Dildo-Dieter ist wieder zur Höchstform aufgelaufen.“

Brigitte schüttelte den Kopf. „Das ist doch gar nichts, bei dem musst du nachher nur das Geschirr auskochen, aber nicht dich selbst. Ich hatte vorgestern wieder Besuch von so einem Pisser. Kein Sex, nichts, er wollte sich einfach nur ausgiebig entleeren.“

Tanja schloss die Augen und verzog den Mund.

„Natürlich hat er ordentlich gezahlt, aber nachher den ganzen Wagen durchwischen zu müssen, ist es einfach nicht wert.“

Tanja nickte zustimmend. „Irgendwelche Berühmtheiten dabei?“, fragte sie.

Brigitte neigte abwägend den Kopf. „Ich weiß nicht, wahrscheinlich keinen, den du kennst, aber ich hatte den Eindruck, Daggi hätte gestern Besuch von einem hohen Tier gehabt. Irgendein Typ aus dem Stadtrat oder so etwas.“ Brigitte stieß zischend eine Rauchwolke aus.

„Kenne ich, den Kerl, todlangweilig, will immer ohne Gummi und nur anal, eine echte Nervensäge.“

So ging es noch eine gute Stunde weiter, die beiden verstanden sich prächtig und vertrödelten den Vormittag, bis es Zeit wurde aufzubrechen.

In der Zwischenzeit hatte Toni seine beiden Helfer abgeholt. Sie fuhren zu einem abgelegenen Fabrikgelände, auf dem die Wohnwagen der Mädchen über Nacht abgestellt wurden. Tagsüber brachten sie die fahrbaren Unterkünfte auf einen Parkplatz nahe einer stark befahrenen Ausfallstraße, die zu einem Autobahnzubringer führte und täglich Tausende von potenziellen Kunden am Rande der Stadt vorbeischleuste. Die Wohnwagen einfach auf dem Parkplatz stehen zu lassen, war verboten und wäre unerlaubtem Campen gleichgekommen, deswegen mussten die Wagen nachts rechtzeitig entfernt werden und wurden mittags wieder an Ort und Stelle platziert, damit die Mädchen arbeiten konnten. In der Nähe gab es noch einen riesigen Umschlagbahnhof, der Tag und Nacht von Fernfahrern frequentiert wurde, die ebenfalls Bedarf an ihren Dienstleistungen und Gelegenheit für eine kurze Ablenkung hatten, und sich ab und zu auf ihren Parkplatz verirrten. Leider waren die Stellplätze direkt an der Lkw-Route von der Konkurrenz belegt, und das Letzte, was Toni versucht hätte, war, es sich mit den osteuropäischen Kollegen zu verscherzen. Man mochte sich nicht besonders, tolerierte aber das Geschäft des anderen, zumindest für den Moment. Ein paar Hundert Meter weiter gab es außerdem einen Straßenstrich, der fest in der Hand einiger asiatischer Banden war, die fast ausschließlich philippinische Mädchen beschäftigten, aber das sah Toni gelassen, da die Straße eine andere Klientel bediente, eine anonymere, schnelllebigere. Seine Kunden schätzten die Ruhe und die Beständigkeit, die seine Mädchen ihnen boten. Die meisten seiner Mieterinnen, wie er sie nannte, waren schon seit Jahren im Geschäft. Und auch wenn es, gerade unter den jüngeren, ab und zu Wechsel gab, reichte das einer ausreichend großen Gruppe an Stammkundschaft, denen die täglich wechselnde Besetzung an der Straße nicht gefiel. Darüber hinaus bedienten Tonis Mieterinnen Sonderwünsche, die mit einer schnellen Nummer im Auto oder im nahen Waldgebiet nicht abzudecken waren.

Brigittes Telefon meldete sich mit einem nervigen Ton, sie ging ran und hörte zu.

„Okay, dann in einer halben Stunde am Südbahnhof.“

Sie legte auf.

„Toni“, sagte sie in Tanjas Richtung, die nickte, auf die Uhr sah und dann ihren Kaffee herunterstürzte.

„Ich muss noch mal kurz in die Drogerie“, sagte sie beim Aufstehen, „zahlst du eben mit?“

Brigitte nickte und nahm den Schein entgegen, den Tanja ihr hinhielt. Sie lehnte sich zurück, sah auf die Straße und zog die Decke etwas enger um ihre Beine, die nur in einer sehr grobmaschigen Netzstrumpfhose steckten und so gegen die kriechende Kälte kaum geschützt waren.

„Ich hoffe, Toni hat sich um den blöden Brenner gekümmert“, dachte sie bei sich, „eine weitere Schicht bei diesen Temperaturen halte ich ohne Heizung nicht aus.“

Sie griff nach ihrer Tasse und hielt sie in beiden Händen, um ihre Finger ein wenig zu wärmen. Sie blies auf die Flüssigkeit, obwohl sich kaum noch etwas darin befand, und schlürfte dann die letzten Tropfen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es einen Kiosk, eine Post und ein Geschäft mit gebrauchter Kinderkleidung. Vor dem Laden hielt gerade eine Frau mit einem Kinderwagen, in dem ein zeterndes kleines Mädchen saß. Die Frau nahm sie zuerst auf den Arm, wuchtete sie dann auf ihre Schultern und betrachtete die Auslage im Schaufenster des Geschäfts. In ihrem Innern bewahrte Brigitte Abstand von der Situation, sie versuchte, sich nicht mitreißen zu lassen, nahm sich eine weitere Zigarette aus der Packung, konnte den Blick aber trotzdem nicht von der Frau abwenden, die jetzt weiterging, das Kind an den Füßen festhielt und den Kinderwagen mit dem Bauch vor sich her schubste. Brigitte gab sich Feuer und starrte ins Leere, einen Schleier vor ihren Augen. Ihre Familienplanung war vor langer Zeit abgeschlossen, sie hatte ihren Sohn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen und sich daran gewöhnt, allein in ihrer Wohnung zu sein, ihre Katze als einziger ständiger Begleiter, der auf sie wartete, wenn sie mitten in der Nacht nach Hause kam. Und trotzdem hatte ihr die kleine Szene vor dem Geschäft auf der anderen Straßenseite einen kleinen, schmerzhaften Stich verpasst, einen Dorn mit Widerhaken, den sie nie würde ganz entfernen können.

„Was ist los, träumst du? Wir müssen los.“

Mit diesen Worten riss Tanja sie aus ihren wenig erfreulichen Gedanken. Sie schüttelte die erdrückende Vision dessen ab, was ihre Zukunft nie sein würde, setzte ein Lächeln auf und folgte Tanja zum Bahnhof. Sie hatte sich vor Jahren für diesen Lebensweg entschieden, und wie oft sie auch darüber nachdachte, es war die einzige Richtung gewesen, die sie hatte einschlagen können und wollen, ohne sich selbst und das, was sie sich erträumte, zu verleugnen. Stets war ihre Unabhängigkeit das größte und höchste Gut in ihrem Leben gewesen, nichts ging darüber, keine Beziehung, kein Job, kein Geld der Welt. Und so hatte sie sich gegen die Familie entschieden, die diese Bezeichnung nicht verdiente. Sie hatte sich gegen ihre Eltern gewandt, die ihr Fesseln des guten Willens angelegt hatten, nur leider war es nicht Brigittes Wille, der dabei berücksichtigt wurde. Sie hatte sich gegen das normale Leben entschieden, das ihr so beengt und langweilig vorkam, hatte die Nacht mit dem Tag getauscht und die Verwandlung mit ihrem Umzug abgeschlossen. Mit dem Zurücklassen ihres Sohnes, dem Verlassen ihrer Heimat, ihres Elternhauses, ihrer Freunde und ihrer Vergangenheit, hatte sie ein neues Leben begonnen, das ihr jetzt in jeder Sekunde so viel besser vorkam als alles, was sie aus dem alten Leben jemals hätte machen können. Da konnte sie die kleinen Stiche, denen sie in schwachen Momenten von Zeit zu Zeit ausgesetzt war, gut aushalten, weil sie wusste, dass nicht nur der schöne Schein zählte, sondern auch die dunkle Schicht darunter, die mit der Bequemlichkeit der Normalität lockte und doch so gierig jede Freiheit auffraß.

Wirklich frei war Brigitte natürlich auch nicht, der Illusion gab sie sich nicht hin. Sie musste, genau wie jeder andere, am Anfang des Monats ihre Miete bezahlen, auch für sie gab es Kleidung und Essen nicht umsonst. Aber sie war nicht abhängig, sie konnte in ihrem Beruf jederzeit und überall arbeiten, und niemand war abhängig von ihr, abgesehen vielleicht von ihrer Katze. Sie konnte heute aufbrechen und morgen verschwunden sein, und das war mehr, als fast jeder hier und mit Sicherheit viele ihrer Kunden jemals von sich behaupten konnten.

Unmenschen

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