Читать книгу Unmenschen - Jan Holmes - Страница 5
ОглавлениеSven
Eine harte, arbeitsame Nacht lag hinter ihm, als Sven an diesem Morgen endlich nach Hause kam und erschöpft ins Bett fiel. Zuvor jedoch nahm er seine Beute und befestigte sie mit einem Klebestreifen unter dem Küchentisch. In dem kleinen Tresor, den er sich im letzten Monat an die Wand in seinem Kleiderschrank geschraubt hatte und der durch einen Stapel Wäsche verborgen war, bewahrte er nur ein paar unwichtige Papiere auf. Der Tresor diente als reines Ablenkungsmanöver, aber Sven freute sich schon jetzt diebisch über die Augen, die jemand machen würde, wenn er das Ding öffnete. Nicht, dass er vorgehabt hätte, es jemals so weit kommen zu lassen, aber Vorsicht war schließlich immer noch besser als Nachsicht, und ein Joker in der Hinterhand hatte noch niemandem geschadet. Trotzdem war der kleine Metallschrank hinter seinen Hemden nur ein humoristischer Luxus, den er sich gönnte, denn Sven war wahrscheinlich einer der umsichtigsten Menschen, die es jemals gewagt hatten, ihr Geld auf unehrliche Weise zu verdienen. Er hatte immer mindestens zwei Fluchtwege offen, hielt sich ständig den Rücken frei und arbeitete ausschließlich mit Profis zusammen. Witterte er die geringste Möglichkeit eines Risikos, brach er einen aussichtsreichen Job lieber ab, als dass er seinen Arsch hingehalten hätte, wie er es gerne formulierte.
Svens Arbeitstage waren zurzeit eher Arbeitsnächte und begannen, wenn Normalsterbliche bereits den Schlaf der Gerechten schliefen. Üblicherweise stand er nicht vor dem frühen Nachmittag auf, widmete sich einem ausgiebigen, sehr späten Frühstück und einer fast krankhaften Körperpflege und sammelte dann Informationen. Gestern hatte er neues Material von einem seiner Spürhunde bekommen, und nach Sichtung der äußerst vielversprechenden Unterlagen hatte ein Lächeln der Vorfreude um seine Lippen gespielt: Verheiratet, drei Kinder, Beamter im gehobenen Dienst, wohnhaft in einer Kleinstadt, in der er einiges Ansehen genoss. Das machte es umso einfacher. Großstädter, die nicht gerade ein öffentliches Amt bekleideten, waren rücksichtsloser und weniger bedacht auf ihren Ruf. Sollte der Nachbar doch denken, was er wollte. In einer Kleinstadt wirkte das Netz aus sozialer Kontrolle noch besser und effektiver, dort hatte man oft einen Großteil seines Lebens verbracht, war vielleicht sogar dort aufgewachsen oder hatte sich den Ort für seinen Ruhestand ausgesucht, sich ein üppiges Anwesen bauen lassen und plante, sein Alter hier zu verleben. Aus so einem Ort zog man nicht so einfach weg, man würde alles tun, um Schaden von sich und seiner Familie abzuwenden. Kompromittierende Fotos im Schaukasten der katholischen Kirchengemeinde konnten einem angesehenen Polizeibeamten oder dem beliebten Leiter einer Jugendgruppe schon einmal eine Gänsehaut über den Körper jagen. Und natürlich half es nichts, die Fotos schnell verschwinden zu lassen, die Abzüge würden überall sein, in der Post, an öffentlichen Plätzen und Bushaltestellen, am Kiosk und überall sonst, wo sich viele Menschen aufhielten, die nichts Besseres zu tun hatten, als die Neuigkeit zu verbreiten.
Zu gern hätte Sven die Verzweiflung in den Augen seiner Opfer gesehen, hätte ihnen aufgelauert, sie aus dem Augenwinkel beobachtet, wie sie den Umschlag öffneten. Wie sie die Fotos betrachteten, sich dann verstohlen umblickten, ob sie niemand gesehen hatte. Wie sie den Brief überflogen und ihn dann schnell in der Tasche verschwinden ließen, bevor sie langsam die Panik ergriff, ihnen der kalte Schweiß ausbrach und sich die Zukunft vor ihrem inneren Auge in einen flammenden Pfad zur Hölle verwandelte. Sie würden nicht wissen, was sie zu tun hatten. Leugnen konnten sie nicht, die Beweise lagen klar auf der Hand, wegrennen würde auch nichts nützen, denn sie hatten Familie und berufliche Verpflichtungen. Sich der Sache zu stellen und ihre Verfehlung zuzugeben, oder sich ihr feige zu entziehen und das Land oder zumindest die Stadt für immer zu verlassen, waren ebenfalls keine Optionen, denn solchen Kandidaten hätte Sven niemals geschrieben. Seine Recherchen mussten einwandfrei ergeben, dass er es mit Angsthasen zu tun hatte, mit wehrlosen Arschlöchern, denen eine kleine Spende nicht wehtun würde, wenn man bedachte, was sie dafür bekamen: Ihren Frieden, die Rückkehr zur Normalität, die Möglichkeit, ruhig und nicht schweißgebadet aufzuwachen, die Chance, noch einmal neu anzufangen. Und so kam es, dass die einzigen Abzüge, die jemals von Svens Fotos gemacht worden waren, in die Hände seiner Opfer gespielt wurden. Bisher hatte jeder gezahlt, nie musste er einen weiteren Schritt tun und seinen stärksten Verbündeten, die Öffentlichkeit, hinzuziehen. So viel Spaß es ihm auch gemacht hätte, aber in dieser Sache war Sven Ehrenmann: Ein gegebenes Versprechen wurde eingehalten, niemals melkte er dieselbe Kuh ein zweites Mal. Zum einen, weil er es zugesagt hatte, zum anderen fürchtete er, ungeahnte Kräfte in seinen Sponsoren zu mobilisieren, wenn er sein Wort brach. Wenn man es nüchtern betrachtete, war Sven ein Feigling.
Aber selbst eine so unschöne Sache wie Erpressung konnte man sich schönreden, wenn man nicht vollständig auf den Kopf gefallen war. Und das war Sven beileibe nicht, denn sonst hätte ihn schon sein erster Kunde bei den Eiern gekriegt, da war er sich sicher. Natürlich konnte er mit seinem Geschäftsmodell nicht hausieren gehen, aber wenn er eines seiner zahlreichen Selbstgespräche führte, betrachtete er sich gern als eine Art moderner Wohltäter, ein Seelsorger, wenn man so wollte. Er brachte Menschen dazu, auf den rechten Weg zurückzukehren. Er erlegte ihnen eine Buße auf, gab ihnen einen Stoß in die richtige Richtung und trug so zu einer besseren Gesellschaft bei. Er musste selbst grinsen und fletschte die Zähne bei diesen Gedanken.
In der Nacht hatte er seine übliche Runde erledigt und war seinen momentanen Arbeitsplatz angefahren. Er wechselte die Plätze alle paar Monate, den aktuellen bearbeitete er erst seit knapp zwei Wochen, aber das Material, dass er bis jetzt zusammenbekommen hatte, sah schon sehr vielversprechend aus. Sobald er die Bestätigung von seinem ehemals ordnungshütenden Kontaktmann erhalten hatte, konnte die nächste Welle Rechnungen an seine Kunden geschrieben werden.
Wie üblich war er den Großteil der Strecke zu seinem „Einsatzort“ mit seinem Auto gefahren, einem sportlichen, aber dunklen und ansonsten eher unauffälligen Wagen. Ginge es nach ihm, würde er in einer weißen Limousine durch die Gegend kutschieren, aber hier siegte seine Vernunft über die Eitelkeit: Wenn man nicht auffallen wollte, konnte man unmöglich mit einer Maschine vorfahren, an die sich selbst noch ein absoluter Vollidiot mehrere Monate später ohne Mühe erinnern konnte. Er parkte in sicherer Distanz und ging den Rest der Strecke zu Fuß, immer auf den Hut, niemandem aufzufallen. Er tarnte sich als harmloser Spaziergänger, was nicht gerade die einfallsreichste Verkleidung war, aber für jemanden, der sich mitten in der Nacht allein im Wald herumtrieb, war das wahrscheinlich noch die beste Alternative. Er trug dunkle Kleidung, schwere Stiefel und einen Hut mit breiter Krempe, hinter der er seine Augen verstecken konnte. Zu seiner Ausrüstung gehörte neben dem Akku und der Speicherkarte, die er austauschen würde, noch eine technische Errungenschaft, die eher seinem Spieltrieb als wirklicher Notwendigkeit entsprungen war, die er jetzt aber nicht mehr missen wollte: Von einem Bekannten hatte er aus Armeebeständen für einen wahren Spottpreis ein Nachtsichtgerät erstanden, und es bereitete ihm eine diebische Freude, es zu benutzen. Hatte er zunächst daran gezweifelt, dass das Gerät überhaupt funktionierte, hatte er es nach einer Reihe erfolgreicher Tests, die einige verstörte bis zu Tode geängstigte Joggerinnen als Nebenwirkung zeigten, akzeptiert und in sein Arsenal aufgenommen.
Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch über den düsteren Waldweg erreichte er eine kleine Seitenstraße, überquerte sie mit einem schnellen Blick zu beiden Seiten und passierte den gegenüberliegenden Parkplatz. Es war etwa vier Uhr morgens, zu dieser Tageszeit befand sich hier niemand, selbst die Polizei hatte ihre tägliche Kontrollfahrt bereits vor etwa einer Stunde absolviert, wie er aufgrund ausgiebiger Beobachtungen wusste. Er ging weiter, ließ den Parkplatz hinter sich, umrundete ihn auf der einen Seite und schlug sich dann ins Gebüsch, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war. Er legte das Nachtsichtgerät an und schlich auf der anderen Seite noch einmal um den Parkplatz, um wirklich sicherzugehen, dass ihn niemand stören würde. Er war jetzt in unmittelbarer Nähe des Platzes, aber verborgen hinter einer dichten Hecke, selbst am helllichten Tag würde ihn hier niemand entdecken können. Vor ihm reckte sich ein alter Baum in die Höhe, der vor langer Zeit von einem Blitz gespalten worden zu sein schien, und in dem er seine Installation angebracht hatte. Er setzte einen Fuß in den Stamm und zog sich an einem Ast in die Höhe. Ein weiterer Ast war jetzt in Reichweite, er ergriff ihn und stemmte sich zwischen die beiden Hälften des gespaltenen Stamms, um weiter an Höhe zu gewinnen. Er befand sich jetzt etwa 2,5 Meter über dem Boden, sein Blick konnte den Parkplatz und die Autos, die tagsüber und bis in die Nacht darauf parkten, vollständig überblicken. In Augenhöhe befand sich eine Astgabel mit einer Vertiefung, in die er seine Kamera so installiert hatte, dass sie von außen unmöglich zu erkennen war. Durch den oberen Ast war sie vor Regen geschützt, trotzdem hatte er sich ein unglaublich teures, dafür aber angeblich wasserdichtes Modell gekauft, um kein Risiko einzugehen. Er zog den Apparat aus der Vertiefung, der in diesem Moment kaum hörbar klickte, wie er es jede halbe Minute tat, entnahm den Akku und die Speicherkarte und ersetzte beides. Als Nächstes kontrollierte er die Einstellung und verankerte die Kamera dann wieder in der Vertiefung, wo er sie mit einem Stück schwarzem Klebeband zusätzlich fixierte. Noch ein paar Wochen, dann würde es zu kalt sein, denn die Kamera war zwar wasserdicht, aber Frost würde sie bestimmt nicht lange aushalten. Doch bis dahin hatte er mit Sicherheit genug Material gesammelt, um sich mit seinen Geschäften über den Winter zu finanzieren. Schließlich lieferte seine Installation fast 3000 Bilder am Tag, da würde schon der ein oder andere lohnenswerte Kunde dabei sein.
Sven steckte die volle Karte und den fast leeren Akku ein, rutschte langsam vom Baum herunter und machte sich wieder auf den Rückweg, immer darauf achtend, dass ihm niemand begegnete und dass er eine andere Route nahm als auf dem Hinweg. Aber niemand sah ihn, um diese Uhrzeit war diese Gegend immer wie ausgestorben, und trotzdem ließ er seine Vorsicht niemals schleifen, denn er wollte sich noch nicht einmal ausmalen, was gewisse Leute mit ihm anstellen würden, wenn sie ihn nur in die Finger bekämen.
Als er den Parkplatz schon weit hinter sich gelassen hatte, entspannte er sich ein wenig, er steckte die Hände in die Taschen und befühlte die Speicherkarte, die ihm so viel Geld einbringen konnte. Er spielte mit dem kleinen Stück aus Plastik, ließ den Schieber für den Schreibschutz mit seinem Daumennagel hin und her schnappen und freute sich auf sein Bett. Andere Menschen befanden sich zu diesem Zeitpunkt in tiefstem Schlaf und konnten noch ein paar Stunden ruhen, bevor ihr Arbeitstag begann, nicht wissend, dass sich für einige von ihnen dunkle Wolken am Horizont zusammenzogen, verkörpert durch Sven, der gerade grinsend in sein Auto stieg.
Wie erfolgreich die letzte Nacht gewesen war, würde er noch sehen, jetzt musste er erst einmal schlafen, das neue Material konnte er später sichten und auswerten. Er klemmte den Akku der Kamera in die Ladestation und legte sich endgültig hin.