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Meier

Wie an jedem Tag mied Meier die große Pause, um sich nicht durch die Menge an drängenden und schreienden Schülern schieben zu müssen, unter denen es einige gab, die ihn ohne Respekt behandelten, sich gegenseitig schubsten, um ihn anzurempeln, oder ihm Sachen hinterherriefen, die er nicht verstand. Überhaupt hatte er manches Mal das Gefühl, die Schüler kämen aus einer anderen Welt als er. Es war nicht, dass er die Worte nicht verstanden hätte, die meisten kannte er, aber die Sätze ergaben für ihn oft einfach keinen Sinn, er hätte dann später nicht sagen können, worum sich ein Gespräch drehte, das er zufällig belauscht hatte.

Meier räumte das Werkzeug weg, hängte die Zange an das Brett mit den vielen Haken, verstaute die Schraubenzieher ordentlich in einer Schublade und fegte die Späne zusammen, die beim Zurechtfeilen eines Stuhlbeins angefallen waren. Er nahm sich den Rollwagen und hievte sechs Stühle auf die Fläche, um sie in den Werkraum zurückzubringen, in dem offensichtlich Schüler die Werkzeuge an den Stühlen ausprobiert und sie so beschädigt hatten. Er öffnete die Tür, schob den Wagen hindurch, schloss ab und vergewisserte sich durch Drücken und Ziehen der Klinke, dass die Tür auch wirklich zu war. Er schob den Rollwagen mit den Stühlen gemächlich durch das Schulgebäude, den Blick starr auf den Boden vor dem Wagen gerichtet. Vor dem Aufzug stoppte er, drückte den Knopf und wartete, beide Hände am Handgriff des Wagens. Der Aufzug kam, durch das Fenster aus Glas, das mit Drähten verstärkt war, sah er die Metalltür der Kabine sich auffalten, dahinter standen zwei junge Lehrerinnen. Die Tür öffnete sich, die beiden lächelten ihm freundlich zu, aber er schien es überhaupt nicht zu bemerken. Er stellt sich seitlich zum Wagen, hielt die Tür des Aufzugs mit einer Hand auf und schob den fahrbaren Untersatz seiner Last in die Kabine, die dadurch fast völlig ausgefüllt war. Er zwängte sich neben den Wagen, wobei seine Schienbeine schmerzhaft an der mit Stahlrohr umrandeten Ladefläche entlangschrammten und ein Striemen Schmieröl auf seinen Hosenbeinen zurückblieb. Gerade wollte er den Knopf für den zweiten Stock drücken, da fiel sein Blick auf das Metallschild des Aufzugs. Baujahr 1975 war dort angegeben und darunter die maximale Tragkraft von 250 Kilogramm (oder drei Personen). Meier errechnete zunächst, was eine Person im Durchschnitt demnach wiegen durfte, und versuchte dann abzuschätzen, wie viel der Wagen und die Stühle wiegen mochten. Er konnte sich nicht entscheiden und ließ den Wagen im Aufzug stehen, drückte den Knopf für den zweiten Stock, schloss die Tür und eilte die Treppe hinauf.

Im ersten Stock wurde er jedoch durch ein scharfes „Meier!“ aufgehalten. Der Schuldirektor nannte ihn, wie fast alle anderen, nur bei seinem Nachnamen. Meier war dieser Umstand zunächst etwas seltsam vorgekommen, er war es eigentlich gewohnt, dass man sich mit Herr oder Frau Soundso ansprach, aber mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt. So schien es auch den Lehrern gegangen zu sein, denn nach und nach folgten fast alle dem Beispiel des Direktors. Meier hielt also inne und drehte sich um, vor ihm stand der Direktor und sah ihn streng an. Obwohl Meier den Schulvorsteher um einen Kopf überragte, schien dieser in seinen Augen fast bis zur Decke zu reichen und von oben auf ihn herunterzublicken. Meier senkte den Blick, murmelte ein „Guten Tag, Herr Dahl“ und hörte im selben Moment das Scharren und Klacken der Tür der Aufzugkabine, die sich einen Stock über ihnen öffnete.

„Denken Sie daran, die Turnhalle vorzubereiten“, sagte ihm gerade der Direktor, aber in Meiers Kopf drehte sich alles um den blockierten Aufzug. Wie sollten die beiden Lehrerinnen jetzt aus der Kabine kommen? Was wäre, wenn in diesem Moment jemand den Aufzug benutzen wollte? Er würde wütend sein, und der Schuldige war schnell gefunden. Was würde passieren, wenn ein Brand ausbräche? Aber nein, in dem Fall dürfte der Aufzug nicht benutzt werden, das stand ausdrücklich auf der Tafel mit den Vorschriften zum Verhalten im Brandfall, die in jedem Stockwerk deutlich sichtbar ausgehängt waren. „Lampen kontrollieren“, beendete der Direktor gerade einen Satz und bellte Meier an, ob er verstanden habe. Der sah hoch und starrte sein Gegenüber stumpf an, es war, als blickte er durch einen Vorhang aus Nebel, hinter dem sich alles nur in Zeitlupe bewegte. Er hörte, dass er angesprochen worden war, konnte aber den Sinn der Worte, die an ihn gerichtet waren, nicht erfassen.

„Entschuldigung“, begann er, und der Direktor verdrehte die Augen.

„Sie sollen die Turnhalle für die Feierlichkeiten vorbereiten“, wiederholte er hörbar genervt. „Achten Sie darauf, dass die Umkleidekabinen sauber sind, weisen Sie die Putzfrauen an, die Toiletten zu reinigen, kontrollieren Sie die Mikrofone und Lautsprecher, und sehen Sie zu, dass die kaputten Glühbirnen ausgewechselt werden. Haben Sie das verstanden, oder soll ich Ihnen eine Liste machen?“, herrschte der Direktor ihn an und stemmte seine Arme in die Seite.

„Ja, gut“, antwortete Meier und wusste selbst nicht, ob er meinte, dass er verstanden habe oder dass er eine Liste brauche. Herr Dahl schüttelte den Kopf und ließ Meier einfach stehen. Der verharrte wie eingefroren da und bewegte sich erst wieder, als er aus dem zweiten Stock die Frage hörte, was das denn hier für eine Scheiße sei. Das riss ihn aus seiner Lähmung, er drehte sich um und hechtete die Stufen in den nächsten Stock hinauf. Die Frauen hatten sich offenbar an dem Wagen vorbeigezwängt und waren bereits weg, aber vor dem Aufzug stand ein Lehrer und zerrte unbeholfen am Rollwagen, der sich schräg gestellt und in der Kabine verkeilt hatte.

„Ist das Ihr Werk, Meier?“, schnauzte er in dessen Richtung, ließ den Griff des Wagens los und deutete mit der Hand auf das offensichtliche Ärgernis.

„Entschuldigung“, keuchte Meier, „Herr Dahl hat …“ Aber er wurde jäh unterbrochen.

„Herr Dahl hat Ihnen gesagt, Sie sollen den Aufzug blockieren? Das kann ich mir kaum vorstellen.“

„Nein, Herr Dahl hat“, begann Meier aufs Neue, aber weiter kam er nicht.

„Jaja, machen Sie schon, Meier, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, oder meinen Sie, die Schüler unterrichten sich in der Zwischenzeit selbst? Haha“, lachte er über den seiner Meinung nach gelungenen Witz, und Meier zog den Wagen aus dem Aufzug. Der Lehrer war, genau wie der Direktor, in seinen Augen deutlich größer als er, er überragte ihn und konnte ihn mit ein paar Worten zerquetschen, daher dachte Meier auch nicht über eine mögliche Antwort nach. Ihm kam nicht in den Sinn, ihm zu sagen, er hätte in der Zeit, die er damit verbracht hatte, ihn zurechtzuweisen, schon drei Mal zu Fuß in seinem Klassenzimmer sein können. Er dachte auch nicht daran, dem Lehrer zu entgegnen, das Benutzen des alten und langsamen Aufzugs dauere in jedem Fall länger als das der Treppe, und erst recht fiel ihm nicht ein, ihn zu fragen, was ein Idiot wie er Schülern denn schon beibringen könne, außer vielleicht, ihnen zu zeigen, wie man einen einfachen Rollwagen durch dämliches Herumgezerre in einem Aufzug verkanten konnte. Das alles dachte und sagte Meier nicht, er schämte sich vielmehr für seine Unachtsamkeit und die Unannehmlichkeiten, die er dem Lehrer verursacht hatte. Ein paar Schüler hatten die Szene beobachtet, sie grinsten, schüttelten den Kopf, zeigten auf Meier und machten eindeutige Gesten, aber Meier nahm sie nicht wahr, er schob nur den Rollwagen zum Werkraum und versuchte, sich daran zu erinnern, was der Direktor eben noch von ihm gewollt hatte.

Auf halbem Weg zum Ziel kam ihm eine junge Lehrerin entgegen.

„Machen Sie sich nichts draus, Herr Meier“, sagte sie, hielt an und legt ihre Hand auf seinen Arm. Meier erschrak, blickte zuerst ihre Hand und dann die Lehrerin an.

„Ich habe mitbekommen, wie dieser Kerl sie behandelt hat“, sagte sie und lächelte ihn an.

„Ach das“, sagte Meier. „Ich hatte den Aufzug blockiert.“

„Trotzdem hatte er kein Recht, Sie so anzugehen“, entgegnete sie und ließ ihn endlich los. Meier blickte auf seinen Arm und die Stelle, an der ihre Hand eben noch gelegen hatte. Er spürte nach wie vor die Wärme ihrer Finger, was eigentlich ein schönes Gefühl war, aber trotzdem war er froh, dass sie ihn losgelassen hatte, die Berührung hatte ihn erschrocken.

„Manche Menschen können sich selbst nur dann gut fühlen, wenn sie dafür sorgen, dass es anderen schlechter geht“, sagte die Lehrerin jetzt und strahlte Meier immer noch an. Er überlegte, worauf sie damit anspielen mochte, schob die Worte erfolglos in seinem Kopf hin und her, verstand aber, dass es nicht böse gemeint sein konnte. Er blickte ihr wieder ins Gesicht, sie sah freundlich aus, zeigte schöne, gleichmäßige Zähne und trug einen Pferdeschwanz, fast hätte man sie für eine Schülerin halten können.

„Ja“, entgegnete Meier und wusste eigentlich nicht, was er sagen wollte.

„Danke“, fuhr er fort, „ich muss die Stühle wegbringen.“

„Tun Sie das, Herr Meier, einen schönen Tag“, entgegnete sie und nickte ihm zu.

„Danke, gleichfalls“, antwortete Meier und setzte sich wieder in Bewegung, ihre Aussage über den Lehrer, der ihn ausgeschimpft hatte, immer noch im Kopf.

Meier betrat den Werkraum, roch den Leim der Holzarbeiten und das Schmieröl der Kreissäge und wunderte sich erneut, warum der Raum im zweiten Stock lag und nicht im Erdgeschoss, wo man die schweren Materialien viel leichter anliefern könnte. Er lud die Stühle ab und füllte die Lücken in den Reihen vor den schweren Tischen, deren Platten von jahrelangem Handwerken erzählten. Er setzte sich auf einen der gerade reparierten Stühle und ließ seine Hand über den Tisch gleiten. Aus Angst, beim Faulenzen erwischt zu werden, stand er kurz darauf aber schon wieder auf und schob den Rollkarren aus dem Raum. Was hatte der Direktor noch über die Turnhalle gesagt? Meier wusste, dass Feierlichkeiten zum Jubiläum der Schule anstanden und die Turnhalle vorbereitet werden musste. Eigentlich sollte in der Aula gefeiert werden, aber bei einem Gewitter vor ein paar Wochen war ein Baum auf das Dach gestürzt und Wasser eingedrungen, so dass die Aula komplett geräumt und saniert werden musste und immer noch nicht wieder zur Verfügung stand.

Da er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, nahm Meier sein Notizbuch aus der Brusttasche der Latzhose und suchte den Direktor, um ihn noch einmal zu fragen, was zu tun war, und sich dieses Mal alles zu notieren. Lieber ließ er die Peinlichkeit eines erneuten Nachfragens über sich ergehen, als die Wut des Direktors zu riskieren, wenn er gar nichts oder vielleicht sogar das Falsche tat. Er ging zum Büro im obersten Stock, sah aber schon daran, dass die schwere Tür verschlossen war, dass der Direktor wahrscheinlich in einer Besprechung saß. Also marschierte er ins Sekretariat und fragte, wann Herr Dahl verfügbar sein würde.

„Worum geht es denn?“, fragte die Sekretärin abwesend, und Meier berichtete, dass er etwas in der Turnhalle zu erledigen habe, aber nicht genau wisse, was zu tun sei. Die Sekretärin hörte kurz auf zu schreiben, sah Meier über den Rand ihrer schmalen Brille an und sagte: „Umkleidekabinen säubern, Toiletten reinigen, Mikrofone und Lautsprecher kontrollieren, Glühbirnen auswechseln.“ Meier staunte nicht schlecht, zückte sein Notizbuch und schrieb sich alles auf.

„Vielen Dank“, sagte er, führte die Hand zur Stirn und wandte sich zum Gehen, während die Sekretärin hörbar ausatmete und sich dann wieder um ihr Schriftstück kümmerte.

Nachdem Meier den Rollwagen wieder verstaut hatte, packte er Kabel und Zangen, Glühbirnen und ein bisschen Werkzeug in eine Tasche und machte sich auf den Weg zur Turnhalle. Unterwegs kam ihm eine Gruppe Schüler entgegen, Meier hatte fast alle von ihnen schon mehrmals gesehen und wusste, dass sie aus den älteren Jahrgängen stammten. Rauchen war auf dem Schulgelände streng verboten, und trotzdem reichten sie verstohlen eine Zigarette hin und her, inhalierten hastig und bliesen den Rauch nach unten, um ihn dann mit den Händen hektisch auseinanderzuwedeln. Die Gruppe bestand aus zwei Mädchen und fünf Jungen, die sich offensichtlich bemühten, bei ihren weiblichen Begleiterinnen besonderen Eindruck zu schinden. Meier hatte sich nie an Spielen dieser Art beteiligt, aber trotzdem fiel ihm das seltsame Verhalten der Jungen auf, die ständig versuchten, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, lauter riefen und lachten als die anderen, diese unterbrachen und immer höflich zuhörten, sobald eines der Mädchen etwas zu sagen hatte. Eine der beiden war Meier schon des Öfteren aufgefallen, sie wirkte reifer als ihre Mitschüler, war nicht so hektisch und schien ihren Körper bereits besser zu kennen als die anderen, die sich immer noch ausprobieren mussten, umhersprangen und überschüssige Energie loszuwerden hatten. Bei ihr war das nicht so, sie ruhte offenbar in sich, bewegte sich langsam und elegant, schwebte beinahe mit getragenen Schritten, während die Jungs um sie herum wie tollpatschige Affen anmuteten, die ihr in den Weg stolperten und unartikulierte Laute von sich gaben. „Hey, Meier“, rief jetzt einer von ihnen übermütig und im Versuch, besonders lustig zu sein. Er lachte und schlug einem seiner Mitschüler auf die Schulter, dabei die Mädchen verstohlen beobachtend, sicher, einen besonderen Treffer gelandet zu haben. Meier hob die Hand zum Gruß und betrachtete die Frau in ihrer Mitte, sah die Reflexe auf ihrem langen, leicht gewellten Haar, das über ihre Schultern floss, und bewunderte ihre glatte Haut, die offenbar niemals von einem Pickel verunstaltet worden war. Die anderen Figuren neben ihr verschwammen zu einer lauten, nervenden Posse, die johlend umeinandertobte, rund um ihren ruhenden Mittelpunkt, der jetzt Meier ansah und ein freundliches „Hallo“ in seine Richtung hauchte. Meier beeilte sich weiterzukommen, er nickte und war zum Glück schon an der Gruppe vorbei, bevor er errötete.

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