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2.3 Postmodern notwendig: Die transversale Vernunft als innerer Kompass dieser Studie
ОглавлениеWelsch hält im Unterschied zu Lyotard jedoch daran fest, dass man sich mit dem festgestellten Dissens der Paradigmen keineswegs zufrieden geben kann, sondern vielmehr „Dissensklärung das letzte Ziel“ darstellt.33 Für ihn ist gerade die Vernunft das Medium der Austragung von Paradigmenkonflikten, denn:
„In ihrem Horizont treten diese Konflikte ja allererst auf, und nur durch Reflexion von Grenzen, Verflechtungen und Übergängen sind sie zu lösen.“34
Voraussetzungen für derartige Übergangsmöglichkeiten zwischen den Paradigmen liegen in deren eigener Konstitution. Maria Widl fasst die Überlegungen Wolfgang Welschs dazu zusammen:
„Bei aller […] Unverrechenbarkeit und Unvereinbarkeit verschiedener Paradigmen sind diese dennoch nicht absolut heterogen, sondern haben bereits durch ihre Entstehung vorgebildete Brücken. Diese sind einerseits binnensektorielle Verflechtungen – Paradigmen bildet [sic] sich stets in Abhebung und Gegenzeichnung von anderen aus und bleiben so von ihnen bis zu einem gewissen Grad gegenabhängig. Andererseits zeigen sich transsektorielle Verflechtungen – ein Paradigma bezieht seine Grundlagen und Überzeugungskraft weitgehend nicht aus sich, sondern aus anderen Bereichen; was nur in sich selbst überzeugend wäre, ist psychotisch, idiotisch, egomanisch. Paradigmen sind also in und trotz ihrer Unverrechenbarkeit interparadigmatisch verfasst, sie bilden ein netzartiges Gefüge aus. In ihnen kommt es allerdings zu laufenden Sinnverschiebungen. Entsprechend braucht es Denkformen, die von vornherein sowohl mit Verflechtungen als auch mit Irritationen rechnen und ihnen gewachsen sind – eine transversale Vernunft.“35
Diese Grundlegung der transversalen Vernunft wirft die Frage nach deren Praxis auf: Wie operiert eine transversale Vernunft, wenn sie Brücken zwischen den Paradigmen schlägt? Wolfgang Welsch gibt eine philosophische, Maria Widl in Ableitung davon eine praktisch-theologische Antwort. Für Welsch macht die transversale Anlage der Vernunft klar, dass die Vernunft an sich keine statische, ortsgebundene Größe, sondern „wesenhaft prozessual ist und in Reifizierungen nur verfehlt werden könnte.“36
Welsch beschreibt diesen Prozess wie folgt:
„Transversale Vernunft nimmt Funktionen von Urteilskraft in mindestens vier Hinsichten wahr. Erstens gibt sie an, welchem Rationalitätstypus eine Gegenstandsfrage zuzuordnen ist. […] Zweitens ist transversale Vernunft ein Vermögen der Findung von Übergängen. „Findung“ soll dabei anzeigen, daß die Übergänge nicht aus einem Gesamtsystem deduziert werden können, sondern entdeckt werden müssen. In dieser Schicht hat transversale Vernunft viel von einem Spürsinn […]. Drittens reflektiert transversale Vernunft Gemeinsamkeiten zwischen Rationalitätstypen, z.B. Gemeinsamkeiten analogischer Art, also Gemeinsames, das als solches gar nicht mehr eindeutig angebbar, sehr wohl aber in seinem Entsprechungscharakter durch Urteilskraft erfaßbar ist […]. Transversale Vernunft stellt dabei die Ähnlichkeit der Verfahrensweise fest, die sie im einen und im anderen Gebiet praktiziert. Gerade darin erweist sie sich als das eigentliche Verbindungsglied der Rationalitäten. Und viertens ist transversale Vernunft als Urteilskraft auch dort tätig, wo sie bei Konflikten zwischen heterogenen Ansprüchen eine Analyse dialektischer Art vornimmt und darin die jeweiligen Rechtsgründe differenziert, prüft und abwägt – und das nicht nur hinsichtlich ihrer Vergleichbarkeit, sondern auch ihrer Unvergleichbarkeit.“37
Es geht der transversalen Vernunft also nicht um ein harmonisierendes Vorgehen, das Unterschiede einebnete, sondern um die Aufdeckung gemeinsamer Grundlagen bzw. Rationalitäten, welche die Paradigmen verschränkbar machen, ohne sie jedoch zu vereinheitlichen. Hierbei wird somit nicht ein Paradigma zum Maßstab des anderen erhoben, was zudem der Gerechtigkeitsoption widerspräche, vielmehr wird die Verwiesenheit beider Paradigmen aufeinander offenkundig. Das Ergebnis bedeutet eine Rationalitätsform, welche beiden Paradigmen inhärent ist, jedoch in keinem der beiden ganz aufgeht und verwirklicht ist. Dies führt Welsch mittels folgender Äußerungen weiter aus:
„Transversale Vernunft realisiert Einheit allein in einer auf Übergängigkeit bezogenen, damit aber grundsätzlich an Diversität festhaltenden Form.“38
Und:
„Sie leistet Kommunikation, ohne Hegemonie zu verfügen, und sie exponiert Differenzen, ohne Brücken abzubrechen. Transversale Vernunft operiert in einem Zwischenbereich, wo derlei Einseitigkeiten nicht favorisiert, sondern korrigiert werden. Sie knüpft Verbindungen, ohne Einheit zu erzwingen, sie überbrückt Gräben, ohne das Terrain zu planieren, sie entfaltet Diversität, ohne alles zu fragmentieren.“39
Damit gibt sich die transversale Vernunft mit der Vorläufigkeit nicht endgültig zu vereinigender bzw. harmonisierender Paradigmen zufrieden. Sie bedingt zudem eine Kommunikationsform, welche das Ermöglichen eines inhaltlichen Brückenschlags intendiert. Zugleich beinhaltet sie dabei eine Korrektivfunktion für manches, schon immer für unhintergehbar Gehaltene eines Paradigmas. Durch solch vielschichtige Korrektivtätigkeit schafft sie umso mehr die Grundlage für Gerechtigkeit und gegenseitige Verbindlichkeit, deren sich deshalb beide Paradigmen verpflichtet wissen können, weil sie aus der gemeinsam grundlegenden Rationalität abgeleitet ist.
Praktisch meint das Vorgehen der transversalen Vernunft, vorletzten Festlegungen den Vorrang vor einer mitunter konflikthaften, unvermittelten Existenz verschiedener Paradigmen einzuräumen. Rigorismen werden darin als „Überstabilisierungen“ entlarvbar.40 Theologisch kann dieser Vorzug der transversalen Vernunft für Vorläufigkeit und Begrenztheit durchaus mit dem eschatologischen Vorbehalt korrelieren.
Als praktisch-theologische Kriterien lassen sich aus diesen philosophischen Definitionen folgende Wegmarken ableiten, die Maria Widl unter Bezugnahme auf Rudolf Englert wie folgt erfasst:
• „Ein Paradigma wird von seinen Stärken her beurteilt.
• Es wird dazu in seinen eigenen Wertmaßstäben erfaßt.
• Konstruktive Kritik eröffnet ihm bisher verstellte Perspektiven.
• Diese wirken in den bisherigen Verengungen befreiend.
• Dieser Vorgang braucht und eröffnet Räume des Vertrauens.
• Ein mit Blick auf den gemeinsam bezeugten dreieinigen Gott so geführter Widerstreit über die je eigene Perspektive von Glaube, Hoffnung und Liebe ist kirchenkonstitutiv.“41
Konkret für die innere Logik unserer Studie bedeuten diese philosophischen und praktisch-theologischen Kriterien: Die Verschränkung der Paradigmen (welche sich in Teil I und Teil II 1 gemäß ihren Wertmaßstäben dargestellt finden) ergibt sich, indem in der Rückführung auf eine bereits angelegte gemeinsame Grundlegung beider Paradigmen (hier konkret die Zugehörigkeit zum Volk Gottes) in der konstruktiv-kriteriologischen Erweiterung dieses Gemeinsamen die Stärken wie die Schwächen beider Paradigmen anschaulich werden (Teil II 2+3). Die gemeinsame Grundlegung wird in ihrer nunmehr erweiterten kriteriologischen Substanz (hier die Volk Gottes-Berufung gemäß dem II. Vatikanum) sodann zum Ausgangspunkt für praktisch-kirchenkonstitutive Überlegungen (Teil III), welche nicht in der Rückführung auf die Gültigkeit nur eines Paradigmas bestehen dürfen. Letztere kirchenkonstitutive Überlegungen erweisen sich ihrerseits wiederum transversal, da sie den ebenfalls zuvor transversal ermittelten Berufungsbegriff des II. Vatikanums als neues Paradigma mit dem Paradigma der Lebenswelten und Suchbewegungen heutiger Menschen zu verschränken suchen.
Die Transversalität in ihrer philosophischen Grundlegung wie praktischtheologischen Rezeption eignet sich somit für die Bearbeitung der aufgeworfenen Fragestellung in nahezu idealer Weise.42 Innerhalb der sich unten anschließenden methodischen Grundlegung unserer Studie ergibt sich diese Konzeption gleichsam als erkenntnisleitender Navigator. Denn Gemeinde- und postmoderne Volkskirche erweisen sich zum einen in der Praxis und mehr noch in deren empirischer bzw. theoretischer Wahrnehmung als heterogen-verschiedene Paradigmen, welche nicht ohne weiteres harmonisiert werden können. Es ist zudem praktisch die Unmöglichkeit evident, das eine Paradigma des Christseins zum Maßstab des anderen zu machen, ohne dass man ein hohes Maß von Frustration und Konflikten dafür in Kauf nehmen müsste. Daher zeigt sich das postmoderne Konzept der transversalen Vernunft als hilfreich, über eine Verschränkung der Paradigmen (nochmals: nicht über eine konflikthafte Einebnung oder Harmonisierung) zu praktikablen Zugängen zu gelangen, welche aus der hinter beiden Paradigmen stehenden Rationalität ableitbar sind.
Der nun herzuleitende praktisch-theologische methodische Dreischritt entspricht dabei einem transversal angelegten Erkenntnisinteresse in optimaler Weise.