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2.2 Form-Funktions-Relationen im Deutschen, Niederländischen und Russischen
ОглавлениеUm herausarbeiten zu können, welche sprachlichen Mittel in den hier untersuchten Sprachen als Indikatoren für semantische Relationen fungieren, werden im Folgenden die dem Deutschen, Niederländischen und Russischen zugrundeliegenden Kodierungsprinzipien skizziert. Die Gegenstandsbeschreibung bezieht sich dabei ausschließlich auf aktivische transitive Aussagesätze, bestehend aus zwei Nominalphrasen sowie einem finiten Verb. Vorausgesetzt wird hierbei, dass solche Strukturen eine kausale Relation zwischen einem Agens und einem Nicht-Agens umfassen (vgl. Givón 1995). Bevor die Relation zwischen Inhalt und Form genauer betrachtet wird, steht zunächst die oberflächensprachliche Struktur im Fokus.
In der Einleitung wurde bereits erwähnt, dass das Niederländische und Russische von zwei maximal unterschiedlichen Möglichkeiten zur Kennzeichnung semantischer Relationen im Satz Gebrauch machen, nämlich der Wortstellung und den Kasusmarkern. Im Deutschen finden sich aus unterschiedlichen Gründen beide Kodierungsformen. Was die drei Sprachen verbindet, ist eine einheitliche Basiswortstellung.
Die in der Greenberg’schen (1963) Tradition stehenden Bemühungen, Erkenntnisse zu Wortstellungsvariabilitäten und -regularitäten systematisch weiterzuentwickeln, mündeten in die Diskussion, warum spezifische Wortstellungsmuster häufiger vorkommen als andere. Van Everbroeck (2003) zeigt in diesem Zusammenhang, dass sich in den meisten (bekannten) Sprachen spezifische Basiswortstellungsmuster ausmachen lassen, die letztlich auf drei dominante Strukturen eingrenzbar sind. So haben 51 % der untersuchten Sprachen der Welt die Basisabfolge Subjekt-Objekt-Verb (SOV), 23 % SVO und 11 % VSO. VOS kommt in nur 8 % der Sprachen vor, die übrigen Varianten (OSV, VOS) liegen bei unter 1 % und sind damit als Einzelfälle einzustufen. Auch Hawkins (1983) und Tomlin (1986) verweisen darauf, dass die meisten Sprachen auf die Abfolge SOV, SVO und VSO einzugrenzen sind, wobei Tomlin die Muster SOV und SVO als äquivalent betrachtet. Lässt man die Position des Verbs außen vor, zeigt sich, dass in der überwiegenden Mehrheit der Sprachen der Welt die Basiswortstellung Subjekt vor Objekt (S>O) dominiert. Dryer (2013) zufolge ist diese Abfolge die dominanteste Struktur in den meisten bisher untersuchten Sprachen (über 80 %). Die Abfolge von S>O stellt letztlich eine sprachübergreifende universelle Tendenz dar. Der umgekehrte Fall (O>S) ist zumindest in der Basiswortstellung deutlich seltener anzutreffen.
Die Frage ist, nach welchen Kriterien einer Sprache ein Basiswortstellungstyp zugewiesen wird. Zu den wichtigsten Kriterien, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, gehören die Vorkommenshäufigkeit (Dryer 1995, Hawkins 1983, Tomlin 1986), die pragmatische Neutralität (Pullum 1977; vgl. für einen Überblick auch Mithun 1992) sowie die Interaktion zwischen Satzstruktur und Satzprosodie (Höhle 1982) und besonders auch die Diskussion um Thema-Rhema- beziehungsweise Fokus-Topik-Relationen (Reis 1993). Pragmatische Neutralität meint in Pullums Sinn den Gebrauch einer Struktur, deren Auftreten in einem kontextfreien Rahmen, also diskursinitial wahrscheinlich ist (vgl. Pullum 1977: 266). Ohne an dieser Stelle im Detail auf die diesen Kriterien anhaftenden Diskussionen eingehen zu wollen, lässt sich Basiswortstellung als eine in einer Einzelsprache am häufigsten vorkommende pragmatisch sowie prosodisch unmarkierte (oder ‚neutrale‘) Struktur definieren. Dass Vorkommenshäufigkeit überhaupt als definitorisches Kriterium angewendet wird, weist zugleich darauf hin, dass der Gebrauch anderer Strukturen möglich, jedoch besonders deshalb selten ist, weil er an kontextuelle Faktoren gebunden ist.
Die funktionale Sicht auf die sprachübergreifende Tendenz, S vor O zu realisieren,1 umfasst unterschiedliche Erklärungen. Die Kognitive Grammatik argumentiert dabei im Sinne des Givón’schen Ikonizitätsprinzipis und nimmt an, dass ein (meist belebtes) Agens in der Regel als Handlungsausführender auf ein (meist unbelebtes) Patiens einwirkt. Diese kausale Relation (AGENS → PATIENS) bildet aus einer kognitiv-funktionalen Perspektive eine kanonische Handlungsstruktur ab (Funktion), die auf der sprachlichen Oberfläche in eine spezifische syntaktische Struktur übergeht (Form). Das Subjekt/Agens (N1 im SO-Satz) wird im Satz zuerst realisiert, das Objekt/Patiens (N2 im SO-Satz) danach. Eine kausale Handlungsstruktur (AGENS → PATIENS) mündet also in eine spezifische Abfolge nominaler Konstituenten (S → O; vgl. dazu Comrie 1981, Croft 1991, Langacker 1991, s. auch Kapitel 2.3). Aus funktionaler Perspektive hätte die syntaktische Position der beiden Aktanten also die Funktion, ihre semantische und kausale Relation abzubilden. Losgelöst von ihren grammatischen Funktionen als Subjekt und Objekt, lässt sich schließen, dass eine neutrale Abfolge zweier nominaler Konstituenten (N>N) an sich bedeutungstragend ist. Die Abkürzung N>N wird im Folgenden deshalb als abstrahierte Form einer kanonischen Satzstruktur mit einer neutralen Abfolge von AGENS > NICHT-AGENS und damit als kanonischer SO-Satz verstanden.
Croft (1988: 173) zufolge haben neben der Konstituentenabfolge auch Kasus- oder Kongruenzmarker die primäre Funktion, „a relation between two entities“ auszudrücken. Daraus folgt, dass analog zum syntaktischen Muster auch bei den Kasusmarkern spezifische Verknüpfungen zwischen der Form (Kasusmarkierung) und dem Inhalt (semantische Rolle) hergestellt werden können. Ein Agens ist in der Regel morphologisch unmarkiert, ein Patiens oder Rezipiens hingegen markiert.2 Sowohl im Russischen als auch im Deutschen wird der Nominativ zur Kennzeichnung des Agens, der Akkusativ zur Kennzeichnung des Patiens und der Dativ als Marker für ein Rezipiens gebraucht (s. zum Beispiel Abraham 32013 sowie Zifonun/Hoffman/Strecker 1997 für das Deutsche). Demnach lässt sich eine Dichotomie zwischen dem morphologisch unmarkierten Agens und allen anderen nicht-agentivischen, jedoch morphologisch markierten Rollen ziehen (neben dem Patiens und dem Rezipiens wären hier auch das Instrument, der Locus und weitere nicht-agentivische Aktanten zu nennen).3 Die semantische Dichotomie zwischen Agens und Nicht-Agens mündet so in die formale Dichotomie [+/- MORPHOLOGISCH MARKIERT]. Croft (1988: 174) folgert daraus:
Case marking is a complement of the strategy of simple juxtaposition of the related constituents, in which the hearer must infer the relation that holds between the two. Simple juxtaposition is only possible when the relation between the two terms is obvious enough for the hearer to easily infer it. Otherwise, the relation must be more explicitly represented in the utterance, and case marking is the strategy for doing so.
Kasusmarker dienen also dem Hörer dazu, die semantischen Relationen zwischen unterschiedlichen Aktanten zu determinieren und sind somit nichts anderes als eine formale Explizitmachung semantischer Relationen.
Zentral ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Verben. Im Sinne eines valenzgrammatischen und framesemantischen Ansatzes (vgl. Busse 2012, Fillmore 1968, 1977) übernehmen Verben in Sätzen die Rolle des Regisseurs. Oder um Kakos (2006) Sicht auf Sätze als „miniature plays“ nochmals aufzugreifen: Sätze umfassen spezifische Handlungsrahmen, in denen unterschiedliche Mitspieler verschiedene Rollen einnehmen. Das Verb legt dabei fest, welche Rollen zu vergeben sind. Ein von Fillmore häufig gebrauchtes Beispiel ist das der kommerziellen Transaktion. So würde das Verb kaufen unterschiedliche an der Kaufhandlung beteiligte Aktanten umfassen, nämlich den Käufer, den Verkäufer, die Ware sowie zum Kauf der Ware benötigte Mittel (vgl. Fillmore 1977). Folgt man Fillmores Überlegungen, würde das Verb kaufen diese Handlung und an ihr teilnehmende Mitspieler kognitiv evozieren, weil der Sprecher über verstehens- und wissensrelevante Schemata4 (Frames) verfügt, das heißt auf der Basis seiner Erfahrungen weiß, wie eine Kaufsituation abläuft und wer daran beteiligt ist. Die Verbbedeutung bestimmt, wer im satzinternen Miniaturstück mitspielen darf. Das Verb eröffnet ein Spektrum an Leerstellen (slots), die gefüllt werden können, jedoch nicht müssen.5 Ein Verb wie kaufen enthält zum Beispiel die Leerstellen [KÄUFER] und [GEKAUFTES]. In der Valenzgrammatik ist das Prinzip der Leerstelle vergleichbar mit der Wertigkeit des Verbs, das heißt mit der Anzahl der Bindungsstellen, die ein Verb mitbringt. Die slots müssen vom Sprecher mit auf die spezifische Handlung angepassten fillern ausgefüllt werden. Die Mitspieler müssen also konkret benannt werden (zum Beispiel Der Mann kauft eine Hose). Im Prinzip lässt sich unter Berücksichtigung mapping-bezogener und valenzgrammatischer Prinzipien ein zweiphasiger Prozess bei der Konstruktion von Sätzen annehmen. Die Nutzung eines spezifischen Verbs macht es erforderlich, an der Handlung beteiligte Aktanten überhaupt zu benennen. Mithilfe der grammatischen Mittel Wortstellung und Kasusmarker wird in einem weiteren Schritt spezifiziert, welcher Aktant welche Rolle im Handlungsrahmen einnimmt. So sind für die Leerstellen des Verbs kaufen die filler ‚Mann‘, ‚Hose‘ und ‚Tochter‘ denkbar. Innerhalb des Handlungsrahmens kaufen muss mithilfe formaler Mittel deutlich werden, in welchem Verhältnis Mann, Tochter und Hose stehen und wer von ihnen agentivisch ist (Der Mann kauft der Tochter eine Hose vs. Die Tochter kauft dem Mann eine Hose).
Im Kontext eines vom Verb evozierten Handlungsrahmens sind Wortstellung und Kasusmarker als zwei Möglichkeiten zu betrachten, um ein und dieselbe Funktion sprachlich abzubilden. Im Deutschen, Russischen und Niederländischen haben sie eine jeweils unterschiedlich hohe Validität, was bedeutet, dass sie in transitiven Sätzen kontextunabhängig als zuverlässige Indikatoren für semantische Relationen fungieren. So wäre die Wortfolge dann ein valider Indikator, wenn anhand der linearen Abfolge der nominalen Konstitutenten im Großteil der Fälle die vom Verb regierten Rollen ermittelt werden können. Kasusmarker sind wiederum dann valide Indikatoren, wenn unabhängig von der syntaktischen Position der Konstituenten anhand der morphologischen Markierung auf ihre semantische Rolle im Satz geschlossen werden kann. So ist es im Deutschen mehr als unwahrscheinlich, dass eine NP des Typs dem Kind ein Agens kennzeichnet, da die Artikelform dem ein valider Indikator für Nicht-Agentivität und so in Hinblick auf diese Funktion transparent ist. Daneben finden sich im Deutschen Formen wie die Frau. Die Artikelform die ist uneindeutig, weil sie sowohl als Agens- als auch als Patiensmarker fungiert (zum Beispiel Die Frauag sieht den Mann vs. Der Mann sieht die Fraupat). Ohne die Einbettung in einen syntaktischen Zusammenhang ist es auf der Basis der isolierten NP nicht möglich, diese in Hinblick auf ihr Agentivitätspotential einzustufen, sodass die Artikelform die funktional intransparent ist. Was für die Beispiele dem und die im Speziellen gilt, lässt sich für ein gesamtes Kasussystem verallgemeinern. Ist die Anzahl intransparenter Formen des Typs die im Gesamtsystem hoch, so sind Kasusmarker prinzipiell unzuverlässige Indikatoren für semantische Relationen. Je höher hingegen der Anteil transparenter Formen des Typs dem, desto höher ist schließlich auch die Validität von Kasusmarkern an sich.
Das Vorhandensein transparenter Kasusmarker wirkt sich in der Regel auf die Wortstellungsvarianz innerhalb einer Sprache aus. Dabei gilt: Je höher die Validität von Kasusmarkern, desto höher ist in der Regel auch die Wortstellungsvarianz innerhalb von transitiven Satzkonstruktionen. Eine geringe Transparenz von Kasusmarkern führt entsprechend zu einer geringeren Wortstellungsvarianz.
In einer Sprache wie dem Niederländischen, das – ähnlich wie das Englische – einen Großteil seiner nominalen Kasusmarkierungen verloren hat, kann es im Prinzip keine Wechselbeziehung zwischen Wortstellungsmustern und Kasusmarkern geben. Morphologische Marker finden sich weder am Artikel noch am Substantiv.6 Die Differenzierung zwischen Agens und Nicht-Agens erfolgt im Niederländischen mittels der Abfolge der NPs im Satz (N > N = AGENS > NICHT-AGENS). Verändert man die Position der NPs im Satz, so verändern sich auch die semantischen Relationen. Im Deutschen hingegen kennzeichnen spezifische Kasusmarker die Relation zwischen Agens und Nicht-Agens, sodass die Position der beiden NPs im Satz vertauscht werden kann, ohne dass damit eine Bedeutungsveränderung einherginge (s. Tabelle 1).
Tabelle 1: Kennzeichnung semantischer Relationen im Niederländischen und Deutschen7
Obwohl das Niederländische wie das Deutsche über Artikel verfügt, bleiben die genusspezifischen Formen de (MASK/FEM) und het (NEUT) kontextübergreifend unverändert. Die Position der nominalen Konstituenten ist damit der einzige verlässliche Indikator für semantische Relationen und hat damit eine besonders hohe Validität.
Tabelle 1 enthält mit Blick auf das Deutsche Sätze des Typs SVO (Beispiele 1, 3, 5 und 7) und OVS (Beispiele 2, 4, 6 und 8). Beide Varianten sind im Gebrauch möglich, jedoch erfüllt nur eine davon die Kriterien, um als Basiswortstellung eingestuft werden zu können. In Hinblick auf die Frage, welche Wortfolge im Deutschen als neutral einzustufen ist, bewegt sich die Diskussion besonders um die Position des Verbs und dabei vor allem um die Kontroverse, ob Deutsch als SOV- (vgl. zum Beispiel Hawkins 1983, Müller 2015) oder SVO-Sprache (vgl. zum Beispiel Greenberg 1963, Dryer 2013) einzustufen ist. Jenseits des Disputs um die Position des Verbs, findet sich in beiden Ansätzen eine zentrale Gemeinsamkeit: Die Realisierung des Subjekts vor dem Objekt wird in beiden Fällen quasi vorausgesetzt. Die Umkehrung der SO-Abfolge zu einer OS-Struktur wird hingegen von pragmatischen Faktoren sowie Dialogstrukturen abhängig gemacht (vgl. zum Beispiel Machate/Hoepelmann 1992). Sätze wie Den Bruder sieht die Frau sind zwar möglich, müssen jedoch als Abweichung vom neutralen Fall gewertet werden. Am stärksten diskutiert wird der Grund für Wortstellungsvarianzen dieser Art (S>O vs. O>S) im Kontext der Funktionalen Satzperspektive. Faktoren wie Thema/Rhema, Figur/Grund, Topik/Fokus spielen für die Wahl der jeweiligen Konstituentenabfolge eine entscheidende Rolle.
In der Regel wird im Deutschen das Topik im Vorfeld realisiert; die satzinitiale Subjektpositionierung kann damit als Prototyp sowie als „universelle Tendenz“ bezeichnet werden (Musan 2010: 35). Wortstellungsvarianz im Rahmen eines transitiven Satzes ist damit ein Mittel der Informationsorganisation im Gespräch. Ein zusätzliches Merkmal in Hinblick auf die potentielle Fokussierung, die durch die Wortabfolgevarianz einhergehen kann, ist die Intonation. Ohne an dieser Stelle auf die einzelnen Möglichkeiten der Hervorhebung und Fokussierung einzugehen (vgl. für einen Überblick Abraham 32013, Dürscheid 62012 sowie Welke 2002), bleibt festzuhalten, dass in Bezug auf die Abfolge nominaler Konstituenten im Deutschen S>O als kanonisches beziehungsweise unmarkiertes, O>S hingegen als nicht-kanonisches beziehungsweise markiertes Muster einzustufen ist (vgl. auch Haider 2010, Lenerz 1977, Zubin/Köpcke 1985).
Die Unterschiede der beiden Varianten spiegeln sich auch in einer ungleichen Verteilung von SO- und OS-Sätzen im Deutschen wider. Anhand einer exemplarischen Korpusanalyse von Schlesewsky et al. (2000: 67f.), die mithilfe von gesprochenen Sprach-, nicht-fiktionalen sowie fiktionalen Korpora (Analyse von 2826 Sätzen) durchgeführt wurde, lässt sich folgende Tendenz nachzeichnen:8 OS-Sätze kommen prinzipiell in allen Gesprächs- und Textgattungen signifikant seltener vor als SO-Sätze. In der gesprochenen Sprache ist der Anteil von OS-Strukturen mit ca. 10 % am höchsten, danach folgen fiktionale (ca. 8 %) und zuletzt nicht-fiktionale Texte (5 %). Zu ähnlichen Werten für schriftsprachliche Texte kommen Hoberg (1981) sowie Kempen/Harbusch (2005). Etwas höher liegt der Gesamtanteil der OS-Sätze bei Weber/Müller (2004) sowie Bader/Häussler (2010), die auf einen Anteil von 18,5 % beziehungsweise 17,5 % kommen. Bader/Häussler (2010) führen ihre vergleichsweise hohen Werte auf die Tatsache zurück, dass ausschließlich den-NPs im Akkusativ Singular und Dativ Plural berücksichtigt wurden und dadurch keine Querschnittsanalyse von OS-Sätzen im Allgemeinen abgebildet wird. Alle vier Korpusstudien kommen zu dem Schluss, dass in nicht-kanonischen Bedingungen das topikalisierte Objekt deutlich häufiger akkusativ- als dativmarkiert ist. Bei Schlesewsky et al. (2002) machen innerhalb der OS-Sätze in allen drei Korpustypen dativmarkierte Objekte jeweils nur ca. 15 % der Vorkommen aus, wobei in absoluten Zahlen der Anteil mit zwei (nicht-fiktionale Texte), fünf (fiktionale Texte) und fünfzehn (gesprochene Sprache) Treffern fast verschwindend gering ist. Zu einem sehr ähnlichen Fazit kommen Bader/Häussler (2010). Auch in ihrer Korpusanalyse, die jedoch ausschließlich Zeitungstexte umfasst und nur Sätze berücksichtigt, die eine den-NP (Akkusativ Singular und Dativ Plural) enthalten, sind topikalisierte Objekte in gut 70 % akkusativmarkiert. Dativmarkierte Objekte, die vor dem Subjekt realisiert werden, finden sich hingegen vor allem im Mittelfeld, also zum Beispiel in Form von …, dass dem Opa der Witz gefallen hat oder …, dass dem Opa ein Malheur passiert (ebd.: 734). Die Beispiele illustrieren weiterhin einen zentralen Befund von Bader/Häussler: OS-Abfolgen im Mittelfeld sind gebunden an spezifische Verben und sind somit ein Resultat lexiko-semantischer und nicht syntaktischer Faktoren. Ebenso ist für genau diese verbgebundenen OdatS-Abfolgen im Mittelfeld das Vorhandensein eines belebten Objekts und eines unbelebten Subjekts typisch. Insbesondere in OakkS-Sätzen mit topikalisiertem Objekt im Vorfeld dominiert hingegen die Opposition S[+belebt] vs. O[-belebt] (vgl. ebd: 731)
Es lässt sich also folgern, dass das Deutsche trotz der syntaktische Möglichkeit, OS-Sätze zu verwenden, nur selten davon Gebrauch macht. Problematisch bei dem Befund, dass OS-Sätze meist akkusativmarkierte Objekte enthalten, ist die Tatsache, dass im Deutschen der Akkusativ nur im Maskulinum lokal, das heißt auf Basis des einzelnen Markers identifizierbar ist. Lediglich das Maskulinum verfügt über ein maximal ausdifferenziertes Kasusparadigma; im Neutrum und Femininum finden sich diverse Synkretismen (s. Tabelle 2).
Tabelle 2: Kasussystem des Deutschen (Singular)
Aus Tabelle 2 geht zunächst hervor, dass Kasusmarker im Deutschen überwiegend am Artikel zu finden sind. Das Substantiv wird nur im Genitiv Maskulinum und Neutrum Singular (Mann-es, Kind-es) sowie im Dativ Plural in allen Genera (den Männer-n/Frau-en/Kinder-n) zusätzlich flektiert. Hinzu kommt im Deutschen eine schwache Deklinationsklasse, die Maskulina umfasst, die in beiden Numeri mit dem Flexionsmorphem -n markiert werden (zum Beispiel den/dem/des Junge-n). Insgesamt ist die formale Kasusinformation jedoch in der Regel ausgelagert und zeigt sich am Determinierer sowie in komplexen Nominalphrasen am Adjektiv, sofern dieses stark flektiert wird (zum Beispiel ein groß-esnom/akk Kind). Tabelle 2 zeigt weiterhin, dass der Artikel den der einzige transparente, das heißt nicht multifunktionale Marker im Singular ist. Alle übrigen Formen decken mehrere Funktionen ab. Dabei ist zu unterscheiden, ob die Formen einen Kasus abdecken und in zwei Genera formidentisch sind, oder ob eine Form in verschiedenen Kasus auftritt. So ist dem ausschließlich Dativ- und damit Rezipiensmarker, wird jedoch sowohl im maskulinen als auch neutralen Paradigma verwendet. Selbiges gilt für des als Genitivmarker. Die Form das im Neutrum wird hingegen nicht nur im Nominativ, sondern auch im Akkusativ verwendet. Die zentralen semantischen Rollen Agens und Patiens sind folglich im Neutrum formal nicht differenzierbar. Selbiger Synkretismus findet sich im Femininum (die). Nur durch die Opposition zu einer zweiten NP können die intransparenten Marker das und die disambiguiert werden. Disambiguierung heißt wiederum, dass ihnen eine spezifische Funktion zugeordnet werden kann. Auch der ist eine multifunktionale Form. Sie kann entweder den Nominativ im Maskulinum oder den Dativ beziehungsweise Genitiv im Femininum kennzeichnen. Der Artikel allein kann also keinen eindeutigen Hinweis auf die semantische Rolle liefern, sodass bei der Satzverarbeitung nicht nur das Genus der NP, sondern weitere Merkmale (hier besonders die morphologische Opposition zur zweiten NP) mitberücksichtigt werden müssen, damit eine Rollenzuweisung vorgenommen werden kann. Es lässt sich damit zwischen funktional transparenten (den, dem), halb-transparenten (der) und intransparenten (das, die) Formen differenzieren. Bei ersteren verweist die Form eindeutig auf Nicht-Agentivität, letztere können sowohl auf eine agentivische als auch eine nicht-agentivische Rolle verweisen und sind damit maximal ambig. Die als halb-transparent klassifizierte Form der kann hinsichtlich ihrer Funktion nur unter Hinzunahme des lexemspezifischen Genus disambiguiert werden. Sofern dieses berücksichtigt wird, ist die Zuordnung zu agentivisch beziehungsweise nicht-agentivisch eindeutig. Wird das Genus (bei der Verarbeitung) außen vor gelassen, ist die Form ambig. Ebenso macht ein Blick auf Tabelle 2 deutlich, dass es im Deutschen zwar eindeutige nicht-agentivische Marker (den, dem), jedoch keine eindeutigen agentivischen Formen gibt. Jede Nominativmarkierung (der, das und die) kommt auch in den obliquen Kasuskontexten vor.
Die Übersicht zeigt, dass das Deutsche zwar Kasusmarker enthält, diese jedoch nur selten auf eindeutige Form-Funktionsbeziehungen verweisen. Auf insgesamt zwölf Zellen im Singular kommen lediglich sechs unterschiedliche Formen, sodass die Zahl der Synkretismen vergleichsweise hoch ist.9 Für die Satzverarbeitung bedeutet dies konkret, dass Kasusmarker vor allem in Sätzen mit akkusativregierendem Verb nur bedingt valide sind. Kempe/MacWhinney (1998) errechnen für Kasusmarker im Deutschen einen Validitätswert von gut 50 %. Der niedrigere Wert geht darauf zurück, dass in Sätzen mit einem akkusativregierenden Verb und zwei Feminina, zwei Neutra oder einem Femininum und einem Neutrum disambiguierende Mittel nicht verfügbar sind und die Wortstellung als einzige Interpretationsgrundlage übrig bleibt (s. Bsp. 11 und 12 in Tabelle 3). Eine Disambiguierung kann nur bei Verfügbarkeit einer maskulinen NP erfolgen (Bsp. 9 und 10). Steht diese nicht zur Verfügung, muss die satzinitiale NP als agentivisch eingestuft werden (Bsp. 11 und 12).
Tabelle 3: Akkusativ- und Dativformen in OVS-Sätzen
Aufgrund des vollständigen Formenzusammenfalls zwischen NOM und AKK im Neutrum und Femininum fungieren das und die in den Beispielen 11 und 12 nur noch als Genus- und Numerusmarker, nicht mehr als Kasusformen. Das Deutsche verhält sich damit in entsprechenden Fällen wie das Niederländische und zeigt semantische Relationen nur noch mithilfe der Konstituentenabfolge an.
Eine höhere formale Eindeutigkeit und damit die Möglichkeit, eine N>N-Struktur als O>S-Satz zu identifizieren, besteht in Sätzen mit dativregierenden Verben (Bsp. 13–16). Da sowohl im Neutrum als auch im Femininum die formale Abgrenzung zwischen Nominativ/Akkusativ versus Dativ besteht, können Sprecher in entsprechenden Fällen auf die Kasusinformation zurückgreifen. Eine potentielle Schwierigkeit für Lerner besteht lediglich bei der Einordnung des Markers derdat. Ist ihnen das Genus der NP nicht bekannt oder sind sie in der Genuszuweisung unsicher, kann die Form derdat in den Beispielen 14 und 16 auch als morphologisch unmarkierte maskuline NP und damit als Agensmarker verarbeitet werden.
Die Gegenüberstellung des Niederländischen und Deutschen zeigt, dass Wortfolge und Kasusmarker als Indikatoren für semantische Relationen in unterschiedlichem Umfang verfügbar sind. Im Niederländischen verweist die Abfolge N>N immer auf S>O, morphologische Marker spielen keine Rolle. Das Deutsche verfügt zwar über Kasusmarker, jedoch sind sie je nach Genus häufig intransparent. Die Konstituentenabfolge gewinnt damit an funktionaler Validität. Im Vergleich zum Niederländischen ist die Wortstellung als Indikator für semantische Relationen im Deutschen zwar deutlich weniger valide, aber trotzdem relevant.
Anders als das Deutsche, ist das Russische eine morphologisch ausdifferenzierte Sprache, die in nur geringem Ausmaß einen Formenabbau erfahren hat. Das Russische verfügt über insgesamt sechs Kasus, die sich am Substantiv sowie bei Verfügbarkeit auch am attributiven Adjektiv zeigen: Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv, Instrumental und Präpositional.10 Parallelen zum Deutschen gibt es im Bereich der Formenbildung. In beiden Sprachen ist die Kasusform jeweils vom Genus und Numerus des Substantivs abhängig, sodass die entsprechenden Funktionsträger (im Deutschen die Artikel, im Russischen das Flexionsmorphem am Substantiv) jeweils unterschiedliche grammatische und semantische Kategorien kennzeichnen. Einen Überblick über das russische Kasussystem (Singular) bietet Tabelle 4.11
Tabelle 4: Kasussystem des Russischen (Singular)
Das Deklinationsparadigma ist im Russischen nicht nur vom Genus und damit von der phonologischen Wortstruktur, sondern auch von der Belebtheit abhängig. Maskulina, die auf einen Konsonanten auslauten, und alle Neutra12 können in einer Deklinationsklasse zusammengefasst werden. Charakteristisch für diese Klasse ist der Formenzusammenfall zwischen NOM und AKK bei unbelebten Substantiven. Bei belebten Konstituenten werden Nominativ und Akkusativ morphologisch unterschieden; stattdessen entspricht in dieser Klasse der Akkusativ dem Genitiv. Diese Differenzierung ist besonders für die Maskulina relevant, da es bei den Neutra nur zwei belebte Lexeme gibt (neben dem in Tabelle 4 aufgeführten Lexem životnoe nur dit’jo (Kind), dessen Gebrauch im Singular sehr selten ist und das tendenziell durch das Synonym rebjonokmask ersetzt wird). Tendenziell sind also im Russischen alle Neutra unbelebt und dadurch im NOM und AKK formidentisch.
Einen Sonderfall bilden die Feminina, die aufgrund zweier unterschiedlicher phonologischer Strukturen in zwei Klassen unterteilt werden. Differenziert wird zwischen Feminina auf -a13 (Feminina I) und Feminina, die auf einem palatalisierten alveolaren Frikativ ([sj], [zj]) oder einer postalveolaren Affrikate ([džj], [tʃj]) auslauten (Feminina II). Letztere Gruppe zeichnet sich wie die unbelebten Maskulina und Neutra durch einen Formenzusammenfall im NOM und AKK aus und enthält überwiegend unbelebte Lexeme.14 Die größere Gruppe der Feminina auf -a, die sowohl belebte als auch unbelebte Lexeme umfasst, differenziert hingegen zwischen diesen beiden Kasus. Dadurch, dass Feminina der Klasse II mehrheitlich unbelebt sind, äußern sich die Differenzen in der phonologischen Struktur der beiden Femininagruppen tendenziell auch in einer Belebtheitsunterscheidung, die sich wiederum auf das Formenspektrum der Kasusformen auswirkt. Wie im Deutschen gibt es dadurch auch im Russischen in bestimmten Kontexten multifunktionale Formen zwischen NOM und AKK. Während jedoch im Deutschen der Zusammenfall auf bestimmte Genera (Neutra und Feminina) eingegrenzt ist, ist im Russischen sowohl die Genusdifferenzierung (Maskulina vs. Neutra) als auch die Belebtheit und damit auch die phonotaktische Wortstruktur für eine potentielle Formidentität ausschlaggebend.
Weitere Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen und dem russischen Kasussystem finden sich in der Verwendung eines Flexionsmarkers für unterschiedliche Kasus in unterschiedlichen Genera. So wird zum Beispiel die Flexionsendung -u sowohl als Dativmarker bei Maskulina und Neutra als auch als Akkusativmarker bei Feminina des Typs I verwendet. Solche Formzusammenfälle sind jedoch im Gegensatz zum Deutschen seltener. Ebenso selten kommt der Fall vor, dass innerhalb einer Deklinationsklasse ein Flexiv mehrere Kasus abdeckt. Dies ist insbesondere für Feminina des Typs II der Fall, bei denen die Endung -i sowohl im Dativ als auch im Genitiv gebraucht wird. In den übrigen Genera finden sich solche Formzusammenfälle – mit Ausnahme des NOM-AKK-Zusammenfalls bei unbelebten Substantiven – kaum. Auch wenn das Russische also keine 1:1-Korrespondenz zwischen Kasusmarker und Funktion aufweist, ist der Anteil der Synkretismen deutlich niedriger als im Deutschen und die Validität morphologischer Marker entsprechend höher. Weiterhin gibt es anders als im Deutschen keine Formidentität zwischen einem Dativ- und einem Nominativmarker. Eine Endung wie -u oder -i ist stets als oblique Form deutbar und kann nie im Nominativ auftreten.
Somit gibt es zwar zentrale Parallelen zwischen dem deutschen und dem russischen Kasussystem, jedoch auch zentrale Unterschiede. In beiden Sprachen ist die Kasusform vom Genus und Numerus des Substantivs abhängig. In beiden sind Kasusmarker nicht eindeutig, sondern multifunktional. Jedoch ist im Russischen das Kasusparadigma innerhalb der einzelnen Deklinationsklassen und damit der einzelnen Genera formal ausdifferenzierter als im Deutschen. Die paradigmatische Ausdifferenziertheit der Kasusflexive führt schließlich dazu, dass in den meisten Fällen eine eindeutige Abgrenzung zwischen dem Nominativ und den obliquen Kasus stattfinden kann.
Geht man auch für das Russische davon aus, dass der Nominativ überwiegend zur Markierung des Agens genutzt wird, so verweist die formale Differenzierung [+/-MORPHOLOGISCH MARKIERT] auf die Unterscheidung [+/-AGENS]. Dass diese grundlegende Unterscheidung auch für den Erwerb von Kasusflexiven relevant zu sein scheint, erschließt sich aus einer Studie von Gagarina/Voeikova (2009). Sie können zeigen, dass die von ihnen untersuchten einsprachig russischen Kinder zunächst in den produktiven Deklinationsklassen I und II spezifische Kasusoppositionen (unmarkiert für Nominativ sowie markiert für fast alle anderen Kasus) aufbauen. Sobald ihr Gebrauch einsetzt (als „mini-paradigms“ (ebd.: 197) bezeichnet), durchlaufen die Lerner eine Art „morphological spurt“ (ebd.: 193). Dabei kommt eine Reihe neuer Lemmata hinzu, die sowohl morphologisch markiert als auch unmarkiert gebraucht werden. Die obliquen Formen werden dabei zunächst unsystematisch verwendet, sodass im L1-Erwerb zuerst die Dichotomie [-MARKIERT] vs. [+MARKIERT] zur Differenzierung von Agens und Nicht-Agens etabliert wird. In einem zweiten Schritt werden dann die nicht-agentivischen obliquen Marker systematisch differenziert.
Im Deutschen ist eine analoge Formeindeutigkeit in Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Agens und nicht-agentivischen Rollen paradigmatisch nur im Maskulinum gegeben. Dies führt laut Kempe/MacWhinney (1999) dazu, dass der Anteil von Sätzen, die keine eindeutige Kasusmarkierung haben, im Deutschen höher ist als im Russischen. Zurückzuführen ist dies auf einen höheren Anteil neutralisierter Formen im Akkusativparadigma im Deutschen (s. Tabelle 3, Beispiele 11 und 12).15 Die Abhängigkeit vom Maskulinum als disambiguierende Form schränkt die Verfügbarkeit morphologisch eindeutiger Formen ein, wodurch die Validität von Kasusmarkern als Indikatoren für semantische Relationen im Deutschen geringer ist (ca. 50 %) als im Russischen (ca. 90 %; vgl. Kempe/MacWhinney 1998). Zurückzuführen ist dies wiederum auf die Belebtheit im Russischen. Sobald ein belebtes Substantiv gebraucht wird, ist eine ambige Lesart des Satzes ausgeschlossen. So wäre in einem Satz wie stol-ømask/akk vidit brat-ømask/nom (Tischakk sieht Brudernom) trotz einer fehlenden morphologischen Markierung der präverbalen NP die einzige in Frage kommende Lesart hier OVS. Wäre nämlich brat hier nicht Agens, sondern Patiens, müsste aufgrund des Merkmals [+BELEBT] das Akkusativflexiv -a realisiert werden. Der Satz wäre also nur dann ambig und würde die Wortstellung als einzigen Indikator zulassen, wenn beide Konstituenten unbelebt wären, was wiederum sehr selten ist.16 Insgesamt sind die Bedingungen, in denen die Konstituentenabfolge der einzige Indikator für semantische Relationen wäre, im Russischen auf sehr spezifische Kontexte eingegrenzt. Funktional transparente Kasusmarker sind meistens verfügbar und limitieren den Validitätsstatus der Konstituentenabfolge.
Kempe/MacWhinney (1999) können anhand eines Reaktionszeitexperiments zeigen, dass sich die hohe Validität der Kasusmarker im Russischen auch auf Satzverarbeitungsstrategien auswirkt. Russischsprachige Probanden wählen bei OVS-Sätzen mit transparenter Kasusmarkierung schneller N2 als Agens als deutsche Sprecher. Das heißt, dass deutsche Sprecher bei einem Satz wie Den Teller sucht die Mutter länger für die Agenswahl benötigen als russische Sprecher bei äquivalent konstruierten russischen Sätzen (Tarelkuakk iščet mat´nom). Weiterhin können Kempe/MacWhinney belegen, dass russischsprachige Erwachsene semantische Informationen wie Belebtheit ignorieren, während deutsche Probanden sie mitberücksichtigen. So benötigen deutsche Sprecher für die Verarbeitung von Sätzen wie Die Blume sucht den Mann länger als russische Sprecher in äquivalenten Kontexten. Die Verarbeitungsdauer bleibt bei ihnen unabhängig von der Belebtheitsinformation unbeeinträchtigt. Kempe/MacWhinney folgern daraus (ebd.: 151), dass der generelle Validitätsstatus morphologischer Kasusmarker innerhalb der untersuchten Sprachen Deutsch und Russisch einen Einfluss darauf hat, wie gut die Sprecher den formalsprachlichen Markern ‚trauen‘. Die grundsätzlich geringere Verfügbarkeit eindeutiger transparenter Kasusmarker im Deutschen führt offensichtlich dazu, dass Sprecher andere Informationen im Satz (hier die Belebtheit) mitverarbeiten. Die deutlich höhere Validität von Kasusmarkern im Russischen hat zur Folge, dass sich Sprecher bei der Satzverarbeitung ausschließlich auf morphologische Informationen stützen.
Die Ergebnisse von Kempe/MacWhinney zeigen neben der unterschiedlichen Gewichtung unterschiedlicher Kodierungsmechanismen als Resultat typologischer Varianz auch, dass für Sprecher die Informationen der satzinitialen NP entscheidend sind. MacWhinney (1977) sowie Langacker (1998) verweisen in diesem Zusammenhang auf das starting point-Prinzip, das den Verarbeitungsprozess zu lenken scheint. So determiniert die semantische und morphologische Information innerhalb der satzinitialen NP, ob eine N>N-Struktur als S>O- oder O>S-Satz interpretiert wird. Je später dabei eine disambiguierende Form im Satz auftritt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass diese überhaupt Berücksichtigung findet. Entscheidend für die Satzinterpretation sind besonders Informationen, die früh auftauchen (vgl. hierzu besonders Choi/Trueswell 2010). Besonders mit Blick auf das Deutsche hat dies Auswirkungen darauf, unter welchen Bedingungen eine N>N-Struktur als S>O- oder S>O-Satz interpretiert wird.
Die hohe formale Ausdifferenziertheit im russischen Kasussystem und die Verfügbarkeit synthetischer Marker führen dazu, dass die Abfolge der nominalen Konstituenten als Indikator für semantische Relationen kaum in Frage kommt. Dies äußert sich in einer relativ variablen Wortstellung, die charakteristisch für das Russische ist.
Die Übersicht bezieht sich auf einfache Aussagesätze sowie ihre einzelsprachlichen Realisierungsmöglichkeiten.17 Die Beispiele 17 bis 22 zeigen, dass im Russischen dafür sechs verschiedene Wortstellungsmöglichkeiten in Betracht kommen. Jede Variante ist dabei zwar abhängig von pragmatischen Faktoren, allerdings führt keine zu einer Veränderung der semantischen Rollen oder des Satztyps (vgl. Bailyn 1995, 2012 sowie Neidle 1988). Im Deutschen ist die Wortstellungsvarianz deutlich eingeschränkter, was nicht unmittelbar auf eine geringere Validität der Kasusflexive, sondern auf den Stellenwert der Verbposition, die wiederum mit spezifischen Satztypen korreliert, zurückzuführen ist. Lässt man die Position des Verbs außen vor und legt den Fokus auf die Abfolge von Subjekt und Objekt, zeigt sich mit Blick auf die Beispiele 19–22, dass die Reihenfolge der Konstituenten nur bedingt variabel ist. In den Sätzen 20 und 22 ist zwar die Position des Verbs veränderbar, eine O>S-Abfolge jedoch fragwürdig, wenn nicht sogar unmöglich, sofern es sich um nominale Konstituenten handelt.18 Während also die Verbposition im Deutschen relativ flexibel (beziehungsweise grammatikalisiert) ist, ist der Positionswechsel von Subjekt und Objekt stark eingeschränkt. Die Abfolge O > S ist dabei vor allem in Sätzen mit Verbzweitposition akzeptabel, bei Verberst- und Verbletztsätzen hingegen stark eingeschränkt.
Ähnlichkeiten zwischen dem Deutschen und Niederländischen finden sich in Hinblick auf die Grammatikalisierung der Verbposition. Bei der Abfolge der Konstituenten gibt es jedoch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Während die Realisierung des Objekts vor dem Subjekt im Deutschen zumindest in NVN-Sätzen gängig ist, ist sie im Niederländischen schlicht nicht möglich, sodass die Wortstellungsvarianten OVS, OSV sowie VOS im Niederländischen bei Kombination zweier nominaler Konstituten nicht vorhanden sind.19 Während also im Russischen die Abfolge zweier nominaler NPs sowohl auf eine SO- als auch eine OS-Struktur verweisen kann, ist die OS-Lesart im Deutschen auf spezifische Satztypen beschränkt und im Niederländischen nicht vorhanden.
Trotz der einzelsprachspezifischen Wortstellungsvarianten teilen sich die drei Sprachen eine zentrale Gemeinsamkeit. In allen Sprachen ist die kanonische Konstituentenfolge S>O (Bsp. 17) die neutrale Struktur für aktivische Hauptsätze (vgl. Bailyn 1995, Divjak/Janda 2008, Hawkins 1983 und Tomlin 1986 für das Russische, Musan 2010 für das Deutsche und Bouma 2008 für das Niederländische).20 In allen drei Sprachen wird also das Agens in der Regel satzinitial realisiert und ist morphologisch nicht markiert. Die Abfolge der Konstituenten interagiert mit dem Merkmal der morphologischen Markierung in Hinblick auf die Kennzeichnung semantischer Relationen.
Eine weitere Gemeinsamkeit der drei Sprachen ist die Belebtheitsopposition, die als semantische und damit nicht-grammatische Information gewertet werden muss (s. Bsp. 23 und 24).
Während in Beispiel 23 Konstituentenabfolge und Belebtheitskontrast in einem prototypischen Verhältnis stehen, führt die Belebtheitsopposition in Satz 24 dazu, dass die NPs die Nacht/noč´/nacht als Patiens und die Mutter/mat´/moeder als Agens interpretierbar sind, obwohl die Konstituentenabfolge für eine S>O-Lesart sprechen würde. Die Belebtheitsopposition kann also potentiell die kanonische Konstituentenabfolge als Hinweis auf satzinterne Rollenrelationen aushebeln, die hier aufgrund der fehlenden eindeutigen morphologischen Markierungen als einzige Interpretationsgrundlage aktiviert werden müsste. Die Belebtheit hat folglich das Potential, als zur Konstituentenabfolge konkurrierende Information aufzutreten. Welche Option (Belebtheitsopposition oder Konstituentenabfolge) als Interpretationsgrundlage gewählt wird, hängt vermutlich mit ihrer einzelsprachspezifischen Validität zusammen, sodass es wahrscheinlich ist, dass sich niederländische Sprecher eher auf die Konstituentenabfolge stützen als russische.
Die Konstituentenabfolge hat für die Kodierung semantischer Relationen je nach Sprache einen unterschiedlich hohen Stellenwert. Im Niederländischen ist sie der hierarchiehöchste, im Russischen der hierarchieniedrigste Indikator. Das Deutsche lässt zwar Wortstellungsvarianz zu, die Relevanz der Konstituentenabfolge für die Interpretation semantischer Relationen steigt jedoch im Gegensatz zum Russischen durch die hohe Anzahl der Synkretismen im Akkusativ. Stellt man einzelsprachliche Wortstellungsvarianzen und Kasussysteme in Relation zueinander, lässt sich folgende Tendenz beschreiben: Je ausdifferenzierter das Kasussystem und je höher damit die Validität morphologischer Kasusformen, desto variabler ist entsprechend die Wortstellung (vgl. dazu auch McFadden 2003; s. Abbildung 1).21
Abbildung 1: Interdependenz von Kasusmarkern und Wortstellungsvarianz (kontrastiv)
Abbildung 1 verdeutlicht das Zusammenspiel zwischen morphologischen Kasusmarkern und Wortstellungsvariationen in den drei untersuchten Sprachen. Das Niederländische ist am linken Pol angesiedelt, da es im nominalen Bereich nur über rudimentäre morphologische Kasusflexive verfügt und gleichzeitig keine Wortstellungsvarianz zulässt. Das Russische ist dem gegenüberliegenden Pol zugeordnet, da die ausdifferenzierte Kasusmorphologie (in Kombination mit einer fehlenden festen Verbstellung) eine große Anzahl variierender Wortstellungstypen zulässt. Das Deutsche bewegt sich zwischen den beiden Polen, wodurch seine typologische Besonderheit deutlich wird (vgl. auch Gladrow 1998: 204). Es ist eine Art Mischtyp.
Die sprachspezifischen Unterschiede haben Folgen für Verarbeitungsstrategien und -mechanismen. Kempe/MacWhinney (1999) sowie MacWhinney/Bates/Kliegl (1984) belegen für Sprecher des Deutschen, dass die Verfügbarkeit und die Transparenz von Kasusmarkern die Interpretation semantischer Relationen determiniert. Erwartungsgemäß sind in Sätzen wie Den Mann sieht die Frau zwar die Reaktionszeiten höher als bei kanonischen Sätzen, jedoch wird Frau stets als Agens eingestuft. Fehlt hingegen eine eindeutige morphologische Markierung (zum Beispiel in Max gefällt Inge), so wird die Relation zwischen den beiden Aktanten auf der Basis der Wortstellung bestimmt und Max als Agens ausgewählt (vgl. auch Draye 2002). Im Gegensatz zu russischen Sprechern ist jedoch die Verarbeitung von OS-Sätzen für deutsche Sprecher offenbar aufwändiger (vgl. Kempe/MacWhinney 1999). Kilborn/Cooreman (1987) können wiederum für das Niederländische und das Englische zeigen, dass die Wortstellung besonders ausschlaggebend für die Agenswahl ist. Sie stützen damit die Ergebnisse von Bates et al. (1982) für das Englische, was aufgrund seiner zahlreichen Parallelen gut auf das Niederländische übertragbar ist. Um die Relevanz der Konstituentenfolge im Niederländischen zu verdeutlich, soll die Studie von Kilborn/Cooreman (1987) an dieser Stelle kurz diskutiert werden. Kilborn/Cooreman stellen anhand von mono- und bilingualen niederländischen und englischen Sprechern gruppenspezifisch variierende Satzinterpretationsstrategien hinsichtlich der Nutzung von Merkmalen wie Belebtheitsopposition, Konstituentenabfolge und Subjekt-Verb-Kongruenz zur Determination semantischer Relationen heraus. Es wurde unter anderem geprüft, welche Konstituente die Probanden in Sätzen des Typs NVN (De giraffen bijten de vork [Die Giraffen beißen die Gabel]), NNV (De cigaret de kat kust [Die Zigarette die Katze küsst]) und VNN (Bekijt de muis de zeug [Sieht die Maus den Schnee]) als Agens wählen. Während die niederländischen Probanden in allen Satztypen die jeweils erste der beiden NPs zu ca. 60 % als Agens auswählen, entscheiden sich die englischen Probanden vor allem in der VNN-Bedingung häufiger für die zweite NP als Agens. Die Folgerung der Autoren, dass die Wortstellung für die englischen Sprecher ein dominanterer Indikator für semantische Rollen sei, ist dabei nicht ganz nachvollziehbar. Bezogen auf die Abfolge der Konstituenten ist nämlich das Gegenteil der Fall. Kilborn/Cooreman stellen die These auf, dass sich das Niederländische trotz vieler Gemeinsamkeiten durch eine ausdifferenziertere Verbmorphologie vom Englischen abgrenzt. So seien im Niederländischen zum Beispiel auch VSO-Strukturen bei Fragesätzen möglich, wobei nicht darauf verwiesen wird, dass dies auch im Englischen für Fragesätze des Typs Does he love her? gilt. Dem Niederländischen wird also eine größere Wortstellungsvarianz zugesprochen als dem Englischen.22 Jenseits dieser Verbstellungsvarianzen dominiert im Niederländischen jedoch die Abfolge S>O. So verweisen die Autoren darauf, dass es im Englischen auch VOS- und OSV-Strukturen gibt, die im Niederländischen als VSO- sowie SOV-Sätze realisiert werden. Somit hätte Englisch ein höheres Varianzspektrum, weil hier sowohl SO- als auch OS-Strukturen möglich sind, das Niederländische hingegen fast ausschließlich von SO-Stellungen Gebrauch macht. Die Validität der Konstituentenfolge N>N als Indikator für S>O ist im Niederländischen deshalb besonders hoch. In den Ergebnissen spiegelt sich genau das wider: Unabhängig von der Testbedingung (NVN, NNV und VNN) wählen niederländische Probanden N1 sogar häufiger als Agens als englischsprachige Sprecher.
Zusammenfassend lässt sich folgern, dass aus funktionaler Perspektive sowohl die Konstituentenfolge N>N als auch Kasusmarker der Abbildung kausaler Relationen zwischen Agens und Nicht-Agens dienen können. Im Niederländischen wird die semantische Rollenrelation fast ausschließlich anhand der Konstituentenabfolge, im Russischen anhand der Kasusmorphologie und im Deutschen anhand von beiden Verfahren kenntlich gemacht. Typologisch gesehen ist Deutsch im Vergleich zum Niederländischen und Russischen als eine Art Mischtyp zu betrachten. Gemeinsam ist den drei Sprachen die kanonische Abfolge S>O. Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Validität von Konstituentenabfolge und Kasusmarkern als Indikatoren für semantische Rollenrelationen. Im Folgenden wird basierend auf diesen Feststellungen einerseits diskutiert, wodurch die Gemeinsamkeiten zustande kommen und andererseits ausgeführt, wie die Unterschiede divergierende Satzverarbeitungsstrategien bewirken (s. Kapitel 3).