Читать книгу Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen - Jana Gamper - Страница 7
Оглавление1 Einleitung
„Die Esel wollten natürlich alle Kinder streicheln“ – am 20.11.2011 druckte der Lüdinghausener Kreiskurier1 diese ungewöhnlich anmutende Meldung ab. Auf den ersten Blick scheint es, als würden die Kinder von den Eseln gestreichelt werden. Beim nochmaligen Lesen wird diese erste Interpretation des Satzes jedoch vermutlich von den meisten Sprechern2 des Deutschen revidiert, sodass die Esel zu den Gestreichelten und die Kinder zu den Streichelnden werden. Obwohl diese Reinterpretation ohne weiteres vorgenommen werden kann, stellt sich die Frage, wodurch die anfängliche Ambiguität überhaupt entsteht und wie sie schließlich aufgelöst werden kann. Die erste Lesart des Satzes kann zustande kommen, weil Sprecher annehmen, dass das erstgenannte Argument des Verbs streicheln der Handlungsträger (Agens) und das zweitgenannte das Objekt (Patiens) sei. Man kann sich bei der Satzinterpretation also auf die Reihenfolge der Konstituenten und damit auf die Wortstellung stützen. Untermauert wird diese Satzinterpretation durch die Tatsache, dass beide Nominalphrasen im Plural realisiert werden und die Verbform in Hinblick auf Kongruenzrelationen keine der beiden Phrasen eindeutig als agentivisch favorisiert.
Syntaktische Ambiguitäten kommen im täglichen Sprachgebrauch in unzähligen Ausprägungen vor. Neben den ‚streichelnden Eseln‘ finden sich zum Beispiel Meldungen wie Zwei Autos beschädigten Unbekannte in der Nacht von Samstag auf Sonntag3 oder Elterngeld: Nur jedes fünfte Kind wickelt Papa.4 Jeder dieser Sätze ist uneindeutig und ermöglicht bei der Bestimmung des Subjekts zwei Lesarten. Während die streichelnden Esel und das wickelnde Kind vermutlich aufgrund des Weltwissens, dass Esel nicht streicheln können und Kinder ihre Eltern eher nicht wickeln, als Agens entfallen, ist es im zweiten Beispiel die Unbelebtheit der Autos, die diese als Aktanten ausschließt. Die Beispiele zeigen, dass Sprecher Sätze nach komplexen Prinzipien analysieren müssen, wenn sie bestimmen wollen, wer Handlungsträger und wer nur von der Handlung betroffen ist.
Nicht umsonst nennt Kako (2006: 1) Sätze „miniature plays“, die stets die Information enthalten, wer was tut und mit wem was geschieht. Die sprachliche Oberfläche dient uns neben dem Weltwissen dabei als Orientierungspunkt, um zu erfassen, wer die Aktanten innerhalb der Satzszene sind und in welcher Relation sie zueinander stehen, das heißt welche Rolle sie im Stück spielen. Unterschiedliche Formen werden dabei dazu verwendet, die Rollen der beteiligten Handlungsaktanten anzuzeigen. Formal-grammatische Mittel haben folglich eine Kodierungsfunktion. Aufgabe der Sprecher ist es, den oberflächensprachlichen Kode zu entschlüsseln, um an den Inhalt, im vorliegenden Fall die semantischen Relationen, zu gelangen. Der Handlungs- und Satzrahmen wird dabei von der Verbbedeutung bestimmt; den an der Handlung beteiligten Aktanten müssen in einem zweiten Schritt spezifische Rollen zugewiesen werden. So wäre bei der Kombination der Lexeme schenken, Mädchen, Junge und Blume zunächst nur klar, dass auf die Handlung des Schenkens sowie auf drei an der Handlung beteiligte Aktanten (Mädchen, Junge, Blume) referiert wird. Wer jedoch welche Rolle spielt, wird erst durch die Hinzunahme grammatischer Mittel deutlich. So kann beispielsweise entweder das Mädchen (Das Mädchen schenkt dem Jungen eine Blume) oder der Junge (Dem Mädchen schenkt der Junge eine Blume) zum Schenkenden werden.
Im Deutschen lässt sich anhand der Kasusmarkierung am Artikel meist eindeutig erkennen, wer welche Rolle in einer Handlung einnimmt. Wie die obigen Beispiele jedoch deutlich machen, sind Kasusmarker nicht immer eindeutig (zum Beispiel im Plural) oder nicht immer verfügbar, sodass der Sprecher andere Informationen hinzuziehen muss, mittels derer semantische Relationen im Satz determiniert werden können. Für den Fall, dass keine morphologischen Marker verfügbar sind, ist besonders die syntaktische Position der Aktanten relevant – diese grammatische Information ist nämlich in jedem Fall verfügbar. Weitere grammatische Mittel können die Subjekt-Verb-Kongruenz sein (zum Beispiel Die Kinder sieht der Mann) sowie besonders die Prosodie und der Kontext. Auf semantischer und damit nicht-grammatischer Ebene spielt auch die Belebtheit der Aktanten eine Rolle. Kasusmarker, Abfolge im Satz, Belebtheitskontraste, Prosodie und Kongruenzrealtionen fungieren damit als potentielle cues für semantische Relationen. Die grammatischen und semantischen Indikatoren sind hierarchisch zunächst gleich gewichtet. Wen der Sprecher in einem Satz wie Die Esel wollten natürlich alle Kinder streicheln als Agens auswählt, hängt schließlich von der sprecherspezifischen Gewichtung dieser cues, der sogenannten cue strength ab. Das Spezifikum des Deutschen besteht dabei darin, dass unterschiedliche cues ein und dieselbe Funktion erfüllen können. Allein der Sprecher entscheidet darüber, welche Kodierungsform die ausschlaggebende ist.
Aus den bisherigen Überlegungen lässt sich folgern, dass sprachliche Mittel mehr oder weniger eindeutige Funktionen erfüllen, mithilfe derer Sprachverständnis überhaupt ermöglicht und so die primäre Funktion von Sprache – nämlich die Kommunikation – gesichert werden kann. Diese funktionale Sicht auf grammatische und semantische Mittel wirft im Kontext eines auf sprachliche Entwicklung bezogenen Zugangs die Frage auf, wie Kinder Wissen über Formen und ihre Funktionen erlangen. Aus einer kognitiv-funktionalen und gebrauchsbasierten Perspektive, die den Grundstein dieser Arbeit bildet, heißt das, dass Kinder im Zuge ihrer sprachlichen Entwicklung vor der Aufgabe stehen, Form-Funktions-Paare zu finden, diese zu systematisieren, zu verstehen und letztlich selbst zu gebrauchen. Konkret bedeutet das, dass sie mittels spezifischer kognitiver Fertigkeiten den sprachlichen Input in Hinblick auf cues durchsuchen, um adäquate formalsprachliche Kodierungsmöglichkeiten aufzufinden, die eine Satzinterpretation und -produktion sicherstellen. Besonders bei der Satzverarbeitung dienen diese cues als Anhaltspunkte, mit deren Hilfe semantische Relationen identifiziert werden. Das Ziel im Sinne einer erfolgreichen, auf automatisierte Satzverarbeitung hin ausgerichteten sprachlichen Entwicklung besteht darin, mappings zwischen Formen und ihren Funktionen aufzubauen und so zu validen Form-Funktions-Paaren zu gelangen. Dies ist im Deutschen besonders deshalb eine potentielle Hürde, da eben keine Eins-zu-Eins-, sondern eine Viele-zu-Eins-Relation besteht (das heißt viele cues für eine Funktion). Kombiniert mit der These, dass die Gewichtung der einzelnen cues sprecherspezifisch variieren kann, schließt sich in Bezug auf sprachliche Entwicklungsprozesse die Frage an, ob Kinder zu unterschiedlichen Zeitpunkten spezifische Kodierungsmöglichkeiten als Indikatoren für semantische Rollen präferieren und ob sich die Präferenz im Laufe ihrer Entwicklung verändert sowie wovon diese Veränderung abhängig sein kann. Sprachentwicklung wird im Rahmen dieser Arbeit folglich als emergenter, im kontinuierlichen Wandel befindlicher Prozess einer Umgewichtung der cue strength verstanden, der von unterschiedlichen sprachspezifischen sowie lernerbedingten Faktoren abhängig sein kann.
Die lernerbedingten Faktoren, die im Zuge dieser Arbeit im Fokus stehen sollen, beziehen neben der sprachlichen Entwicklung vor allem die Mehr- und Einsprachigkeit von Sprechern ein. So müssen Kinder, die neben dem Deutschen eine weitere Sprache sprechen, in mehreren Systemen valide Form-Funktions-Relationen ausbilden. Eine innersprachliche Varianz wird damit um eine sprachkontrastive Varianz ergänzt. Während beispielsweise das Deutsche über Kasusmarker verfügt, haben andere germanische Sprachen wie das Niederländische einen starken Flexionsabbau erfahren. Da morphologische Marker als Indikatoren für semantische Rollen kaum verfügbar sind, lässt sich im Niederländischen die Rolle der Aktanten ausschließlich an der Abfolge der Konstituenten bestimmen. Andere indogermanische, insbesondere slawische Sprachen wie das Russische sind vom Flexionsabbau weniger betroffen, sodass Kasusmarker in fast allen Satzkontexten zuverlässige Indikatoren für semantische Relationen sind. Auf formal-sprachlicher Ebene stehen sich also die Wortstellung und die Kasusmarkierung als zwei maximal unterschiedliche Kodierungsmöglichkeiten dichotom gegenüber, die im Niederländischen respektive Russischen jeweils hochvalide cues für semantische Relationen im transitiven Satz darstellen. Im Gegensatz zum Deutschen dominieren hierbei also zwar maximal unterschiedliche, jedoch eindeutige cues die Kodiereung semantischer Relationen. In Bezug auf mehrsprachige Sprecher (Russisch-Deutsch sowie Niederländisch-Deutsch) stellt sich somit die Frgae, ob die validen cues der jeweiligen Ausgangssprachen (L1) den Verarbeitungs- und Interpretationprozess in der Zielsprache Deutsch (L2) beeinflussen. Unterschiedliche Ausgangssprachen, so die übergeordnete Hypothese der Arbeit, führen zu unterschiedlichen Gewichtungen von cues und somit zu divergierenden Interpretationsstrategien in der L2 Deutsch.