Читать книгу Der letzte Funke Licht - Jana Pöchmann - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеEs war Freitag und wir hatten nur noch zehn Minuten Unterricht. Eigentlich mochte ich Freitage immer sehr, denn danach stand das Wochenende vor der Tür. Aber seit diesem Schuljahr hasste ich Freitage. Warum?
Wir hatten in den letzten beiden Stunden Deutsch, und wenn ich ein Fach wirklich aus tiefstem Herzen verabscheute, dann war es DEUTSCH!
„Avery, komm bitte an die Tafel und sag uns, was du bei der letzten Aufgabe hast“, rief mich meine Lehrerin an die Tafel. Wir hatten auch seit diesem Jahr eine neue Deutschlehrerin, da unsere vorherige schwanger geworden war.
Unsere neue Lehrerin hieß Frau Meier und konnte mich nicht leiden. Ich war mir todsicher, dass sie mich nicht leiden konnte. Sie wusste genau, dass ich eine Niete in Deutsch war und dann rief sie mich immer wieder an die Tafel - so wie jetzt - und ich konnte mich vor der ganzen Klasse in Grund und Boden schämen. Unser neues Thema war Kommasetzung. Ich konnte ein Augenrollen nicht unterdrücken. Dies sah meine Lehrerin zum Glück nicht.
Ähm, was bei der letzten Aufgabe hinkommt? Gute Frage. Ich musste wie immer, wenn ich vor der ganzen Klasse stand, raten. In 20 Prozent der Fälle lag ich richtig, da es meistens nur Fragen waren wie: Kommt dort ein Komma hin oder nicht? Dieses Mal war es zum Glück auch wieder so eine Aufgabe. „Dort kommt kein Komma hin“, sagte ich zögernd zu der Klasse.
„Richtig Avery, kannst du uns auch sagen, warum?“, fragte meine Lehrerin mich. Das hasste ich, diese eine Frage, die mich noch mehr blamierte, als wenn ich falsch lag.
„Ähm, weil dort ein ‚und‘ steht?“, sagte ich zu meiner Lehrerin. Es war aber eher eine Frage und das bemerkte sie sofort.
„Bist du dir sicher?“, fragte sie mich wieder. „Ja, das bin ich, dort kommt kein Komma hin!“, antwortete ich mit fester Stimme und sah ihr dabei direkt in die Augen.
„Richtig Avery. Vielleicht wirst du doch irgendwann mal besser in Deutsch“, sagte sie zu mir und das ging wirklich zu weit! Die ganze Klasse, außer meiner Freundin Sky, fing an, zu lachen. Aber wenn ich jetzt irgendetwas sagen würde, gäbe das nur wieder mehr Ärger. Also ließ ich das Gelächter der ganzen Klasse über mich ergehen.
„Bearbeitet als Hausaufgabe bitte die Seiten 145 und 146 im Buch. Ich wünsche euch allen ein schönes Wochenende“, hallte die Stimme meiner Deutschlehrerin Frau Meier durch den Raum. Endlich war Wochenende.
Ich würde morgen mit meiner Mutter zum See fahren, schwimmen gehen, wir würden uns gegenseitig Witze erzählen, angeln gehen und ein leckeres Picknick machen.
„Hey, sehen wir uns so um drei Uhr bei dir?“, fragte meine beste Freundin Sky. Sie war nicht nur meine beste Freundin, sondern auch meine einzige. Ich hatte schon immer Probleme gehabt, Leuten zu vertrauen und mich anzufreunden, da ich generell eher zu den schüchternen Schülerinnen gehörte.
Aber mit Sky war das alles ganz leicht. Wir lernten uns schon im Kindergarten kennen und von der ersten Sekunde an waren wir unzertrennlich. Es fühlte sich toll an, eine Freundin zu haben, mit der man über alles reden konnte. Sie war genauso wie ich: nett, lustig und verrückt. Das liebte ich an ihr.
„Klar, wir haben noch ein Stück von dem leckeren Erdbeerkuchen von gestern übrig. Vielleicht lasse ich ja ein Stück für dich übrig“, antwortete ich und konnte ein Grinsen nicht verbergen.
„Hey, wehe, wenn du alles aufisst, dann bekommst du nie wieder was von meinen leckeren Muffins ab“, konterte sie. Die Muffins, die ihre Mutter immer backte, waren so lecker, so süß und sahen auch noch perfekt aus. Das Risiko konnte ich nicht eingehen.
Wir drückten uns noch einmal und verabschiedeten uns. Als ich den Weg zum Parkplatz der Schule einschlug, fiel mir ein Schatten hinter der Cafeteria auf. Ich hatte, obwohl ich schon sechzehn Jahre alt war, eine sehr blühende Fantasie und das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Deswegen lief ich ein bisschen schneller zum Parkplatz, wo mich meine Mutter immer abholte. Der Schatten war immer noch hinter mir und jetzt hörte ich hinter den Büschen auch noch Geräusche.
Ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Da kam eine Gestalt aus dem Busch.
Sie war schwarz gekleidet und sah aus, als ob sie ein Messer in der Hand hätte. Da sie direkt auf mich zuging, fing ich an, um Hilfe zu schreien, aber es war weit und breit niemand auf dem Parkplatz, geschweige denn auf dem Schulhof zu sehen.
Die Gestalt kam immer näher. Endlich sah ich ihr Gesicht. Vor mir stand eine Frau.
Sie hatte schon ein paar Falten im Gesicht und ein paar graue Haare. Als sie direkt vor mir stand, sah ich, dass das angebliche Messer in ihrer Hand nur ein kleiner Regenschirm war. Da hatte ich ja nochmal Glück gehabt.
Ich schätzte die Frau um die 60 Jahre. Sie sah zwar nett aus, aber mir war immer noch nicht wohl bei der Sache, dass ich hier ganz alleine mit ihr auf diesem Parkplatz stand, wo niemand zu sehen war.
„Hallo Avery, Kindchen, erschrecke dich doch nicht, du siehst so aus, als ob du einen Geist gesehen hättest“, sagte die Frau mit rauer Stimme. Jetzt bekam ich noch mehr Angst. Woher kannte sie meinen Namen? Ich hatte diese Frau noch nie in meinem ganzen Leben gesehen!
„Wer, ... wer sind Sie?“, fragte ich. Die Frau wirkte kurz erschrocken und traurig zugleich. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Sollte ich diese Frau kennen?
„Es tut mir leid, ich dachte du kennst mich, ich ... ich bin deine Großmutter. Mein Name ist Layla“, sagte sie und ich konnte es nicht glauben. Warum auch sollte ich jetzt plötzlich eine Großmutter haben? Warum sollte meine Mutter mir nie etwas von ihr erzählt haben? Das konnte nicht sein! Das musste ein schlechter Witz sein.
„Wer sind Sie? Ich habe keine Großmutter. Meine Mutter hat mir nie etwas von einer Großmutter, geschweige denn von dir erzählt!“ Meine Stimme zitterte: „Was, … was wollen Sie von mir?“ Meine Stimme wurde immer lauter, ich wollte eigentlich nicht so schnell die Geduld verlieren. Ich wusste auch nicht, was jetzt mit mir los war, aber diese Frau konnte mir nicht einfach auf dem Parkplatz meiner Schule erzählen, sie sei meine Großmutter.
„Ich habe dir die Wahrheit gesagt Avery, ich bin deine Großmutter. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber ich …“, versuchte meine angebliche Großmutter zu erklären, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Es konnte nicht wahr sein.
„Warum sollte ich dir glauben?“ Ich wollte einfach zu meiner Mutter, weg von dieser verrückten Frau!
„Deine Mutter und ich haben den Kontakt abgebrochen, nachdem sie deinen Vater geheiratet hatte. Ich wusste, dass er sie irgendwann verletzen und verlassen würde. Das wollte deine Mutter aber nicht wahrhaben. Doch dann - wie ich es vorher gesagt hatte - verließ er sie. Seitdem haben wir nie wieder Kontakt aufgebaut“, sagte sie zu mir und hoffte wohl noch, dass ich ihr glauben würde.
„Warum sollte meine Mutter aber nie etwas von dir erzählt haben? Denn, wenn das alles stimmen sollte, was es aber nicht tut, bist du schließlich meine Großmutter. Ich glaube dir immer noch nicht. Warum auch? Du tauchst einfach an einem ganz normalen Tag vor meiner Schule auf und …“, meine Stimme brach ab.
Das war alles viel zu lächerlich. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte ich mich um und lief weiter zum Parkplatz. Ich suchte das Auto meiner Mutter, fand es aber leider nicht. Sie kam nie zu spät. Es waren ja schließlich schon zehn Minuten vergangen, seit die Schule zu Ende war.
Also wollte ich meine Mutter schnell anrufen, bevor diese ältere Frau wieder ein Gespräch mit mir anfangen wollte. Ich holte mein Handy aus dem Schulranzen und wählte die Handynummer meiner Mutter und das altbekannte Tuten ertönte. Nach zehn Sekunden ertönte endlich eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war aber nicht die Stimme meiner Mutter, sondern...
Nein, das konnte nicht sein, hatte ich schon Halluzinationen?
„Glaubst du mir jetzt?“, ertönte die Stimme aus dem Telefon. Ich drehte mich um und hinter mir stand diese ältere Frau. Warum hatte sie das Handy meiner Mutter? „Okay, was ist hier los? Lassen Sie einfach meine Mutter und mich in Ruhe. Bitte, woher haben Sie ihr Handy und warum kommt sie so spät? Sie wissen irgendwas! Was ist los? Wer sind Sie?“
Ich war kurz davor, sie einfach so lange anzuschreien, bis sie endlich ging. Erst dachte ich, sie sei eine normale Frau, dann behauptete sie, sie sei meine Großmutter und jetzt hatte sie auch noch das Telefon meiner Mutter.
„Ich habe die Wahrheit gesagt, ich bin deine Großmutter. Deine Mutter liegt …“
Sie fing an zu schluchzen und brach mitten im Satz ab: „Deine Mutter hatte einen Unfall. Ein Auto ist von der Seite in ihr Auto reingerast. Sie ist im Krankenhaus und liegt im Koma …“ Sie fing an zu weinen.
Bitte was? Ich konnte es nicht glauben. Meine Mutter konnte doch nicht im Koma liegen! Was sollte ich jetzt nur machen, ich war ganz alleine. Hatte keinen Vater.
Hilfe! Nein, ich wollte es nicht wahrhaben!
„Hör zu Avery, wir rufen jetzt das Krankenhaus an und sie erklären es dir auch noch
mal genau. Danach wirst du mir glauben. Sie haben mich direkt kontaktiert. Ich war völlig außer Rand und Band, als ich das mit deiner Mutter hörte.“
Das konnte nicht sein, meine Mutter war der Fels in meiner Brandung. Wir haben alles gemeinsam gemacht, ohne sie gab es kein Ich. Und was sollte ich dann nur machen? „Okay, ich rufe dort an. Das kann nicht sein, aber wenn es wahr ist, will ich …“, ich musste erst einmal kräftig Luft holen, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen.
„... will ich sie gleich sehen!“, beendete ich meinen Satz. Eine halbe Stunde später dachte ich, dass ich keinen Moment länger mehr auf dieser Welt leben könnte. Was hatte ich denn noch zu verlieren! Meine Mutter lag wirklich im Koma und diese Frau namens Layla war wirklich meine Großmutter!
„Was, ... was machen wir jetzt? Ich will sofort zu meiner Mutter!“, brachte ich unter Tränen und mit zitternder Stimme an meine Großmutter gewandt hervor. Es war seltsam, zu realisieren, dass ich jetzt plötzlich eine Großmutter hatte und ich erstmal notgedrungen bei ihr leben musste. Ich konnte mich immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden. Aber das war jetzt mein kleinstes Problem!
Ich musste mich um meine Mutter kümmern. Ich wusste zwar, dass man mit Leuten, die im Koma lagen, nicht reden konnte. Doch in der Schule hatten wir gelernt, dass diese Menschen einen vielleicht trotzdem verstehen können. Vielleicht würde sie aufwachen, wenn ich bei ihr wäre.
„Wir werden jetzt zu mir nach Hause fahren, du wirst dich erstmal beruhigen, dann fahren wir zu deiner Mutter ins Krankenhaus! Du wirst die nächsten Monate erstmal bei mir bleiben!“, antwortete Layla auf meine Frage. Wow, auf keinen Fall! Warum sollte ich denn bei meiner Großmutter wohnen, die ich erst seit einer Stunde kannte? Das wollte ich nicht.
„Ich werde bei meiner Freundin bleiben. Ich habe ihr vorhin eine Nachricht geschickt, eigentlich wollte sie heute zu mir kommen. Ich habe ihr gesagt, was passiert ist und sie hat angeboten, dass ich bei ihr wohnen kann. Ich kenne dich schließlich nicht lange“, sagte ich mit einigermaßen fester Stimme und wollte mich nicht einschüchtern lassen.
„Das werden wir später in Ruhe bereden, wenn du bei deiner Mutter warst. Die Ärzte haben in ihrer Jackentasche einen Brief gefunden. Darauf steht dein Name.“
Was stand auf dem Brief drauf? Da musste doch irgendwas dran sein! Es konnte doch kein Zufall sein, dass meine Mutter einen Autounfall hatte und ganz zufällig ein Brief für mich in ihrer Jackentasche steckte.
Irgendetwas wurde vor mir verheimlicht. Ich musste es herausfinden!
„Müssen wir jetzt unbedingt zu dir nach Hause? Kann ich nicht sofort zu meiner Mutter?“, fragte ich, da ich wenig Interesse hatte, mit zu meiner Großmutter zu gehen. Vielleicht war meine Mutter wieder wach? Das bezweifelte ich zwar sehr, es war aber besser als der Gedanke, dass ich die nächsten Monate bei meiner Großmutter verbringen sollte, noch dazu in ihrer Wohnung!
Sie hatte sich so lange nicht blicken lassen! Ich wusste bis vor Kurzem nicht einmal, dass es sie gab. Diese Frau sollte sich gefälligst von mir fernhalten!
„Nein, du kommst erst mit zu mir nach Hause. Dort essen wir erst noch eine Kleinigkeit und trinken einen Tee. Wir dürfen jetzt noch nicht zu deiner Mutter. Es gibt nämlich bestimmte Besuchszeiten. Komm, wir gehen“, sagte sie.
Doch in diesem Moment bekam sie plötzlich einen Anruf auf ihr Handy. Sie starrte den Bildschirm wie paralysiert an, bevor sie abhob. Als meine Großmutter das Telefon endlich ans Ohr hielt, wurde sie ganz blass im Gesicht.
„Hallo, ... ist irgendetwas passiert ... ist sie ... ist sie aufgewacht?“ Ihre Stimme zitterte. Das musste das Krankenhaus sein. Um was sollte es denn sonst gehen! Plötzlich war ich ganz hibbelig. Was wäre, wenn meine Mutter aufgewacht war. Alles würde gut werden, aber wenn...
„Nein …“, rief meine Großmutter und sank auf die Knie.
„Nein, das darf nicht wahr sein!“ Sie legte auf und schluchzte.
„Was, ... was ist passiert?“, fragte ich mit bebender Stimme. Eins war mir klar, es war nichts Gutes.
„Die Ärzte haben festgestellt, dass sie in keinem normalen Koma liegt. Sie sollte eigentlich nach ein paar Tagen oder Wochen aufwachen, aber ihre Schädeldecke wurde bei dem Unfall so schlimm zertrümmert, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemals wieder aufwachen wird, sehr gering ist. Wir …“ Sie brach mitten im Satz ab.
„Die Ärzte müssen sie noch gründlich auf andere Verletzungen untersuchen und wir können sie erst in zwei Stunden besuchen.“
Das konnte nicht wahr sein! Erst in zwei Stunden? Nein, bitte nicht! Ich musste sie sehen, wollte ihr sagen dass ich sie liebte und dass sie nicht gehen durfte, mich nicht alleine lassen durfte! Sie und ich waren ein Herz und eine Seele. Was sollte ich nur ohne sie machen?
„Komm, setz dich ins Auto. Wir fahren zu mir nach Hause, trinken und essen etwas und dann geht es dir eventuell ein bisschen besser“, versuchte es meine Großmutter bei mir. Als sie dies sagte, klang sie ein bisschen nervös. Warum denn das jetzt? Aus ihr würde und wollte ich nicht schlau werden.
„Das kann nicht dein Ernst sein! Du denkst, dass es mir nach ein paar Keksen und einer Tasse Tee besser gehen wird? Meine Mutter liegt im Koma! Ich werde mich ganz sicher nicht bei einer Tasse Tee mit meiner Großmutter, die ich erst seit einer Stunde kenne, besser fühlen! Ich kenne dich doch noch nicht mal. Früher habe ich immer gedacht, meine Familie wäre perfekt, da es nur meine Mutter und mich gab. Das war das, was ich wollte, nicht mehr und nicht weniger. Früher war dies der Fall. Aber jetzt habe ich auf einmal eine Großmutter und …“ Es kam einfach so aus mir heraus.
„Es tut mir leid. Ich habe ein bisschen überreagiert, aber das ist mir alles zu viel“, sagte ich kleinlaut.
Meine Großmutter wirkte gerade sehr gebrochen, verzweifelt und einfach nur müde, traurig.
„Schon okay. Ich habe es ja nicht anders verdient. Ich kann es nachvollziehen, schließlich lernst du mich auch nicht gerade in einer schönen Situation kennen. Es ist einfach falsch, dass ich mich trotz des Streits nicht habe blicken lassen. Du bist schließlich mein Enkelkind!“
Ich ging mit ihr. Ich wollte nicht, dass sie noch trauriger wurde. Mir war schon klar, wir würden nicht die besten Freunde werden. Aber ich konnte ihr wenigstens eine Chance geben.