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Kapitel 2

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Ein paar Minuten später saß ich in dem Auto meiner Großmutter auf dem Weg zu ihr nach Hause. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass meine Mutter jetzt im Krankenhaus lag. Ich wollte es nicht wahrhaben.

Ich musste gerade an ein Lied von Kayef denken. Es drehte sich um eine Person, die einem immer hilft, wenn man am Boden zerstört ist. Dieses Lied war mein Lieblingslied. Es passte so gut zu meiner Mutter und mir.

„Ja, weil du mich rausholst, immer wenn ich down bin …“

Dieses Lied hatte ich die ganze Autofahrt über schon im Kopf. Ich würde nie wieder eine Person haben, die mich trösten kann, wenn ich traurig bin oder mich einfach in den Arm nehmen würde, wenn es mir schlecht ging.

Ich sah aus dem Fenster. Wir waren gerade mal drei Minuten unterwegs und schon wünschte ich mir so viel Abstand von meiner Großmutter wie nur möglich.

Ja, ich wollte ihr eine Chance geben, aber ich konnte es nicht. Sie hatte sich nie blicken lassen. Ich hatte niemanden außer meine Mutter und das war ihr bewusst. Ich hätte meine Großmutter früher vielleicht gebraucht, aber jetzt wollte ich sie nicht in meinem Leben haben.

Jetzt musste ich bei ihr wohnen, sie jeden Tag sehen und mit ihr reden, als kennten wir uns schon ewig. Das konnte ich nicht.

„Avery, ich muss dir etwas sagen“, fing meine Großmutter plötzlich an mich gewandt an zu reden. Ich wollte kein Gespräch mit ihr anfangen, sondern nur so schnell wie möglich zu meiner Mutter.

„Was denn?“, fragte ich stattdessen.

„Ich habe ja gesagt, wir fahren erst einmal zu mir nach Hause, trinken und essen etwas“, fing sie an, zu erzählen. Ja, natürlich hatte sie das gesagt und gedacht, mir würde es danach besser gehen.

„Ja“, sagte ich stattdessen nur, da ich keine Lust hatte, großartig mit ihr zu reden. Ich hatte so eine Scheißangst um meine Mutter, da konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich würde sie vielleicht verlieren und sie nie wiedersehen. „Das war gelogen ...“, drang die Stimme meiner Großmutter durch meine Gedanken. Warte, was? Sie hatte sich nicht nur noch nie blicken lassen, sondern mich auch noch bei unserer ersten Begegnung angelogen?

Das konnte nicht wahr sein. Ich dachte, ihr lag etwas an mir und sie wollte, dass ich ihr vertraute, aber jetzt!?

„Bitte was? Erst lässt du dich nie blicken und jetzt lügst du mich auch noch an?“

Ich konnte meine Gedanken nicht mehr zurückhalten: „Ich wollte dir eine Chance geben, aber egal, worum es sich bei dieser Lüge genau handelt, ich kann es einfach nicht und werde dir nie vertrauen können!“, schrie ich sie an.

„Avery, ich kann dich …“, weiter kam sie nicht, denn ich unterbrach sie sofort.

„Komm mir nicht immer mit deinem: Avery, aber Avery … Nein! Ich kenne dich erst seit einer knappen Stunde und kann es nicht länger mit dir aushalten.“

Meine Großmutter wirkte sehr traurig und musste einmal tief Luft holen, um nicht anzufangen, zu weinen, doch das war mir gerade egal.

„Ich kann dich verstehen, doch du musst mit zu mir kommen, bitte. Ich brauche dich und du brauchst mich. Aber die Wahrheit ist, ich wohne in Norddeich, an der Nordseeküste, das ist ungefähr fünf Stunden von hier entfernt“, versuchte sie mir zu erklären. Warte, was? Sie wohnte in Norddeich? Wo war das denn bitte? Ja klar, es war an der Nordsee, aber fünf Stunden weit entfernt? Das konnte einfach nicht wahr sein!

„Eins ist schonmal klar, ich werde dann nicht bei dir wohnen. Fünf Stunden von Sky entfernt, das kann ich einfach nicht und bei dir wohnen, das kann ich genauso wenig!“, brach es aus mir heraus. Ich konnte meine Worte nicht stoppen, denn ich musste meiner Großmutter sagen, was ich wollte und ich wollte nicht bei ihr zu Hause wohnen! Das musste ich ihr klarmachen.

„Ich weiß, dass du das nicht willst, aber deine Mutter hatte doch diesen Brief in ihrer Jackentasche. Die Ärzte haben mir am Telefon erzählt, dass darin steht,

du sollst bei mir wohnen, wenn deiner Mutter etwas passieren sollte“, beendete sie ihren Satz.

Warte, hatte ich das gerade richtig verstanden? Die Ärzte hatten einfach so den Brief meiner Mutter, der für mich bestimmt war, geöffnet?

Das konnte ich nicht glauben! Doch als die Worte meiner Großmutter langsam in mein Bewusstsein einsickerten, fragte ich mich nur, warum sollte mir meine Mutter so was antun?

Aber die größte Frage, die mir am meisten Angst machte, war, dass sie diesen Brief bei sich trug, als der Unfall passierte. Das konnte doch kein Zufall sein, oder? Wusste sie, was passieren würde? Und wenn ja, warum hatte sie mich nicht vorgewarnt? Mir wurde etwas verheimlicht und ich musste herausfinden, was!

Doch eins war mir bewusst: Ich liebte meine Mutter und wenn es ihr letzter Wunsch wäre, dass ich bei meiner Großmutter lebte, wenn ihr etwas passierte, würde ich dies machen. Aber nur wegen ihr. Ich würde dies für niemand anderen auf der Welt machen.

„Ach komm schon, das ist nicht ihr Ernst. Meine Mutter war immer für eine Überraschung gut“, sagte ich zu mir selber.

„Ja, da hast du recht. Als deine Mutter acht Jahre alt war …“ Meine Großmutter dachte wohl, dass ich anfangen würde, sie zu mögen.

„Ich habe nicht mit dir geredet“, unterbrach ich sie heftig. Sie konnte sich abschminken, dass ich mich mit ihr unterhalten würde, wenn es nicht nötig ist. „Schon gut … ich will aber, dass du weißt, wenn du mit jemandem über deine Mutter reden möchtest, ich bin immer für dich da“, sagte sie zu mir.

Das war nur gut gemeint, das wusste ich, aber ich hatte nicht gerade viel Lust, mich mit ihr anzufreunden.

„Was machen wir jetzt?“, fragte ich mit einem genervten Unterton.

„Jetzt gehen wir erstmal anstatt zu mir nach Hause, in ein Café und trinken einen Tee und essen etwas. Ich habe dich vorhin angelogen, das tut mir sehr leid, deswegen soll ein Teil wenigstens der Wahrheit entsprechen“, sagte sie und versuchte, mich wohl damit aufzuheitern. Vergeblich.

Ich hatte immer noch keine Lust mich zusammen mit ihr an einen Tisch zu setzen und mit ihr zu unterhalten. Aber wenn meine Mutter wollte, dass ich bei ihr wohnte, würde sie bestimmt auch wollen, dass ich mich mit ihr verstand.

„Okay“, gab ich schließlich widerwillig nach, denn eins war mir klar: Wenn ich meine Mutter nie mehr sehen würde, wollte ich ihr wenigstens ihren letzten Wunsch erfüllen.

Das erste Mal seit ich sie kannte, also noch nicht sehr lange, sah ich einen etwas entspannteren Ausdruck in dem Gesicht meiner Großmutter.

„Okay, das freut mich. In welchem Café gibt es die besten Kekse?“, fragte sie mich und grinste über beide Ohren. Vielleicht war sie doch nicht so unausstehlich, wie ich dachte. Ein Teil von mir wollte sich mit ihr verstehen. Das aber nur wegen meiner Mutter! Aber ein anderer Teil von mir konnte ihr einfach nicht verzeihen, dass sie sich so lange nicht hatte blicken lassen.

„Das Café Vetter, dies ist mein Lieblingscafé“, antwortete ich und musste daran denken, dass meine Mutter und ich gestern erst dort zusammen Kuchen gegessen hatten. In dem Moment hätte ich nie gedacht, dass dies das letzte gemeinsame Essen mit ihr sein könnte. Mir wurde schon wieder ganz mulmig zumute und ich musste mich bemühen, bei dem Gedanken nicht sofort in Tränen auszubrechen.

Ein paar Minuten später saßen wir im Café Vetter. Ich liebte es so, da es erstens sehr schön eingerichtet war und es zweitens hier die besten Kekse und Kuchen der Welt gab.

Wenn meine Mutter und ich genügend Geld gehabt hätten, wäre ich jeden Tag hierhin gegangen und hätte das ganze Café leergekauft.

„Also Avery, was isst oder trinkst du hier am liebsten?“, fragte meine Großmutter mich. „Cookies und Erdbeertee“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.

Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dieses Grinsen kam aus tiefsten Herzen. Als sie mich ansah, wurde mir warm ums Herz, denn ihr Blick bestand aus Sorge um mich und meine Mutter, aus Traurigkeit, mich erst jetzt kennengelernt zu haben und aus Liebe. Vielleicht sollte ich ihr doch eine Chance geben.

Es dauerte nicht lange, bis die Kellnerin an unseren Tisch kam. Ich kannte sie, denn als meine Mutter und ich hier immer gegessen haben, hat sie auch oft unsere Bestellung aufgenommen.

Sie war sehr nett und hatte rote, schulterlange Haare. Ich mochte die Farbe Rot. Aber nicht so sehr wie die Farbe Grün. Ich liebte diese Farbe einfach, denn ich fand sie mysteriös. Früher, als ich kleiner war, waren alle Farben meine Lieblingsfarben. Ich konnte mich, als ich fünf Jahre alt war, nie zwischen etwas entscheiden. Beim Kauf meines ersten Schulranzens, gab es einmal die Auswahl blau oder gelb und ich hatte meine Mutter ernsthaft gefragt, ob ich nicht beide haben durfte.

Die Farbe Grün wurde für mich erst seit ein paar Jahren richtig besonders. Besonders dunkelgrün. Meine Mutter liebte diese Farbe auch. Der Gedanke an sie versetzte mir einen Stich. Deshalb versuchte ich, mich ganz auf meine Bestellung zu konzentrieren: „Hallo, ich würde gerne Cookies und Erdbeertee nehmen.“

Die Kellnerin nickte und wandte sich meiner Großmutter zu: „Was möchten Sie haben, Miss?“

„Ich nehme das gleiche wie Avery. Sie sagte, die Cookies und der Tee seien sehr gut“, antwortete sie mit einem Blick in meine Richtung.

„Oh ja, da kann ich ihr nur zustimmen. Die Cookies sind echt grandios“, sagte die Kellnerin zu ihr und ging anschließend in Richtung Küche.

Einen Moment sagte niemand von uns beiden etwas. Mir war dieses Schweigen unangenehm, ich wollte etwas sagen, fand jedoch einfach nicht die passenden Worte.

„Avery, erzähle mir mal etwas über dich. Ich weiß nicht viel über dich und dass würde ich gerne ändern“, sagte meine Großmutter zu mir. Endlich wurde die Stille unterbrochen. Obwohl ich nicht gerade Lust hatte, etwas über mich zu erzählen, sondern eher gerne etwas über sie erfahren hätte, sagte ich: „Ich bin in der Schule eigentlich sehr gut, Mathe ist mein Lieblingsfach. Dafür hasse ich Deutsch. Meiner Meinung nach das schrecklichste Fach auf der Welt! Meine beste Freundin ist Sky. Sie ist so ein toller Mensch. Sie hat braune kurze Haare und ein Pony. Sie ist einfach wunderbar.“

Beim nächsten Satz biss ich mir auf die Lippe: „Sie ist auch meine einzige Freundin und wenn ich mit dir nach Norddeich gehen muss, werde ich sie nie wieder sehen.“ Warte …

„Was wird mit meiner Mutter geschehen? Werde ich sie auch nicht mehr sehen?“, fragte ich meine Großmutter in einem scharfen Tonfall.

Eigentlich wollte ich nicht so feindselig klingen, aber diese Worte verließen meinen Mund schneller als beabsichtigt. Es kam einfach alles zusammen und wurde mir viel zu viel. Der Verlust von Sky, die ich nicht mehr sehen werde, nur noch über Videoanrufe, die Tatsache, dass ich jetzt eine Großmutter hatte, der Gedanke, ich würde meine Mutter nie wiedersehen und vieles mehr. Es war noch schlimmer als der Moment, in dem mein Kater gestorben ist. Ich dachte damals, dass dies der schlimmste Moment meines Lebens wäre, aber der war es nicht. Dies hier fühlte sich noch tausendmal schlimmer an. Ich wünschte einfach, das wäre alles nur ein Traum. Ein schrecklicher Albtraum.

Ich hoffte, ich würde bald aufwachen, meine Mutter und ich würden einfach im Garten sitzen und uns Witze erzählen. Aber es war kein Traum. Es war die Realität. „Nein, du wirst deine Mutter jeden Tag sehen können. Die Ärzte haben gesagt, dass deine Mutter zwar Ruhe brauche, aber sie spüre deine Anwesenheit und diese wird viel wichtiger sein als Ruhe. Sie verlegen sie morgen schon in das Krankenhaus nach Norden.“

Wenigstens eine einigermaßen gute Nachricht für heute.

Endlich kamen die Cookies und der Tee. Mein Magen knurrte. Ich hatte sehr viel Hunger, da ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen hatte.

In der Schule aß ich so gut wie nie etwas. Also biss ich direkt von dem erstbesten Cookie ab. Mhhh, er schmeckte köstlich. Der Tee schmeckte auch fabelhaft, das wusste ich ja, da ich ihn auch sonst immer trank. Doch ich wartete lieber noch ein bisschen, da der Tee immer sehr …

„Ahhh, verdammt ist der heiß“, fluchte meine Großmutter und musste dennoch lachen. Ich konnte mir ein Grinsen auch nicht verkneifen. Ich hatte sie eigentlich warnen wollen, aber anscheinend hatte sie es eilig, den Tee zu probieren.

„Achtung, heiß“, lachte ich und sie grinste mir schief zu. Ich glaubte, diese herzliche Frau vor mir hatte sich schon vor ein paar Stunden nach und nach in mein Herz geschlichen. Wenn ich ehrlich zu mir selber war, war mir klar: Diese Frau war eine gute Frau.

Ich hatte dies zwar nicht erwartet, schließlich dachte ich, als ich sie das erste Mal vor ein paar Stunden sah, dass sie eine Mörderin wäre, die mich mit einem Messer bedrohen will. Doch sie hatte sich von Moment zu Moment mehr Mühe gegeben, mich zu verstehen und mir immer mehr Gründe gegeben, sie zu mögen. Auf jeden Fall würde ich ihr eine Chance geben!

„Hör zu, wir kennen uns noch nicht sehr gut. Hättest du was dagegen, wenn wir ein kleines Spiel spielen würden? Um uns besser kennen zu lernen?“, fragte mich meine Großmutter und um ihr eine Chance zu geben, stimmte ich mit einem Nicken zu.

„Also, wir dürfen dem anderen immer eine Frage stellen, die er dann beantworten muss. Das ist ganz einfach. Ok, ich muss zugeben, es ist eigentlich kein Spiel, aber ich wollte ein bisschen Spaß in diese Unterhaltung bringen. Ist das für dich in Ordnung?“, fragte sie mich und ihre Mundwinkel zuckten. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

„Ok, ich fange an“, sagte ich und stellte ihr die erste Frage.

„Wie alt bist du?“ Meine Großmutter grinste: „Also eigentlich bin ich 63, aber ich sehe aus wie 40, oder?“

Ich musste laut loslachen: „Ähmm, eher weniger.“

Wir stellten uns noch viele Fragen. Über unsere Lieblingsaktivitäten, was unser Wunschtier ist, was wir alles noch erreichen wollten und über vieles mehr. Es war das erste Mal, seit ich die schreckliche Nachricht über meine Mutter erhalten hatte, dass ich mich wieder wohlfühlte, geborgen und sicher. Wir unterhielten uns noch ein bisschen, auch über Norddeich und ihre Wohnung. Dann klingelte ihr Handy und sie ging ran.

„Hallo“, meldete sie sich. Ich wusste nicht, mit wem, geschweige denn über was sie sprach, da ich schließlich nur ihre Antworten und Fragen verstand: „Ja, ich bin es … okay … was? Erst dann? ... okay, ich werde es ihr sagen.“

Dann legte sie auf und sah mich besorgt an. „Das war die Klinik. Die Herzschläge deiner Mutter sind jetzt noch einigermaßen stabil. Deshalb soll sie jetzt gleich ins Krankenhaus nach Norden verlegt werden. Wir sollen direkt nachkommen. Das heißt, wir können deine Mutter erst in circa fünf Stunden sehen. Die Ärzte bieten uns jedoch an, dass wir im Krankenwagen mitfahren könnten. Dies könnte für uns und besonders für dich sehr schwierig sein, denn deine Mutter liegt zwar neben dir, aber du kannst dich nicht mit ihr unterhalten und an ihrem Zustand kann sich jeder Zeit etwas ändern Doch dann könntest du sie sofort sehen und nicht erst, wenn wir in Norden angekommen sind. Du musst jetzt entscheiden, was du machen möchtest, aber eins ist klar: Ich bleibe bei dir“, erklärte meine Großmutter und ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich war echt froh, dass sie bei mir war. Zum Glück musste ich das alles nicht alleine durchstehen. Ich wollte meine Mutter schleunigst sehen, also gab es nur eine Möglichkeit.

„Okay, wir fahren im Krankenwagen mit!“

Der letzte Funke Licht

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